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Thomas Benedikter
Bozen, 9. Dezember 2010
Index
Zur heutigen Nobelpreisverleihung an den
chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo | Die
"CHARTA 08"
Liu Xiaobo, chinesischer Menschenrechtsaktivist. Foto: GfbV.
Morgen, am 10. Dezember 2010, wird in Oslo dem chinesischen
Bürgerrechtler und früheren Universitätsdozenten
Liu Xiaobo der Friedensnobelpreis verliehen. Weder er noch seine
Frau können den Preis in Empfang nehmen. Liu Xiaobo sitzt in
einem chinesischen Arbeitslager, wo er seit Dezember 2009 11
Jahre Haft abzubüßen hat. Seine Frau steht wie viele
andere chinesische Dissidenten derzeit unter Hausarrest.
Liu Xiaobo hat vor genau zwei Jahren zusammen mit weiteren 300
chinesischen Intellektuellen das politische Manifest "Charta 08"
veröffentlicht. Der chinesische Staat hat dieses Manifest
als einen "Akt der Anstachelung zum Umsturz der Staatsmacht"
bezeichnet und den Hauptinitiator exemplarisch bestraft.
Naturgemäß betrachtet Peking auch die
Nobelpreisverleihung als feindlichen Akt gegenüber China,
Liu Xiaobo und die Charta 08 werden totgeschwiegen,
ausländische Medien werden zensiert.
Der Durchschnittschinese soll über die weltweite
Aufmerksamkeit und Besorgnis zur Verweigerung demokratischer
Grundrechte möglichst nichts erfahren. Wenn ja, soll er die
Nobelpreisverleihung als antichinesische Propaganda im Westen
begreifen, die sich aus Pekinger Sicht gegen das prosperierende
China richtet. Der Durchschnittschinese soll sie nicht als das
erkennen, was sie sein will und ist: die Anerkennung des
friedlichen Einsatzes von chinesischen Staatsbürgern
für die eigenen Grundrechte und Grundfreiheiten.
Zu diesen Grundrechten hat sich China 1998 selbst offiziell mit
der Ratifizierung der Internationalen Pakte für die
politischen und bürgerlichen Rechte der VN bekannt, wendet
sie aber nicht an. Wie die Nobelpreisverleihung an den Dalai Lama
1989 richtet sich dieser Nobelpreis nicht gegen China als solches
oder gegen das chinesische Volk, sondern gegen die
autoritäre Staatsmacht, die dem Volk Grundrechte
verweigert.
Wer ist Liu Xiaobo? Liu Xiaobo ist Mitte der 1980er Jahre als
Literat hervorgetreten, und hat immer wieder den
Neokonfuzianismus kritisiert. Dieser will eine autoritäre
Herrschaft, wie sie mehr als zwei Jahrtausende im chinesischen
Kaiserreichs ausgeübt worden ist, in der Republik in neuen
Formen fortsetzen. Zusammen mit dem Nationalismus erlebt der
Neokonfuzianismus seit 2-3 Jahrzehnten in Chinas Politik eine
Renaissance, während der Kommunismus bekanntlich immer mehr
zur Staffage wird. Im Unterschied zu einem modernen
Verständnis von demokratischen Freiheitsrechten passt diese
Philosophie gut zum Herrschaftsanspruch der heutigen
Einheitspartei und staatstragenden Elite Chinas.
Liu Xiaobo war im Frühling 1989 mit seinen Studenten auf dem
Tienanmen-Platz in Peking direkt mit der Staatsmacht
konfrontiert. Am Vorabend des Massakers handelte er mit der
Polizei den friedlichen Abzug eines größeren Teils der
Studenten aus. Ohne ihn wäre es zu weit größerem
Blutvergießen gekommen. Danach ist Liu Xiaobo immer wieder
in Haft genommen worden, seine Texte werden zensiert, er kann nur
mehr im Ausland publizieren und nicht mehr als Dozent
arbeiten.
Mit einigen Freunden hat Liu Xiaobo 2008 das politische Manifest
"Charta 08" verfasst. Darin fordert er mit den 302
Mit-Unterzeichnern eine grundlegende Reform und demokratische
Öffnung der Volksrepublik und das Ende des Machtmonopols der
Kommunistischen Partei. Die Charta 08 fordert für China alle
grundlegenden Menschenrechte gemäß der schon
unterzeichneten UN-Pakte und einen demokratischen
Bundesstaat.
