In: Home > DOSSIER > Tibet / China. Tibeter verlieren ihre kulturelle Identität
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Von Helmut Steckel
Bozen, Göttingen, Februar 2012
Das Baiju-Kloster in Gyantse in der Autonomen Region Tibet. Foto: Gerhard Palnstorfer.
Die chinesische Regierung zerstört als Besatzungsmacht in
Tibet seit 60 Jahren zunehmend die kulturelle Identität der
Tibeter. In der Zeit nach der Besetzung Tibets durch die
chinesische Armee 1951 wurden unzählige Klöster
zerstört und ausgeraubt, religiöse Heiligtümer
verwüstet, nach China verschleppt und von dort aus auf dem
Weltmarkt verkauft. Tibeterinnen und Tibeter wurden gefoltert,
geschlagen, vergewaltigt, in "Kampfsitzungen" denunziert,
für Jahrzehnte ins Arbeitslager gesteckt und hinter Schloss
und Riegel gesperrt. Die 2011 erfolgten Selbstverbrennungen von
Mönchen und Nonnen sind als ein verzweifelter Hilfeschrei an
die Weltöffentlichkeit zu verstehen, der Unterdrückung
durch die Kommunistische Partei der Volksrepublik China
entgegenzutreten und den Tibetern zu helfen.
Das Zugehörigkeitsgefühl zum tibetischen Volk ist unter
den Mönchen und Nonnen in den Klöstern auch nach 60
Jahren massiver Repression noch vorhanden. Allerdings ist der
versteckte Einfluss der chinesischen Touristen, die dem
tibetischen Buddhismus als Sinnsuchende, aber auch Interessierte
an einer exotischen Religion und Philosophie positiv
gegenüberstehen, als loyale Staatsbürger Chinas jedoch
die offenen politischen Fragen ausklammern, sehr groß. So
sind zum Beispiel in dem Kloster Larung Far in der Autonomen
Region Tibet unweit der Grenze zur Provinz Yunnan bereits 30
Prozent der Mönche und Novizen Chinesen. In einigen Jahren
wird bei zunehmender Aufnahme von Chinesen in das buddhistische
Klosterstudium das Selbstverständnis der Tibeter aufgeweicht
sein und damit auch der Widerstand gegen die chinesische
Obrigkeit verloren gehen. Die Erinnerung an die unermessliche
Zerstörungswut der Kommunistischen Partei in Tibet in den
Jahren der Kulturrevolution 1966-1976, die zu einer Vernichtung
von über 80 Prozent der buddhistischen Stätten
führte und somit fast alle Mönche und Nonnen an ihrer
Religionsausübung hinderte, ist dann verblasst.
Zerstörung der tibetischen Hauptstadt
Lhasa
Die Zerstörung des historischen Kerns von Lhasa ist derart
vorangeschritten, dass das unverwechselbare tibetische Gesicht
der Stadt verlorengegangen ist. Die Ideologie der kommunistischen
Kader missachtete die traditionelle Architektur. Billigbauten mit
tibetischen Zierarten ersetzen mittlerweile alte tibetische
Gebäude. Durch eine derartige Allerweltsarchitektur mit
pseudo-tibetischen Elementen soll Touristen aus dem Ausland und
aus China ein fortschrittliches und modernes Tibet gezeigt
werden. Lhasa ist eine chinesische Stadt geworden, die den
Verlust der kulturellen Identität seiner einheimischen
Bevölkerung widerspiegelt.
Verlust der tibetischen Sprache
Dass die tibetische Sprache in hohem Maße gefährdet
ist, wird an der Analphabetenrate in Tibet deutlich, die
gegenwärtig bei nahezu 50 Prozent liegt. Es ist den auf dem
Land lebenden Familien nicht möglich, ihre Kinder in die oft
weit entfernten Grundschulen zu schicken, zumal die
Schulgebühren hoch sind. Die Eltern können die Mittel
dafür nicht aufbringen. Das Niveau der Schulen in Tibet ist
überdies niedriger als in China und fast der gesamte
Unterricht erfolgt im chinesischen Mandarin. Dort, wo Tibetisch
in den Schulen unterrichtet wird, ist dies auch nicht mehr als
ein Feigenblatt.
Um Tibeter zu loyalen chinesischen Staatsbürgern zu
erziehen, wird die Bedeutung des Mandarin betont, das seit 2002
bereits in den ersten Schuljahren unterrichtet wird. Diejenigen,
die sich darüber beklagen, dass tibetisch sprechende
Schüler nicht in ihrer Muttersprache unterrichtet werden,
treffen Repressionen.
