Von Thomas Benedikter
Bozen, 17.10.2006
"Ich verstehe heute noch nicht, wie ich dieses
Erdbeben überleben konnte", meint Farooq Khan vor die
Trümmern seines Hauses mitten im alten Bazar von
Muzzaffarabad, der Hauptstadt des pakistanischen Teils Kaschmirs.
Sein Grundstück ist seit einigen Wochen geräumt, bereit
für einen eingeschossigen Neubau. "Um 8.52 Uhr, als uns das
Erdbeben traf, stand ich im Bad und rasierte mich. Plötzlich
kamen die Wände auf mich zu. Ich dachte an eine Explosion in
der Umgebung, aber dann war es ganz unheimlich still. Kein
Geschrei, keine Sirenen, nichts. Einfach totale Stille über
der Stadt. Da wurde mir klar, dass die ganze Stadt betroffen sein
musste." Farooqs Kinder haben wie durch ein Wunder überlebt,
denn die Steinmauern sackten nach außen weg und die
Betondecke wurde durch einige Mittelsäulen abgelenkt.
Farooq, von Beruf Anwalt und Leiter einer
Menschenrechtsorganisation, ist jetzt nahezu arbeitslos, denn
für Rechtskonflikte hätten die Menschen keine Zeit und
Mittel mehr. Zudem ist auch das Gerichtsgebäude in
Muzzaffarabad eingestürzt. Sein Haus ist Schutt, Unterkunft
hat er und seine Familie bei Freunden außerhalb der Stadt
gefunden: "Was zählt ist das Leben. Jetzt müssen wir
alle neu anfangen."
Nicht so viel Glück hatte die Familie Zahid Shah. "Mein Mann
ist beim Erdbeben erschlagen worden," erzählt Frau Koosar
Zahid Shah in Bandi Sama bei Muzzaffarabad, "bis Juli mussten wir
in diesem Zelt leben, ich und meine vier Kinder. Dann konnten wir
einen Raum bei einem Nachbarn mieten. Der Zuschuss der Regierung
für den Wiederaufbau des Hauses, 150.000 Rupien, reicht bei
weitem nicht, wir müssen einfach schauen wie wir jetzt
durchkommen." Dieser Fall ist durchaus typisch für die
Erdbebenopfer in Kaschmir. 150.000 Rupien sind umgerechnet nicht
mehr als 2000 Euro, doch die Preise für Baumaterialien,
Transport und Maschinen sind seit dem Erdbeben gewaltig
gestiegen. So ist an einen Wiederaufbau für die meisten
Familien gar nicht zu denken. Man behilft sich mit viel
Wellblech, Zeltplanen und Ausweichquartieren.
In Muzzaffarabad sind die größten Trümmerhaufen
schon verschwunden, nun klaffen jede Menge Lücken im
Stadtbild. Ganze Schulen, Kliniken, Regierungsgebäude - Azad
Kashmir ist eigentlich eine Art autonomer "Freistaat" innerhalb
Pakistans -- und Wohnkomplexe sind vom Erdboden verschwunden.
Viele Häuser sind einsturzgefährdet, werden aber
mangels Alternative dennoch bewohnt. Im Norden der Hauptstadt und
auf einigen Berghängen breiten sich die Zeltdörfer der
Obdachlosen aus, wo Familien aus den umliegenden, noch
stärker betroffenen Dörfern hausen. In der Stadt haben
die Erdbebenopfer ihre Notunterkünfte meist einfach neben
die eingestürzten Häuser gestellt. Auf
größeren, von Trümmern geräumten
Flächen stehen die Großzelte der Hilfsorganisationen.
Der im September monsunverhangene Himmel macht die Stimmung noch
desolater.
Die vier Kinder der Familie Zahid Shah - Nateesa, Tayba, Huzafa und Fatima - waren verspätet auf dem Weg zur Schule an jenem unglückseligen 8. Oktober vor einem Jahr. Ihr Glück, denn um 8.52 Uhr, als das Erdbeben Muzzaffarabad traf, stürzte auch ihre Schule ein und begrub ganze Klassen unter sich. Nur mehr eine Mauer erinnert an die alte Schule. Einen Steinwurf entfernt wird jetzt in einem abgerissenen Zelt Unterricht gegeben, alle Klassen in einem Raum bei jedem Wetter. Oft bleiben die Kinder zuhause, um nicht zu erkranken, denn eine Heizung gibt es nicht. An einen geordneten Unterricht kann man in diesen Zelten nicht denken, denn meist teilen sich alle Klassen einen Raum. 790.000 Kinder sind vom Erdbeben betroffen. Rund 9.000 der insgesamt 11.500 Schulen im Erdbebengebiet sind zerstört oder beschädigt worden. Nach amtlichen Angaben sind 17.000 Kinder umgekommen, mit ihnen tausende Lehrpersonen. Schon vor dem Erdbeben lag das Bildungswesen in "Azad Kashmir" im Argen, und nur eine Minderheit der Mädchen im Schulalter werden überhaupt eingeschult. Jetzt besuchen nach Schätzungen der UNICEF nur mehr 45-50% der jeweiligen Schülerjahrgänge in den höher gelegenen Teilen des Erdbebengebiets überhaupt noch eine Schule.