Die Charta 08 geht davon aus, dass diese politischen Grundrechte
auch den 1,3 Milliarden chinesischen Staatsbürgern zustehen,
davon 100 Millionen Angehörige von ethnischen Minderheiten:
Unverletzbarkeit der Privatsphäre, Meinungsfreiheit,
Versammlungsfreiheit, Freiheit politischer und gewerkschaftlicher
Organisation, eine unabhängige Justiz und Verwaltung,
Freiheit von Wissenschaft und Lehre, echte Wahl- und
Mitbestimmungsrechte, das Recht der ethnischen Minderheiten auf
echte Selbstverwaltung und vieles Weitere mehr.
China bekennt sich nur formal zu den internationalen
Menschenrechtskonventionen, in der Praxis schränkt China die
Menschenrechte und vor allem die politischen Freiheitsrechte
drastisch ein. Aber auch in China leben die Menschen nicht vom
Konsum allein. Wer vom Staat die Einführung von
demokratischen Freiheitsrechten fordert, wird von der KP als
Knecht des Westens und Staatsfeind denunziert und verfolgt. Die
KP selbst betrachtet sich als einzige Kraft, die in China
für Stabilität und Ordnung sorgen kann, die Wachstum
und Wohlstand sichert, die die nationale Einheit garantiert.
Dabei sei erwähnt, dass Liu Xiaobo auch den wilden
Neokapitalismus in China mit seinen Auswüchsen sozialer
Ungerechtigkeit und ökologischen Desastern genauso
kritisiert wie den Mangel an demokratischen Grundrechten.
In der territorialen Ordnung Chinas plädiert die Charta 08
übrigens nicht für die sofortige Selbstbestimmung der
Uiguren und Tibeter, sondern für einen demokratischen
Bundesstaat, in dem alle Teile des heutigen Staats
gleichberechtigt und freiwillig zusammenarbeiten. Im März
2008, nach dem Aufstand der Tibeter, appellierte der Kreis um Liu
Xiaobo für die unabhängige Untersuchung der
Vorfälle, für die Analyse der politischen Fehler der
Regierung in den tibetischen Gebieten, die diese Unruhen
ausgelöst hatten. Er appellierte an die Regierung, das Recht
der Tibeter auf volle Religionsfreiheit laut chinesischer
Verfassung zu beachten und auch in Tibet das Recht auf
Meinungsfreiheit und politische Mitbestimmung zu wahren.
Heute sitzt Liu Xiaobo in einem Arbeitslager, die sog. Laogai
sind so berüchtigt wie früher die GULAGs der
Sowjetunion. Eben vor 10 Monaten war eine prominente chinesische
Staatsbürgerin im Filmclub zu Gast, die 5 Jahre in
derartiger Haft aus politischen Gründen verbrachte, Rabeya
Kadeer, die weltweit bekannte Vorkämpferin für die
Rechte der Uiguren. und selbst mehrfach für den
Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Zur Preisverleihung an Liu
Xiabo hat R. Kadeer folgendes gesagt: "Der heurige Nobelpreis
für Liu Xiaobos gewaltfreie Aktionen ist ein wunderbarer
Schritt zur Förderung aller demokratischen Bewegungen in
China. Dieser Preis anerkennt nicht nur sein besonderes
Engagement für Demokratie und Menschenrechte in China,
sondern stärkt alle Menschenrechtsgruppen und Dissidenten im
heutigen China einschließlich der Bewegungen der Uiguren
und Tibeter. Er verleiht vielen anderen politischen Gefangenen in
China Hoffnung, die wegen ihres Einsatzes für
Meinungsfreiheit und Menschenrechte lange Haftstrafen
abzubüßen haben."
Liu Xiaobo und Tausende von chinesischen Intellektuellen
vertrauen darauf, dass in der neuen Weltmacht China den Menschen
mehr Freiheitsrechte zuerkannt werden können, ohne dass dies
den Staat China als solchen gefährden müsse. Er ist die
Leitfigur des heutigen Einsatzes für Menschenrechte und
demokratische Freiheiten in China. Leider wird Peking alles tun,
um diese Aktivisten mundtot zu machen. Somit ist der
Friedensnobelpreis an Liu Xiaobo ein enorm bedeutender Akt, um
die Charta 08 in China und in der Welt bekannt zu machen. Heute
scheint uns ein demokratisches China noch als völlige
Utopie, doch war nicht auch der Umbruch in Osteuropa Anfang 1989
für Außenstehende eine Utopie? Mit zahlreichen
Menschenrechtsorganisationen in aller Welt fordert die GfbV heute
die sofortige Freilassung von Liu Xiaobo, die Einstellung der
Verfolgung der Unterzeichner der Charta 08 und eine freie und
offene Debatte seiner Vorschläge und Forderungen in ganz
China.
