Von Thomas Benedikter
Bozen, 17.12.2005
INDEX
Einführung | Was bitte ist
Balawaristan? | Kolonialmacht Pakistan | Neue Lösungen in Sicht? | Gespräch mit Maj Hussain Shah
Im Schatten der
Erdbebenkatastrophe im pakistanischen Teil Kaschmirs ("Azad
Kashmir") spielt sich weiter nördlich eine andere
Tragödie ab. Seit dem 13. Oktober herrscht in Gilgit, der
Hauptstadt der "Northern Areas", nach Ausschreitungen zwischen
Sunniten und Schiiten Ausgangssperre. Der unmittelbare Anlass: am
11. Oktober waren zwei führende Persönlichkeiten der
Schiiten bei einem Überfall extremistischer Sunniten aus der
Nachbarprovinz getötet worden, ein neuer Höhepunkt der
Gewalt gegen Schiiten in Gilgit. Schiitische Aktivisten sind seit
Jahren Opfer von Mordanschlägen, allein 2005 schon in 81
Fällen, meist mit Duldung wenn nicht gar Komplizenschaft der
pakistanischen Polizei. Am 13. Oktober die Eskalation: die
Polizei eröffnete in Gilgit das Feuer auf eine friedliche
Protestkundgebung und erschoss 7 Demonstranten.
Anschließend ermordeten die in Gilgit verhassten
paramilitärischen "Pakistan Rangers" einige politische
Aktivisten in ihren Häusern. Unter den schiitischen
Einheimischen staut sich die Empörung. In den
nördlichen Gebieten Hunza und Nager demonstrierten 25.000
Menschen gegen den Einsatz der Pakistan Rangers. Der
pakistanische Geheimdienst ISI verhaftete daraufhin die ganze
Führungsspitze der schiitischen und sunnitischen
Geistlichkeit und verfrachtete sie zum Verhör nach
Rawalpindi. 41 aus politischen Gründen in Haft genommene
Einheimische begannen daraufhin einen Hungerstreik. Die Lage
spitzt sich zu.
Das Jahr 2005 hatte in Gilgit-Stadt schon gewaltsam begonnen: Am
8. Jänner waren 14 Sunniten gelyncht worden, nachdem zuvor
eingeschleuste Extremisten den schiitischen Imam von Gilgit, Agha
Ziauddin, ermordet hatten. Er hatte sich vehement gegen die
neuen, stark sunnitisch geprägten Lehrpläne der
öffentlichen Schulen gewandt. Zwei Wochen zuvor waren im
nahen Chitral zwei Sanitätshelfer der in Gilgit und Hunza
verbreitet tätigen ismailischen Aga Khan Stiftung
getötet worden. Vorausgegangen waren seit 2003 Kampagnen der
in der angrenzenden "North Western Frontier Province" regierenden
islamistischen Mehrheit gegen die als "Abweichler" gebrandmarkten
Ismailis, die dritte Gruppierung im Islam. Die in Pakistan immer
wieder gewaltsam ausgetragenen Spannungen zwischen sunnitischer
Mehrheit und schiitischer Minderheit drohen nun, voll auf
Gilgit-Baltistan überzugreifen. Geschürt werden diese
Spannungen durch den raschen Anstieg der sunnitischen Zuwanderer
in den Nordgebieten, die sich als Polizisten, Militärs,
Beamte und Kaufleute mit staatlicher Unterstützung
ansiedeln. 1948 stellten die einheimischen Schiiten und Ismaili
noch 85% der Bevölkerung, jetzt nur mehr die Hälfte.
Diese von Islamabad geförderte Zuwanderung von Pashtunen und
Punjabis aus den angrenzenden Provinzen Pakistans
stößt bei den einheimischen Gilgiti, Balti und Hunza
umso mehr auf Ablehnung, als ihnen selbst nahezu alle politischen
Rechte in Pakistan seit 58 Jahren vorenthalten sind. Seit der
Teilung von Jammu und Kaschmirs im Krieg mit Indien 1947/48
übergeht Pakistan auch in Gilgit-Baltistan die Interessen
der Bevölkerung. Durch die Ansiedlung von Sunniten aus den
angrenzenden Provinzen sollen die angestammten schiitischen
Volksgruppen zur Minderheit im eigenen Land gemacht werden. Nach
blutiger Unterdrückung von politischen Protesten 1988 und
1993 - damals unter Federführung des heutigen
Präsidenten Musharraf - waren tausende Bewohner Gilgits und
Baltistans verhaftet worden und Zehntausende waren aus Angst vor
neuer Gewalt abgewandert. Die neuen sunnitischen Lehrpläne
des pakistanischen Erziehungsministeriums haben die Wogen seit
2003 wieder hoch gehen lassen. Die Antwort auf den Protest der
Schiiten waren Morde, Entführungen, Anschläge
sunnitischer Extremisten, mit Deckung der pakistanischen
Behörden.