Der Vorwurf der Unruhestiftung ist ein probates Mittel, um
Tibeter zum Schweigen zu bringen. Dabei sollte ethnischen
Minderheiten - China bezeichnet die Tibeter als ethnische
Minderheit - Unterricht in ihrer eigenen Sprache oder zumindest
zweisprachig angeboten werden. Das betrifft aber nur die Schulen
und Erziehungseinrichtungen, in denen tibetische Kinder und
Jugendliche mehrheitlich vertreten sind. Allgemein kann gesagt
werden, dass der Chinesischunterricht die tibetische Sprache
zurückdrängt. Tibetische Familien, die es sich leisten
können, schicken ihre Kinder auch bereits im frühen
Alter von acht Jahren nach China, um dort eine bessere Ausbildung
zu erhalten. Die Folge ist der Verlust der Muttersprache. So ist
eine Entfremdung zu den Traditionen der eigenen Kultur
unausweichlich.
Eindeutig ist der Artikel 4 (3) der UN-Erklärung über
die Rechte von Personen, die ethnischen Minderheiten
angehören: "Die einzelnen Staaten sollten geeignete
Maßnahmen ergreifen, damit Angehörige von
Minderheiten, wo immer es möglich ist, die Gelegenheit
erhalten, ihre Muttersprache zu lernen oder in dieser
unterrichtet zu werden." "Sprachprobleme" in Tibet lassen sich
zurückführen auf die erklärte Absicht der
Kommunistischen Partei Chinas, ihr Bildungsmonopol nicht in Frage
zu stellen, eine "patriotische Erziehung" allein auf die von ihr
vertretene Ideologie zu verpflichten. Die Prämissen der
politischen und ideologischen Arbeit in den Schulen sind
unumstößlich, sie bestimmen einen falschen oder
richtigen Unterricht.
Im Oktober 2010 protestierten in Osttibet (Tibetisch Amdo /
Chinesisch Qinghai) sowie in Kham (Osttibet / Sichuan) mehr als
8.000 Schüler und Studenten gegen die Pläne der
chinesischen Regierung, die Hauptunterrichtssprache Tibetisch
zugunsten von Chinesisch zu streichen. Internationale Medien
berichteten über die Proteste und machten sie so weltweit
bekannt. Selbst in Peking demonstrierten über 400 Studenten
der Abteilung für tibetische Studien der Minzu
Universität (früher die Zentrale Universität
für Nationale Minderheiten).
"Kultureller Völkermord"
Der Dalai Lama spricht von einem "kulturellen Völkermord":
Die tibetische Sprache, Religion und Identität befänden
sich in einem Auflösungsprozess. Die Wertschätzung der
tibetischen Sprache nehme rapide ab. Der Zustrom von chinesischen
Siedlern macht die tibetische Landessprache zweitrangig. In den
mehrheitlich von Chinesen bewohnten Städten Lhasa, Shigatse
und Gyantse ist Tibetisch mittlerweile eine Minderheitensprache.
Der Warenstrom aus China überschwemmt überdies den
Markt und erfordert im Kauf und Verkauf chinesische
Sprachkenntnisse. Tibeter ohne Chinesischkenntnisse können
sich im Geschäftssektor nicht mehr behaupten. Die in Peking
lebende tibetische Schriftstellerin Tsering Woeser schreibt in
einem Blog: "Ob du Tibetisch sprechen kannst, ist eine Nebenfrage
geworden, aber ob du Mandarin sprechen kannst, ist für
Deinen Lebensunterhalt entscheidend. Die tibetische
Schriftsprache hat tatsächlich schon einen sehr kritischen
Punkt erreicht."
Das Erlernen der chinesischen Sprache ist für Tibeter in
allen Lebenssituationen in den Städten unabdingbar geworden.
Die chinesische Bildungs- und Wirtschaftspolitik drängt sie
ins gesellschaftliche Abseits, das sie nur durch eine absolute
Anpassung und vollkommene Assimilierung überwinden
können. Der Lebensstandard der tibetischen Bevölkerung
ist ausgesprochen niedrig. Die erzwungene Abkehr von der Sprache
schafft Entfremdung und Entwurzelung im eigenen Land. Der Verlust
der tibetischen Sprache und der tibetischen Kultur ist nur
aufzuhalten durch eine Reform des politischen Systems in China
und damit auch in Tibet.