Zusammen mit anderen 302 Intellektuellen veröffentlichte Liu Xiaobo im Dezember 2008 in China das politische Manifest "Charta 08". Dafür wurde er verhaftet und am 24. Dezember 2009 zu 11 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, die er derzeit absitzt. Am 10.12.2010 erhält Liu Xiaobo für seinen Einsatz für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit in China den Friedensnobelpreis. Der Filmclub widmet den Donnerstag, 9.12., seiner "Filmclub Specials" mit dem chinesischen Spielfilm Ye che (Night Train) von Yinan Diao dieser außerordentlichen Persönlichkeit und seinen Mitstreiter/innen in China. Die "Charta 08" stammt wesentlich aus der Feder dieses mutigen Manns. Möge sie für 1,33 Milliarden Chinesen so bahnbrechend sein wie damals die "Charta 77" im sowjetisch beherrschten Osteuropa.
2008 jährt sich die erste Verfassung Chinas zum
hundertsten, die "Erklärung der universellen Menschenrechte"
zum 60. und die Pekinger "Mauer der Demokratie" zum 30. Mal. Und
vor zehn Jahren unterzeichnete die chinesische Regierung den
[völkerrechtlichen UNO-Vertrag] "Internationalen Pakt
über bürgerliche und politische Rechte". Die
chinesischen Bürger sind nach langwierigen, mühsamen
und von Rückschlägen gezeichneten Kämpfen
aufgewacht und erkennen in täglich wachsender Klarheit, dass
Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenrechte gemeinsame und
universelle Werte der Menschheit sind, dass Demokratie, Republik
und verfassungskonforme Regierung Basis und Rahmen moderner
Politik sind. Eine "Modernisierung", die sich von diesen
universellen Werten und solchen Grundlagen der Politik entfernt,
kann nur zu einem Katastrophenprozess werden, der den Menschen
ihre Rechte raubt, ihre Vernunft korrumpiert und Würde
zerstört. Wohin wird China im 21. Jahrhundert gehen? Wird es
weiter die "Modernisierung" unter autoritärer Herrschaft
verfolgen? Oder wird es sich mit den universellen Werten
identifizieren, mit dem mainstream verschmelzen und ein
demokratisches Regierungssystem aufbauen? Dieser Entscheidung
können wir nicht mehr ausweichen.
Die historischen Umwälzungen in der Mitte des 19.
Jahrhunderts [gemeint ist der Einbruch europäischer Kultur -
materieller und geistiger - in die bis dahin hermetisch
verschlossene chinesische Welt] legten die Verrottetheit der
historischen chinesischen Autokratie bloß und waren der
Prolog für Veränderungen, wie es sie in der
chinesischen Welt bis dahin niemals gegeben hatte. Die "Bewegung
zum Lernen vom Ausland" [der erste Modernisierungsversuch,
getragen von einigen Provinzgouverneuren, die durch Importe
europäischer Technik und deren Kopieren "China" zu
modernisieren suchten, gemeinhin die 1860er bis 90er Jahre]
suchte den Fortschritt allein in der materiellen Sphäre.
Doch die Niederlage im Krieg gegen Japan [1894/95, der wahre
Schock für das überkommene Regime] enthüllte
erneut die Überlebtheit des chinesischen Systems. Die
"Hundert Tage der Reformen" [1898, nach der verheerenden
Niederlage gegen den "Tributstaat" Japan, Versuch des jungen
Kaisers, mit Hilfe einiger Reformer das versteinerte
Mandarin-System zu reformieren, durch einen Palast-Putsch
vereitelt] rührten dann erstmals an seinen Kern, doch den
konservativen Ultras gelang eine grausame Unterdrückung und
die Reformen scheiterten.
Die "Revolution von 1911" [Militärputsch in Zentralchina mit
Dominoeffekt im ganzen Land, führte zum Abdanken des ancien
régime und der Ausrufung der "Republik China"] schuf zwar
die erste asiatische Republik und beerdigte das zweitausend Jahre
währende Kaiser-System - jedoch nur auf den ersten Blick.