Sogar Indien zeigte sich im November 2005 besorgt über die
Entwicklung in diesem Teil des historischen Jammu und Kaschmir.
Abseits der Aufmerksamkeit internationaler Medien braut sich ein
neuer Krisenherd in den Bergen des Karakorum zusammen. In einem
Brief an UN-Generalsekretär Annan vom 17.10.2005 beklagt
sich der Vorsitzende der Balawaristan National Front (BNF), Abdul
Hamid Khan, bitter über die Brutalität der
pakistanischen Polizei gegenüber den Einheimischen. "Mit
internationaler Aufmerksamkeit", schreibt Hamid Khan, "ist erst
zu rechnen, wenn eine politische Bürgerrechtsbewegung zu den
Waffen greift. Die Bewohner von Balawaristan bleiben dennoch dem
friedlichen Widerstand verpflichtet." Mit 70 weiteren
Persönlichkeiten der Autonomie- und
Unabhängigkeitsbewegung Balawaristans riskiert er derzeit
Verfolgung und Anklage wegen Hochverrat.
Dieser weithin unbekannte Name des
nördlichsten Teils Pakistans zwischen Karakorum und
Hindukusch, könnte bald schon in die Schlagzeilen geraten.
In der Geschichte hieß dieses Gebiet, mit 72.500 km2 so
groß wie Irland, Gilgit und Baltistan, die
nördlichsten Regionen Hunza und Nager. Bis zum 1. November
1947 war diese kaum zugängliche Bergregion ein Teil des
Fürstenstaates Jammu und Kaschmir gewesen, jahrhundertelang
in kleine Fürstentümer aufgeteilt. In Balawaristan, wie
die Region von seinen indigenen Bewohnern auch genannt wird,
werden sechs größere und einige kleinere Sprachen
gesprochen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts drangen die Maharajas
von Kaschmir von Süden her ein und besetzten das Land, ohne
es je völlig zu kontrollieren. Auch die britische
Kolonialmacht beanspruchte die rebellische Grenzregion und
errichtete zu diesem Zweck die Gilgit Agency. Im Teilungskrieg
1947 befreiten sich die Einheimischen selbst vom Maharaja-Regime.
Heute noch ist man stolz darauf, dass es Gilgiti-Kämpfer
waren, die Anfang November 1947 die Soldaten des Maharaja in die
Flucht schlugen. Doch bald darauf waren die Gilgiti gezwungen,
die pakistanische Armee zur Abwehr der anrückenden indischen
Truppen zu Hilfe zu rufen.
Die Pakistani blieben und seitdem wird die Region von Islamabad
aus verwaltet. Im Unterschied zum Westteil Jammu und Kaschmirs,
das als "Azad Jammu and Kashmir" eine Art Freistaat-Status im
Rahmen Pakistans bekam, wurde Gilgit-Baltistan direkt und ohne
politische Übereinkunft der Regierung Pakistans unterstellt:
eine Art politischer Schwebezustand mit der Begründung, dass
vor der Gesamtlösung des Kaschmirkonflikts Gilgit-Baltistan
kein endgültiger Status eingeräumt werden könne.
Dabei hatte seine Führungsschicht selbst um die
gleichberechtigte Angliederung an Pakistan ersucht. Die Gilgiti,
Balti und Hunza gerieten vom Regen in die Traufe. Eine Million
Menschen mehrerer eigenständiger Völker befinden sich
seitdem in einer politisch rechtlosen Lage und waren auch in
keinerlei Gespräche über den Kaschmirkonflikt
einbezogen. Eine Situation, die einem klassischen Kolonialstatus
sehr nahe kommt.