Die Umgebung von Bagh, einer
30.000-Einwohner-Stadt im Süden des Erdbebengebiets, ist
übersät mit Wellblechbehausungen, mit dazwischen
gestreuten Zelten. Ein Großteil der Trümmer ist schon
beseitigt worden, doch ist es in diesem Elend nicht einfach,
zwischen ärmlichen Unterkünften und neuen
Notbehausungen zu unterscheiden. Mallot liegt auf einem Kamm, gut
12 km von der Distrikthauptstadt Bagh entfernt. Unser Jeep
quält sich die anderthalb Stunden über die verwahrloste
Straße hinauf. Da die eingestürzten Brücken nicht
ersetzt worden sind, fährt man kurzerhand durch die
Flüsse und Bäche. Immer wieder alte und neue
Vermurungen und ganze Weiler, die am 8.10. den Hang
hinunterrutschten. An einigen Stellen sind durch das Erdbeben
ganze Berghänge abgebrochen, die Flüsse aufgestaut und
gefährliche Stauseen gebildet haben.
In Mallot bietet sich ein fürs
nördliche Azad Kaschmir heute typisches Bild: halb
eingestürzte Häuser, Zelte, Schuttplätze
allenthalben. 378 Schüler besuchten vor dem Erdbeben die
hiesige Schule der gemeinnützigen Stiftung READ, eine Vor-
und Grundschule mit acht Klassen, jetzt sind es noch mehr, da
auch die Schüler der eingestürzten öffentlichen
Schule des Ortes vorläufig zu READ wechselten. Das
Hauptgebäude mit der Mittelschule blieb zwar stehen, doch
zeigen sich gefährliche Risse im Mauerwerk. Akuter
Platzmangel, sogar in den Korridoren hat man "Klassenräume"
eingerichtet. Hinter der Schule entdecke ich Zelte. Der
Unterricht ist in vollem Gang, fünf Klassen gleichzeitig im
selben Zelt und entsprechend hoch der Lärmpegel. In den
strengsten Wintermonaten fällt der Schulbetrieb aus, denn
die Zelte sind nicht beheizbar. So versucht READ mit allen
Kräften, möglichst viele Schulen in Fertigbauweise
wieder aufzubauen, allein es fehlen die Mittel. Der Wiederaufbau
dauert voraussichtlich quälend lange.
Das Erdbeben vom 8.
Oktober 2005 hat ein etwa 30.000 km2 Gebiet in der Region Azad
Kashmir und der North Western Frontier Province im Norden
Pakistans bis hinein ins indische Kaschmir mit einer Stärke
von 7,6 auf der Richterskala betroffen. In diesem Gebiet (rot auf
der Karte) sollen 70% der Häuser zerstört oder
beschädigt worden sein. Die amtliche Gesamtzahl der Opfer in
Pakistan liegt bei 73.338. 2,8 Millionen Menschen verloren ihr
Obdach. Im indischen Teil Kaschmirs waren 1.306 Opfer zu beklagen
mit 150.000 Obdachlosen. Tausende öffentlicher Gebäude
und Einrichtungen sind ebenfalls zerstört oder
beschädigt worden. Bei den schon vor dem Beben sehr
rückständigen Infrastrukturen, vor allem bei
Verkehrswegen und Energieversorgung, im Bildungs- und
Gesundheitswesen, ist das Land um Jahrzehnte zurückgeworfen
worden.
Obwohl bekannt war, dass dieses Gebiet auf
einer Bruchstelle zwischen der zentralasiatischen und
südasiatischen Kontinentalplatte liegt, hatte sich in diesem
Gebiet ein Erdbeben dieser Gewalt seit Menschengedenken nicht
mehr ereignet. Dies erklärt, warum die Bauweise in dieser
Region alles eher als erdbebensicher gestaltet war.