Unter den Bedingungen des inneren Chaos und von aussen
hereingetragener Katastrophen konnte das republikanische System
nur eine Episode bleiben. Bald kehrte die Despotie zurück.
Das Scheitern des materiellen Kopierens und der Erneuerung des
Systems trieb jedoch Chinesen dazu, gedanklich tiefer zu
schürfen, bis sie auf die kranken Wurzeln der Kultur
stiessen. Daraus erwuchs das Banner "Wissenschaft und Demokratie"
der "Bewegung des 4. Mai" [1919] und der folgenden "Bewegung
einer neuen Kultur" [Weg mit der gescheiterten chinesischen
Kultur, Übernahme europäischen Denkens].
Die häufigen Warlord-Kriege im Inneren und die Aggression
von Aussen [ab 1931: Japan] unterbrachen jedoch den Prozess der
politischen Demokratisierung Chinas. Nach der japanischen
Kapitulation [1945] erfolgte zwar ein weiterer Anlauf zu einer
verfassten Regierung, doch der Bürgerkrieg zwischen
Kuomintang und KP stürzte China am Ende in den Abgrund des
modernen Totalitarismus. Das "Neue China" [Chiffre der KP-Macht
für ihren Staat] von 1949 war indessen nur dem Namen nach
eine "Republik des Volkes", tatsächlich war es die "Welt der
Partei". Die herrschende Partei monopolisierte alle politischen,
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ressourcen und
produzierte eine menschenrechtliche Katastrophenserie - die
Anti-Rechtsbewegung [1957ff, gegen Kritiker der
Parteiherrschaft], den Grossen Sprung nach Vorne [1958 bis 1960],
die Kulturrevolution [offiziell 1966 bis 1976], den 4. Juni 1989,
die Unterdrückung der Volksreligion, der Bewegung zur
Verteidung der Rechte [seit etwa 2000, mutige Rechtsanwälte
nehmen sich der Anliegen politisch Unterdrückter und
wirtschaftlich Ausgebeuteter an] und vieler anderer. Dutzende
Millionen Menschen kamen bei all dem ums Leben, die Chinesen und
ihr Land zahlten einen verheerenden Preis.
Mit dem Prozess von "Reform und Öffnung", der am Ende des
20. Jahrhunderts begann, liess China die allgemeine Armut und den
vollkommenen Totalitarismus der Zeit Mao Tse-tungs hinter sich,
das Lebensniveau der Bevölkerung stieg erheblich,
individuelle Wirtschaftsfreiheiten und soziale Rechte kehrten
teilweise zurück, eine Bürgergesellschaft begann zu
wachsen. Seither nehmen auch die Rufe nach Menschenrechten und
politischer Freiheit zu. Während die Machthaber die
Wirtschaft in Richtung Markt und Privatisierung reformierten,
begannen sie auch damit, nach und nach von der Ablehnung der
Menschenrechte zu deren sukzessiver Anerkennung überzugehen.
1997 und 1998 unterzeichnete die chinesische Regierung zwei
wichtige internationale Abkommen zu den Menschenrechten und der
Nationale Volkskongress [das "Parlament"] verabschiedete 2004
eine Änderung der Verfassung und fügte den Passus ein,
"der Staat respektiert und schützt die Menschenrechte"
[Artikel 33]. In diesem Jahr versprach der Volkskongress
ausserdem, einen "Staats-Aktionsplan Menschenrechte" festzulegen.
Freilich sind solche Fortschritte bis heute zu grossen Teilen auf
das Papier beschränkt, auf dem sie stehen; wir haben
Gesetze, aber keine gesetzeskonforme Herrschaft, wir haben eine
Verfassung, aber keine entsprechende Regierung.
Ganz offensichtlich ist das immer noch unsere Realität. Der
machthabende Block hält weiterhin daran fest, seine
autoritäre Herrschaft zu verteidigen. Er verweigert eine
politische Wende, was geradewegs zur heute endemischen
Beamten-Korruption führt, die die Schaffung einer
legitimierten Herrschaft erschwert, die Rechte der Menschen
verschüttet, alle Ethik zerstört, die Gesellschaft
polarisiert und die Wirtschaft in abnormer Weise entwickelt. So
werden die natürliche Umwelt und dir Geist von zwei Seiten
her zerstört. Die Rechte der Bürger auf Freiheit,
Eigentum und die Verfolgung ihres Glücks haben keinen
systemischen Schutz. Gesellschaftliche Widersprüche jeder
Art türmen sich ununterbrochen auf, die Unzufriedenheit
steigt weiterhin und insbesondere verschärft sich der
Antagonismus zwischen Funktionären und Bevölkerung. Die
Anzahl sogenannter Zwischenfälle mit Massencharakter
[Gross-Demonstrationen, häufig gewaltsam] steigt so scharf
an, dass sich schon ein katastrophaler Trend zum Kontrollverlust
zeigt. Die Rückständigkeit des gegenwärtigen
Systems ist an einem Punkt angekommen, wo es ohne Reformen gar
nicht mehr geht.