Jetzt wehren sich die Bewohner, auf Dauer in Geiselhaft des
Kaschmirkonflikts genommen zu werden. Mit anderen
Widerstandsbewegungen fordert die 1992 gegründete BNF die
Selbstbestimmung. Sie tritt für eine souveräne und
unabhängige Republik Balawaristan bestehend aus drei
Provinzen Gilgt, Baltistan und Hunza ein und verlangt die
sofortige Gewährung aller politischen Freiheitsrechte an die
Bewohner dieses Gebiets. Sein Vize Nawaz Khan Naji stellt in der
BNF-Webseite fest: "Wir sind weder Pakistani noch Kashmiri. In
einem Vertrag zwischen Azad Kashmir und Pakistan von 1949 wird
die Frage Gilgit-Baltistans auf den Zeitpunkt der
Gesamtlösung der Kaschmirfrage verschoben. Doch was haben
wir mit Kaschmir zu tun? Wir brauchen unseren eigenen Staat.
Sollte das Kaschmirproblem mit Indien gelöst werden,
könnten wir mit Pakistan über eine Konföderation
verhandeln. Doch können wir keine Provinz Pakistans werden.
Wir fordern echte Autonomie. Wir hätten sie schon 1947
genauso wie Azad Kashmir bekommen müssen."
Heute ist Gilgit-Baltistan de facto ein Teil
Pakistans. Die Regierung in Islamabad übt über das
"Ministerium für Kaschmir und die Nordgebiete" die volle
Staatsgewalt aus, erhebt Steuern, rekrutiert Soldaten, regelt das
Schulwesen, siedelt laufend neue Zuwanderer an und hat sogar
einen Teil des Gebiets China überlassen. Doch de jure ist
dieses große Gebiet kein Teil Pakistans, sondern wird als
Teil des ehemaligen Fürstentums Jammu und Kaschmir als
"umstrittenes Gebiet" betrachtet. Seine Bürger haben keine
Selbstverwaltung und sind auch im nationalen Parlament nicht
vertreten. Der Chefgouverneur wird von der Regierung in Islamabad
eingesetzt und residiert auch dort. Sein Stellvertreter wird zwar
vom "Northern Areas Legislative Council" (NALC) nominiert, eine
Art Lokalparlament. Doch weder er noch das NALC haben echte
Regierungsmacht. Seine 24 männlichen Mitglieder werden seit
1994 direkt gewählt, zuletzt im Dezember 2004; sechs
weibliche werden von den gewählten Männern bestimmt.
Regiert werden die Nordgebiete nicht aufgrund eines Statuts,
sondern aufgrund des "Rahmengesetzes für die Nordgebiete"
von 1994, das die wenigen Befugnisse dieses Gremiums auflistet.
Jede Regelung muss vom Minister genehmigt werden, um Rechtskraft
zu erlangen. Die Verwaltung des Budgets erfolgt direkt durch das
Kaschmir-Ministerium in Islamabad, das über die
öffentlichen Mittel frei schalten und walten kann. So
beschränkt sich die Rolle des NALC darauf, bereits in
Islamabad getroffene Entscheidungen nochmals abzusegnen. Aufgrund
der internen Konflikte ist der Vize-Gouverneur seit Ende 2004
noch gar nicht ernannt worden.
Dabei gäbe es genug zu tun. Wirtschaftlich ist Balawaristan
völlig rückständig, drei Viertel seiner Bewohner
leben in Armut. Das Jahresbudget für eine Bevölkerung
von 1,1 Millionen Einwohnern beträgt rund 1 Milliarde
Rupien, nicht mehr als 13,3 Millionen Euro, also eben 12 Euro pro
Kopf. Die Bewässerungsanlagen verfallen, die Schulen sind
vernachlässigt, die Mehrheit der Gilgiti, Balti und Hunza
haben keinen Strom. Außer der berühmten Karakorum
Highway sind kaum Straßen errichtet worden, Industrie gibt
es außer einigen Ziegelwerken keine und in die Nutzung
verschiedener Bodenschätze wird nicht investiert. Nachdem
der Tourismus nach dem Afghanistankrieg in Krise geriet, bleibt
für die jungen Einheimischen nur mehr die Armee als
Beschäftigungschance, zumal der öffentliche Dienst fast
gänzlich von Pakistani besetzt wird. Viele wandern aus, vor
allem in die Golfstaaten. Hätte nicht die Aga Khan-Stiftung
mit Hunderten von Entwicklungs- und Hilfsprojekten Geld und
Infrastrukturen ins Land gebracht, wäre die Lage noch weit
desolater.
Pakistan steht auf dem Standpunkt, dass eine Annexion des Gebiets
eine Anerkennung der Teilung Kaschmirs gleichkommen würde.