Von Muzzaffarabad nach Mansehra in der
benachbarten "North West Frontier Province" gelangt in nur drei
Stunden. In deren östlichstem Teil lag das eigentliche
Epizentrum des Bebens vom Oktober 2005. In Mansehra hat die
Caritas Pakistan ihren regionalen Hauptsitz eingerichtet, ohne
Beschilderung und Aufschrift, nachdem extremistische
Moslemgruppen kürzlich gegen westliche Hilfsorganisationen
protestiert hatten. In Pakistan ist die Caritas seit über 40
Jahren in allen sieben Diözesen aktiv und war schon eine
Woche nach dem Beben vor Ort im Einsatz. Ihre Hilfe konzentriert
sich auf die medizinische Grundfürsorge und den Wiederaufbau
der Selbstversorgung der ärmsten Familien, erzählt der
Leiter des Ärzteteams Dr. Javed Ali, ein junger Arzt aus
Karachi.
Sehr bewährt hätten sich die sog. Mobilen Kliniken.
Mobile Einsatzteams mit einem Arzt, einer Krankenschwester und
einem Sanitäter fahren regelmäßig alle Zeltcamps
und Ortschaften ab, um die Bevölkerung direkt zu versorgen.
17 Caritas-Mitarbeiter kümmern sich um diesen Dienst, den
Dr. Javed koordiniert. Seit 23. Oktober 2005 funktioniert er im
Distrikt Mansehra (vier Gemeinden und 10 Obdachlosencamps) und in
den Zeltlagern um Muzzaffarabad. Das öffentliche
Gesundheitswesen ist völlig überfordert, da viele
Krankenhäuser eingestürzt und zahlreiche Ärzte und
Pfleger umgekommen sind. Weil viele Orte nur mehr zu Fuß
erreichbar sind, hat die medizinische Versorgung der
Bevölkerung stark gelitten, und die Mütter- und
Kindersterblichkeit wieder deutlich zugenommen. Seit Oktober 2005
hat die Caritas rund 60.000 Menschen vor allem gegen Masern und
Polio geimpft und über 30.000 Patienten ambulant
behandelt.
Auf der Fahrt in die Gemeinde Dilola
erklärt mir Dr. Javed das Konzept der "Basic Health Units"
(BHU), einer Art Gesundheitssprengel. Da die Regierung die
Kliniken so rasch nicht wieder aufbauen kann, sollen diese BHUs
überall die Grundversorgung übernehmen. Die Caritas hat
den Bau von drei solcher BHUs übernommen, die in einem Jahr
die mobilen Einsatzteams ablösen sollen. Damit können
1.700 Familien mit 12.000 Mitgliedern voll versorgt werden.
Zusammen mit den "Apothekern ohne Grenzen" versorgt die Caritas
zudem Tausende von Personen mit Medikamenten und medizinischem
Material. Auch mit der psychosozialen Betreuung und
Trauma-Behandlung haben Caritas-Spezialisten inzwischen begonnen.
Darüber hinaus - so Dr. Javed - hat die Caritas den ganzen
Winter hindurch 7.000 winterfeste Zelte, Öfen, Decken,
Lampen und Haushaltsbedarf verteilt. Die halbe Million Euro, die
Südtiroler der Caritas für diesen Zweck gespendet
haben, hat die Menschen erreicht.
Im Distrikt Mansehra und rund um Muzzaffarabad setzt sich die
Caritas auch für den Wiederaufbau der Selbstversorgung ein.
Viele Bauernfamilien hatten nämlich nach dem Erdbeben kein
Saatgut mehr und waren 2006 wegen der Ernteausfälle stark
von Lebensmittelspenden abhängig. Die Caritas sprang
für 5.000 Familien mit Saatgut und Düngemitteln ein.
Die Regierung versucht jetzt, die Camps möglichst rasch zu
leeren. Doch oft ist die Rückführung der Familien in
ihre Heimatorte nicht ausreichend vorbereitet: sie stehen fast
mittellos vor den Trümmern ihrer Häuser und können
sich meist nur eine Notunterkunft bauen. Wer zurückkehrt,
bekommt eine Lebensmittelration für einen Monat und ein
Zelt. So ziehen es viele vor in den Zeltcamps zu bleiben, ein
Jahr nach der Katastrophe noch gut 260.000. Internationale
Organisationen, ausländische Regierungen und die Regierung
in Islamabad haben Milliarden Euro für den Wiederaufbau
zugesagt. Doch wie oft in diesen Ländern stellt sich die
Frage: wie lange werden die Menschen auf diese Hilfen warten
müssen und wieviel davon werden sie wirklich empfangen?
Thomas Benedikter war mehrfach für Forschungsaufenthalte in Kaschmir und hat die politische Problematik des Landes im Band "Il groviglio del Kashmir" (Verlag Frilli, Genua 2005) aufgearbeitet.