An diesem, das künftige Schicksal Chinas entscheidenden
historischen Punkt, müssen wir den jetzt
hundertjährigen Modernisierungsprozess überdenken und
die folgenden Grundsätze erneut bekräftigen: Freiheit:
Die Freiheit ist der Kern der universellen Werte. Rechte wie das
der Rede, der Publikation, des Glaubens, der Versammlung und
Organisation, der Freizügigkeit, des Streiks, der
Demonstration und andere sind allesamt konkrete
Erscheinungsformen der Freiheit. Wo die Freiheit nicht
blüht, dort kann von moderner Zivilisation keine Rede
sein.
Menschenrechte: Sie sind kein Geschenk des
Staates, sondern Rechte, die jeder Mensch von Geburt an besitzt.
Sie zu schützen, ist das oberste Ziel einer Regierung, und
sie sind die legitimierende Basis allen Rechts; sie sind auch der
wichtigste Inhalt einer Politik, die "den Menschen zum
Ausgangspunkt nimmt" [ein Propaganda-Wort der Partei- und
Staatsmacht, seit etwa 2002 in Gebrauch]. Die politischen
Katastrophen Chinas sind eng verbunden mit der Missachtung der
Menschenrechte durch die machthabenden Behörden. Der Mensch
ist das Wesentliche am Staat, ihm dient er und für ihn ist
die Regierung da.
Gleichberechtigung: Jedes Individuum ist allen
anderen gleichgestellt, ohne Ansicht seiner sozialen Position,
seines Berufes, Geschlechts, seiner wirtschaftlichen Situation,
seiner Rasse, Hautfarbe, seines Glaubens oder seiner politischen
Ansichten; dies gilt auch für seine Persönlichkeit,
seine Würde und seine Freiheit. Das Prinzip der Gleichheit
aller Menschen vor dem Recht ist ebenso zu verwirklichen wie die
sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rechte
der Bürger.
Res publica: Das meint die Sache des Volkes,
dass "alle herrschen und friedlich zusammenleben", das bedeutet
Teilung der Gewalten und deren gegenseitige Kontrolle und
Balance, dass vielfältige Interessen, unterschiedliche
soziale Gruppen und jene, die unterschiedliche Kultur- und
Glaubensrichtungen verfolgen, auf gleichberechtigter Basis
partizipieren, in fairem Wettbewerb gemeinsam am politischen
Leben teilnehmen und in friedlicher Weise die Angelegenheiten der
Allgemeinheit regeln.
Demokratie: Ihr grundlegendster Inhalt sind die
Volkssouveränität und die Wahl der Regierung durch das
Volk. Zur Volksherrschaft gehören diese grundlegenden
Charakteristika:
1. Die Legitimität politischer Macht kommt aus dem Volk, die
Quelle der politischen Macht ist das Volk;
2. Die politische Herrschaft entsteht durch Wahlen des
Volkes;
3. Die Bürger geniessen echtes Wahlrecht, die wichtigsten
Funktionäre der Regierungen aller Ebenen sind durch
periodische Wahlen zu bestimmen;
4. Mehrheitsentscheidungen sind zu achten, die grundlegenden
Rechte der Minderheit sind zu schützen. In einem Satz: Die
Demokratie ist ein Mittel moderner Öffentlichkeit, mit dem
diese die Regierung zu ihrem "Besitz, Herrschaftsmittel und
Nutzbringer" macht.
Verfassungsgemäßes Regieren: Es ist das Prinzip, durch
rechtliche Bestimmungen und die Herrschaft des Rechts die in der
Verfassung festgelegten grundlegenden Bürgerfreiheiten und
-rechte zu schützen und mittels rechtlicher Festlegungen die
Macht und das Handeln der Regierung zu begrenzen und diesem Zweck
dienende systemische Mittel zur Verfügung zu stellen.