Chinas zerstörerische Umweltpolitik in
Tibet
Chinas Umweltpolitik in Tibet ist katastrophal. Sie wird bestimmt
durch die wirtschaftliche, militärische, finanzielle und
politische Macht der Kommunistischen Partei. Die Raubzüge
der chinesischen Regierung in der Natur sind der Schlussstein in
der Besetzung und Annexion Tibets. Der Ausbeutung der
Naturschätze folgt die Zerstörung von 6.000
Klöstern und heiligen Stätten während der
Kulturrevolution, die Tötung von 1,2 Millionen Tibetern seit
1950, die mehr als 100.000 Flüchtlinge nach der Flucht des
Dalai Lama 1959, der bis heute nicht gänzlich versiegende
Flüchtlingsstrom, die Missachtung der tibetischen Sprache
und Kultur und die Zwangsansiedlung von tibetischen Nomaden. War
es in den ersten Jahren der Besetzung noch ein ungebremster
Holzeinschlag in den Wäldern Tibets, so sind es heute
Bergwerksbetriebe, die ohne Rücksicht auf gesundheitliche
Schäden der Bevölkerung Bodenschätze
fördern.
Das fragile Ökosystem einzelner Regionen ist extrem
gefährdet. Grundwasser erweist sich in der Nähe von
Bergwerksbetrieben als zunehmend unbrauchbar. Proteste der
Bevölkerung werden rücksichtslos von
Sicherheitskräften unterbunden. Tibeter werden festgenommen
und inhaftiert. Es gibt mindestens 3.000 Minerallager in der
Autonomen Region Tibet, die in naher Zukunft mit Hilfe
ausländischer Konzerne erschlossen werden sollen. Dabei
werden auch Nomaden von ihren Weidegebieten vertrieben, um
hydroelektrische Kraftwerke und Bergwerksbetriebe bauen zu
können. Auch hier geht die erzwungene Aufgabe des Rechts auf
die angestammte Heimat einher mit dem Verlust der tibetischen
Identität. Allein zwischen 2006 und 2009 wurden 860.000
Nomaden und Bauern in sozialistischen Modelldörfern
angesiedelt. In den neuen Siedlungen können sie ihre
Viehherden nicht länger aufrechterhalten. Durch die
Zwangsumsiedlungen wurden sie zu Lohnarbeitern und
Almosen-Empfängern.
Tibets große Flüsse kanalisiert China durch massive
Dammbauprojekte. Das Wasser Tibets wird Chinas Regionen über
ein Netzwerk aus Betonleitungen zugute kommen, die durch
unkontrollierte Industrialisierung nur noch verschmutztes Wasser
aufweisen. Die Kommunistische Partei Chinas ist nicht bereit,
ihre ausbeuterische Umweltnutzung zu überdenken, die
bürgerlichen und politischen Rechte der betroffenen Menschen
zu achten und ihre Projekte daraufhin abzustimmen.
Das Selbstbestimmungsrecht des tibetischen Volkes wird nicht
beachtet. Die gefährdete und bereits zerstörte Umwelt,
dazu zählen die bedrohten tibetischen Flüsse, die
Atomkraftforschung, Endlagerstätten für Atommüll
und Raketentests am Kokonorsee im Norden Tibets, die abgeholzten
Wälder mit erodierten Böden und der unkontrollierte
Abbau der Bodenschätze, sind eine schwere Verletzung der
Menschenrechte in Tibet. Sie bedrohen die Existenz des
tibetischen Volkes. Das Ökosystem Tibets ist aufgrund der
sehr speziellen Umweltbedingungen nicht nur für Tibet
selbst, sondern auch für die angrenzenden Länder
Indien, China, Bangladesch und Pakistan von großer
Bedeutung.
Es ist daran zu zweifeln, dass China verantwortungsvoll handelt
und dem Umweltschutz erste Priorität einräumt, zumal
Tibet im besonderen Maße von der globalen Erwärmung
betroffen ist. In China sind die negativen Folgen des
gigantischen Drei-Schluchten-Staudamms im Yangtse
unübersehbar. Wasserbauprojekte, die wiederum Menschen zu
Hunderttausenden aus ihren Städten und Dörfern
vertreiben, werden weiter geplant. Gigantomanie ist ein
besonderes Merkmal von Diktaturen.
Aus pogrom-bedrohte Völker 268 (5/2011)
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/2c-stampa/2011/110404de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2010/101220de.html
| www.gfbv.it/3dossier/asia/charta08-tb.html
| www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/sud2010-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/asia/tibet-ud.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/tibet.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/china.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/china1.html
in www: www.freetibet.org | www.tchrd.org | www.hrichina.org