Implizit würde dadurch die quer durch Kaschmir verlaufende
Line of Control als internationale Grenze anerkannt und die lange
geforderten Volksabstimmungen unter UN-Aufsicht
überflüssig. Pakistan betrachtet Gilgit-Baltistan zwar
für einen Teil Pakistans, doch nutzt es dieses Gebiet als
Reservekarte im Poker um Kaschmir. Die "Northern Areas" befinden
sich im Zustand eines Kolonialgebietes, dem seit 58 Jahren das
Recht auf Selbstbestimmung versagt wird. Die früheren
Ansuchen um Eingliederung in den pakistanischen Bundesstaat -
etwa als die 5. Provinz - sind immer abgelehnt worden,
Verfassungsklagen auf Zuerkennung der grundlegenden politischen
Rechte blieben ergebnislos. Nun lehnen ihrerseits immer mehr
Bewohner Balawaristans die Umwandlung ihres Landes in die "5.
Provinz Pakistans" ab. Die BNF kritisiert die pakistanische
Verwaltung als völkerrechtswidrige Besatzung ohne jeglichen
Konsens der Bevölkerung. Die pakistanische Vorgangsweise
erinnert fatal an den modernen Neokolonialimus autoritärer
Staaten in besetzten Gebieten wie etwa China in Tibet und
Sinkiang, Indonesien in Westpapua und Aceh und Marokko in der
Westsahara. Die lange Diskriminierung und Fremdbestimmung der
angestammten Bewohner hat im traditionell multiethnischen
Gilgit-Baltistan eine Art "nationale Identitätsbildung"
ausgelöst. Immer mehr fühlt man sich von Islamabad
betrogen und bedroht.
Gilgit-Baltistan ist heute eine in jeder Hinsicht
fremdbestimmte und abhängige Region. "Pakistan hat
Balawaristan", so schreibt die BNF in ihrer Homepage, " seit der
Besetzung am 16.11.1947 nichts anderes gegeben als religiöse
Konflikte, Intoleranz, Armut, Verlust von Geschichtsbewusstsein
und Kultur, terroristische Ausbildungslager, die Plünderung
der Ressourcen und des Landes. Es hat unseren Frieden
gestört und unsere Menschenrechte verletzt, es gesteht uns
keine Gerechtigkeit zu und verhindert Meinungs- und
Bewegungsfreiheit und hat unsere Helden und Märtyrer
beleidigt." Nicht nur aus der Sicht der "Patrioten" des BNF
bildet dies den Hintergrund für die grassierende
Unzufriedenheit und die Forderungen nach Selbstbestimmung,
sondern auch laut der pakistanischen Menschenrechtskommission.
Der Ärger der schiitischen Einheimischen über den
wachsenden Einfluss der sunnitischen Zuwanderer verstärkt
diese Bewegung. Die profiliertesten Gruppen, die Gilgit Baltistan
National Alliance, das Gilgit Baltistan United Action Forum for
Self Rule und die Balawaristan National Front fordern ein
autonomes Gilgit-Baltistan oder ein unabhängiges
Balawaristan. Sie betrachten den Kaschmirkonflikt als für
Gilgit-Baltistan nicht mehr relevant und versuchen,
internationale Organisationen auf die prekäre
Menschenrechtslage aufmerksam zu machen. Auf politischer Ebene
haben sie kaum Spielraum, da eine Wahl zum lokalen
Pseudoparlament, dem "Northern Areas Legislative Council", nur
unter der Bedingung erfolgen kann, die Zugehörigkeit von
Gilgit-Baltistan zu Pakistan anzuerkennen. Doch da die Form
dieser Zugehörigkeit einen kolonialen Charakter hat, finden
sich mehr und mehr politische Kräfte dazu nicht mehr
bereit.