Das Zeitalter imperialer Macht ist in China schon lange vorbei
und es wird auch nicht zurückkommen; die autoritären
Systeme in der Welt nähern sich ihrer Abenddämmerung;
jetzt müssen die Bürger zu den tatsächlichen
Herren der Staaten werden. Hinweg mit der
Untertanen-Mentalität, sich auf "Ehrbare [Machthaber]" und
"saubere Beamte" zu verlassen, jetzt ist die Zeit des
Bürgerbewusstseins, das Rechte als Wesen der Sache und
Teilnahme als seine Verantwortung begreift, das Freiheit
verwirklicht, Demokratie als ureigenes Anliegen begreift und der
Herrschaft des Rechts Respekt entgegenbringt. Allein hier liegt
der Ausweg für China.
Entsprechend und in verantwortungsbewusstem, konstruktiven
Bürgergeist treten wir mit Blick auf das politische System
Chinas, die Rechte seiner Bürger und die Entwicklung der
Gesellschaft für die folgenden konkreten Positionen
ein:
1. Revision der Verfassung: Sie ist auf Basis der oben
dargelegten Wertvorstellungen zu ändern. Bestimmungen, die
dem Prinzip der Volkssouveränität nicht entsprechen,
sind zu streichen, so dass die Verfassung tatsächlich zu
einer Garantie-Urkunde der Menschenrechte und einer Lizenz zur
Ausübung öffentlicher Macht wird, zu einem
praktizierten höchsten Gesetz, gegen das kein Individuum,
keine Organisation und keine Partei handeln darf, damit sie zur
Basis legaler Rechte bei der Demokratisierung Chinas wird.
2. Gewaltenteilung und Macht-Balance: Aufbau einer modernen
Regierung [auf Grundlage] der Gewaltenteilung und Macht-Balance,
Garantie der Gewaltenteilung in Legislative, Judikative und
Exekutive; Sicherstellung einer rechtsstaatlichen Verwaltung und
verantwortlichen Regierung, Verhütung einer grenzenlosen
Ausdehnung der Verwaltungsmacht; die Regierung ist den
Steuerzahlern verantwortlich; zwischen Zentrale und Regionen ist
ein System der Gewaltenteilung und Machtbalance zu schaffen, die
Rechte der Zentrale sind auf Grundlage der Verfassung klar zu
begrenzen bzw. zu autorisieren, die Regionen verwalten sich
vollständig selbst.
3. Eine demokratische Legislative: Die gesetzgebenden
Körperschaften aller Ebenen entstehen aus direkten Wahlen,
die Gesetzgebung hält am Prinzip der Unparteilichkeit und
Gerechtigkeit fest, sie erfolgt demokratisch.
4. Unabhängigkeit der Judikative: Das Rechtswesen steht
über den Parteien und ist frei von jeglicher Einmischung,
die Judikative ist unabhängig, ihre Unparteilichkeit zu
garantieren; ein Verfassungsgericht ist zu schaffen sowie ein
System zur Prüfung von Verfassungsverstössen und zum
Schutz der Verfassungsautorität. Die Parteiausschüsse
für Politik und Recht [im Verborgenen wirkende
Parteigliederungen, die nach eigenem Ermessen auch der Justiz
Anweisungen geben, stehen über dem "geltenden Recht"] sind
alsbald und auf allen Ebenen zu beseitigen, weil sie in
schwerwiegender Weise die Herrschaft des Rechts schädigen;
das Verwenden öffentlicher Mittel für private Zwecke
ist zu unterlassen.
5. Öffentliches Eigentum gehört der
Öffentlichkeit: Die Streitkräfte sind zu
nationalisieren [sie unterstehen der Parteiführung], die
Soldaten haben der Verfassung und dem Staat loyal zu sein,
Parteiorganisationen haben die Armee zu verlassen, deren
professionelles Niveau ist zu erhöhen. Jegliche Mitarbeiter
des Öffentlichen Dienstes, auch die der Polizei, haben
politische Neutralität zu wahren. Die Partei-Bevorzugung bei
Einstellungen im Öffentlichen Dienst ist abzuschaffen,
Einstellungen erfolgen ohne Blick auf
Parteizugehörigkeit.
6. Sicherung der Menschenrechte: Die Menschenrechte sind wirksam
zu garantieren, die Würde der Menschen ist zu schützen.