Nun hat Präsident Musharraf in seinem letzten Vorschlag zur
Lösung der Kaschmirfrage die Aufteilung des gesamten
früheren Fürstenstaats in 7 Regionen vorgeschlagen, die
getrennt über ihren zukünftigen Status befinden
sollten. Im gesamten Gebiet sollten nach Entmilitarisierung
zusammen mit Indien Abstimmungen durchgeführt werden. Die
BNF hat dem Vorschlag zugestimmt. Allerdings musste Musharraf
unter dem Druck der nationalen öffentlichen Meinung und der
Armee gleich darauf einen Rückzieher machen und die
Entmilitarisierung Kaschmirs fallen lassen. Die Geschichte ist
wiederum offen, und das Schicksal Gilgit-Baltistans bleibt an die
vertrackte Situation Kaschmirs geknüpft. Da Indien auf dem
Status quo beharrt, Pakistan aber genauso auf der fiktiven
Zusammengehörigkeit des alten Staates, bleibt
Gilgit-Baltistan eine Art Geisel des Kaschmirkonflikts, wie ein
rechtloser Bauer auf dem Schachbrett der beiden regionalen
Großmächte. Selbst die Hurriyat Conference, die Front
muslimischer Parteien im indischen Teil Kaschmirs für die
Selbstbestimmung, hat diesen unhaltbaren Zustand erkannt, obwohl
man sonst ebenfalls auf der Einheit des historischen Jammu und
Kaschmir beharrt. Man ist sich in Srinagar bewusst, dass es keine
einheitliche Lösung für alle verschiedenartigen Teile
des früheren Fürstenstaats mehr geben kann.
Gilgit-Baltistan war schließlich nur eine Eroberung des
Maharaja von Kaschmir gewesen, dann ein Jahrhundert lang
Grenzkolonie und seit 1947 Jahren Kolonie Pakistans. Jetzt reicht
es den Menschen in Balawaristan und damit schwelt ein neuer
Krisenherd im Norden Pakistans.
Die wichtigsten Volksgruppen in Gilgit-Baltistan sind die Shina
sprechenden Gilgiti, die Pashtunen bis ins Gebiet um Chilas, die
mit den Ladakhi verwandten Balti und die Hunzakut, die
Burushashki sprechen. Außerdem wird Khowar, Wakhi,
Kohistani und Punjabi gesprochen und als Verkehrssprache Urdu.
Das Gebiet ist völlig islamisch, doch im Unterschied zu
Pakistan gehört die Mehrheit den Schiiten und Ismailis
an.
"Pakistan hat das Fehlen einer
einheimischen Elite missbraucht"
Gespräch mit Maj Hussain Shah [
oben ]
Hussain Shah, ein ehemaliger Offizier der pakistanischen
Armee, ist Vorsitzender der Partei MKOP, die zur Allianz der
Autonomiebefürworter in Gilgit-Baltistan gehört
(Interview des Autors im Haus H. Shahs in Gilgit-Stadt. Der
Steinbock ist das nationale Symbol für
Balawaristan).
Warum weigert sich Pakistan, dem Wunsch
Gilgit-Baltistans nach voller Eingliederung
nachzukommen?
Maj Hussain Shah: Pakistan will das Recht der gesamten
Bevölkerung des ehemaligen Fürstentums Jammu und
Kaschmir auf ein Referendum aufrechterhalten, mit dem über
eine definitiven Beitritt zu einem der beiden Staaten entschieden
werden soll, wie es die UN-Resolution vom 5.1.1949 vorsieht.
Darum befinden wir uns in einem permanenten Schwebezustand. Wir
sind weder die 5. Provinz Pakistans, noch ein unabhängiges
Gebiet, noch ein Teil Jammu und Kaschmirs. Bis 1971 sind wir
sogar auf der Grundlage des "Frontier Criminality Rule" regiert
worden, eines altkolonialen Polizeigesetzes. Dann gaben sie uns
eine Art Vertretungsorgan ohne echte Machtbefugnisse, dessen
Mitglieder von Islamabad ernannte Honoratioren waren. Erst seit
1995 können wir diesen Legislativrat wählen, bloß
hat er kaum Befugnisse. So bleibt Gilgit-Baltistan unter der
Direktverwaltung Islamabads und die Bevölkerung hat kein
Recht auf Mitbestimmung.
Was hat Pakistan in der Befreiung von Gilgit-Baltistan
falsch gemacht?
Maj Hussain Shah: Pakistan intervenierte militärisch und
lieferte Indien und dem Maharaja von Jammu und Kaschmir den
Vorwand, ihrerseits zu intervenieren. Während dieser
Intervention sind die Menschenrechte der Bevölkerung
verletzt und ihre politischen Ansprüche übergangen
worden. Dann bestand Pakistan darauf, dass ein gleichzeitiges
Referendum in allen Teilen des früheren Fürstentums
stattfinden sollte mit der bloßen Entscheidung zwischen dem
Anschluss an Pakistan oder Indien, denn Pakistan fürchtete
den Einfluss von Sheikh Abdullah auf die Bevölkerung des
Kaschmirtals. Pakistan hat das damalige Fehlen einer politischen
Elite in unserem Land ausgenutzt, um die totale Kontrolle
aufrechtzuerhalten. Vom demokratischen Standpunkt aus ist das
völlig inakzeptabel.