Einrichtung eines Ausschusses für Menschenrechte, der der
höchsten Volksvertretung verantwortlich ist und verhindert,
dass die Regierung ihre Befugnisse dazu missbraucht, gegen
Menschenrechte zu verstossen; insbesondere muss er die
persönliche Freiheit der Bürger sicherstellen, niemand
darf ungesetzlich verhaftet, eingesperrt, vorgeladen,
verhört oder bestraft werden, das System der Erziehung durch
Arbeit [Arbeitslager] ist abzuschaffen.
7. Wahl der Beamten: Vollständige Einführung eines
demokratischen Wahlsystems, in dem ein gleichberechtigtes
Wahlrecht gilt: jedem Wähler eine Stimme. Die Direktwahl der
Verwaltungsleiter ist Schritt für Schritt auf allen Ebenen
systematisch umzusetzen. Periodische und freie Wahlkämpfe
und die Wahlteilnahme der Bürger sind ein unwiderrufliches
Grund-Menschenrecht der Bürger.
8. Städter und Landbewohner sind gleich: Abschaffung des
heute geltenden Systems der zwei Arten von Ausweisen [für
Land- bzw. Stadtbewohner; das System entrechtet zum Beispiel die
Bauernarbeiter ("Wanderarbeiter") in den Städten, für
die sie kein Aufenthaltsrecht besitzen], Verwirklichung des
verfassungsmässigen Rechts der ausnahmslosen
Gleichberechtigung der Bürger, Garantie der
Freizügigkeit
9. Organisationsfreiheit: Garantie des Rechts auf
Organisationsfreiheit der Bürger, Umwandlung des jetzigen
Genehmigungssystems bei der Bildung von Organisationen zugunsten
eines Systems der blossen Anmeldung und Registrierung. Aufhebung
des Parteienverbots, Verfassung und Gesetze normieren das Handeln
politischer Parteien, Abschaffung der Sonderrechte, die einer
einzigen Partei das politische Monopol gewähren, Schaffung
freier Betätigung politischer Parteien und fairen
[Parteien-]Wettbewerbs, Verrechtlichung und Normalisierung der
Parteienpolitik
10. Versammlungsfreiheit: Friedliche Versammlungen, Umzüge,
Demonstrationen und der freie Ausdruck sind ein
verfassungsmässiges Grundrecht, sie dürfen nicht die
Verfassung verletzenden und illegalen Eingriffen der herrschenden
Partei unterliegen.
11. Freiheit der Rede: Verwirklichung der Redefreiheit, der
Publikationsfreiheit und der akademischen Freiheit, Schutz des
Rechts der Bürger zu wissen [was die Verwaltungen tun,
Öffentlichkeit der Verwaltung] und ihres Rechts der
Überwachung [der Herrschenden]. Ausarbeitung eines
"Presserechts" und eines "Verlagsrechts", Abschaffung der
Zeitungsverbote, Beseitigung von Bestimmungen wie "Anstachelung
zum Umsturz der Staatsmacht" im jetzigen "Strafrecht"; es muss
ein Ende haben, dass Wörter Verbrechen sein
können.
12. Religionsfreiheit: Garantie der Religions- und
Glaubensfreiheit, Verwirklichung der Trennung von Politik und
Religion, keine Einmischung der Regierung in religiöse
Aktivitäten. Überprüfung und Abschaffung aller
administrativen Gesetze, Verordnungen und Vorschriften der
zentralen wie der lokalen Ebene, die den Bürgern die
Religionsfreiheit nehmen oder diese begrenzen. Verbot der Praxis,
religiöse Aktivitäten mit Hilfe administrativen Rechts
zu überwachen. Abschaffung des Systems, wonach
religiöse Gruppen (incl. Orte religiöser Handlungen)
gezwungen werden, Anträge zu stellen und sich ihre
Legalität so vorab genehmigen zu lassen. Dies ist durch ein
System der bloßen Registrierung zu ersetzen, das mit
keinerlei Überprüfung verbunden ist.
13. Ein Bildungssystem für Bürger: Beseitigung der
durch und durch ideologischen politischen Erziehung und
Polit-Prüfungen, die der Ein-Partei-Herrschaft dienen,
Verbreitung einer Bürger-Erziehung, die die universellen
Werte und die Bürgerrechte zum Kerninhalt hat, Schaffung von
Bürgerbewusstsein, Förderung einer bürgerlichen
Tugend des Dienstes an der Gesellschaft.