Sie haben eine Partei gegründet, die für die
Autonomie von Gilgit-Baltistan eintritt. Welchen
Handlungsspielraum haben Sie überhaupt?
Maj Hussain Shah: Ich bin seit 1984 in dieser Partei tätig,
doch werde ich in ganz Pakistan als ein Verräter der
Interessen Pakistans diffamiert. Wir können jedenfalls in
voller Legalität tätig sein. Unter den einheimischen
Politikern fasst jetzt immer mehr die Überzeugung Fuß,
dass wir uns aktiv für Selbstverwaltung und Autonomie
einsetzen müssen. Einst bin ich an den Rand gedrängt
worden, heute geben mir alle Recht. Seit Dezember 2004 sind wir
auch im Legislativrat der Northern Areas vertreten.
Was will Ihre politische Allianz
erreichen?
Maj Hussain Shah: Wir wollen Demokratie und Autonomie für
Gilgit und Baltistan und zwar sofort, unabhängig von einem
Referendum, über das völlige Ungewissheit herrscht. Die
Mehrheit der Bevölkerung ist für eine besondere
Autonomie von Gilgit und Baltistan innerhalb Pakistans, lehnt
andererseits die Perspektive ab, weiterhin als Teil von Jammu und
Kaschmir zu gelten. Meine Allianz ist von den pakistanischen
Parteien völlig unabhängig. Sie ist eine
bodenständige und interethnische Kraft. Nur die
Außenpolitik, die Verteidigung, die Währung und die
Kommunikationspolitik sollen bei der Zentralregeirung verbleiben.
Ich bin überzeugt, dass wir sogar unabhängig sein
könnten. Ein unabhängiges Gilgit-Baltistan würde
eine Puffer zwischen China, Indien und Pakistan bilden.
Jedenfalls sind wir überzeugt, dass Pakistan kein Recht hat,
Gilgit-Baltistan in diesem rechtlosen Schwebezustand zu halten.
Wir haben uns auch an das pakistanische Verfassungsgericht
gewandt um unsere Benachteiligung gegenüber Azad Kashmir und
die Verweigerung von politischen Grundrechten anzufechten. Das
Verfahren ist noch nicht endgültig entschieden.
Wie kann der Kaschmirkoinflit gelöst
werden?
Maj Hussain Shah: Vor einiger Zeit haben sich in Islamabad alle
politischen Kräfte des ehemaligen Fürstentums
versammelt, von der Hurriyat Conference aus dem indisch besetzten
Teil über die Parteien Azad Kashmirs bis hin zu Politikern
aus Gilgit-Baltistans, doch ist keine Übereinkunft gefunden
worden. Man stimmt nur darin überein, dass eine
Volksabstimmung über den zukünftigen Status abgehalten
werden soll, doch gibt es eine starke Minderheit, die nicht nur
über die Zugehörigkeit zu einem der beiden Staaten
Indien oder Pakistan entscheiden will, sondern auch über
eine eventuelle Unabhängigkeit. Dies sollte möglichst
auch in Form von Abstimmungen getrennt nach einzelnen Regionen
erfolgen. Verschiedene Vorschläge liegen heute auf dem Tisch
von der definitiven Teilung Jammu und Kaschmirs bis zur
Einrichtung eines indisch-pakistanischen Kondominiums. Auf jeden
Fall wäre die bloße Wiederherstellung der Autonomie
für die moslemischem Kaschmiri heute keine ausreichende
Lösung.
Thomas Benedikter ist Mitarbeiter der Europäischen Akademie Bozen, Bereich Minderheitenschutzsysteme in Europa und Südasien in Zusammenarbeit mit südasiatischen Menschenrechtsorganisationen. Jüngste Veröffentlichungen zu den Hintergründen des Kriegs in Nepal ("Krieg im Himalaya", LIT, Berlin 2003) und zum Kaschmir-Konflikt ("Il groviglio del Kashmir", Editori Fratelli Frilli, Genova, 2005).
Aus pogrom-bedrohte Völker 239 (5/2006).