14. Schutz des Eigentums: Etablierung des Rechts auf
Privateigentum und Schutz dieses Rechts, Einrichtung eines
Systems der freien und offenen Marktwirtschaft, Schutz der
Freiheit von Pionier-Unternehmen [neuer, junger Firmen],
Beseitigung des Verwaltungsmonopols; Einrichtung eines der
obersten Volksvertretung verantwortlichen Ausschusses für
das Staatseigentum und die Staatsressourcen [Land und
Bodenschätze sind Staatseigentum], rechtskonforme und
geordnete Reform des Eigentumsrechts, Klärung der
Eigentumsverhältnisse und -verantwortlichkeiten; Initiierung
einer neuen Boden-Bewegung [1950: Bodenreform, Bauern erhalten
Land als Eigentum, wenige Jahre später: "Kollektivierung",
heute ist alles Land staatlich, Bauern sind nur Pächter],
Privatisierung des Grund und Bodens, Garantie von Boden-
Eigentumsrechten der Bürger, insbesondere der Bauern.
15. Finanz- und Steuerreform: Schaffung einer demokratischen
Finanzverwaltung, Schutz der Rechte der Steuerzahler. Es ist ein
Rahmen für die öffentlichen Finanzen und den Umgang mit
ihnen zu schaffen, der Rechte und Pflichten klar regelt, sowie -
mit Blick auf die Lokalregierungen aller Ebenen - ein rationales
und effizientes System, das ihnen Rechte verschafft. Das
Steuersystem ist umfassend zu reformieren, mit dem Ziel, die
Steuerrate zu senken, das System zu vereinfachen und die
Steuerlast gerecht zu machen. Es darf nicht geschehen, dass
Verwaltungsabteilungen, ohne öffentlichen
Entscheidungsprozess oder Beschluss der Vertretungsorgane, nach
eigenem Gutdünken Steuern erhöhen oder neue erheben.
Mit Hilfe einer Reform des Eigentums[systems] müssen
vielfältige Marktteilnehmer [eine Chance erhalten] am
Wettbewerb teilzunehmen, die Schwelle finanzieller
Voraussetzungen dafür ist zu senken. Es sind Bedingungen
für die Entwicklung eines nicht-staatlichen Finanzsystems zu
schaffen, um das Finanzsystem zu vitalisieren.
16. Soziale Sicherung: Ein soziales Sicherungssystem ist
aufzubauen, das alle Chinesen einschließt, die
Bevölkerung muss eine Grundsicherung für Ausbildung,
Krankheit, Alter und Arbeit erhalten.
17. Schutz der Umwelt: Das Ökosystem ist zu schützen,
alle Entwicklung muss nachhaltig sein und sich vor den folgenden
Generationen sowie der Menschheit insgesamt verantworten
können. Beamte der Zentral wie auch der Lokalebenen sind
dafür verantwortlich zu machen,
Nicht-Regierungsorganisationen müssen im Bereich des
Umweltschutzes ihre Rolle als Beteiligte und Kontrolleure
entfalten können.
18. Bundesrepublik: [Wir wollen] ein grosses Land schaffen, das
verantwortlich ist und an der Wahrung einer friedlichen
Entwicklung der Region in gleichberechtigter und fairer Weise
teilnimmt. Das freie System Hongkongs und Macaos ist zu
verteidigen. Unter der Vorbedingung einer freien Demokratie [in
China] ist in gleichberechtigten Verhandlungen und interaktiver
Kooperation eine friedliche Lösung in der Taiwan-Strasse [im
Verhältnis zu Taiwan] zu suchen. Es muss mit grosser
Weisheit und Intelligenz ein Weg und ein praktikables System
gefunden werden, die den Nationalitäten [in China] ein
gemeinsames Aufblühen ermöglichen. Im Rahmen einer
demokratischen und verfassten [Gesellschaft] sollte eine
Bundesrepublik China gegründet werden.
19. Rehabilitation der Ungerechtigkeiten: Jene Personen und ihre
Familienangehörigen, die in den politischen Bewegungen der
Vergangenheit politische Verfolgung erlitten haben, müssen
ihre Ehre zurückerhalten und vom Staat entschädigt
werden; alle politischen und Gewissens-Gefangenen sind ebenso
frei zu lassen wie alle, die wegen ihres Glaubens bestraft worden
sind; es ist ein Komitee zur Untersuchung der Fakten zu
gründen, das die tatsächlichen Umstände
historischer Ereignisse untersucht, die Verantwortung klärt
und Gerechtigkeit etabliert; auf dieser Basis ist eine
Aussöhnung in der Gesellschaft zu finden.
Als eines der grossen Länder der Erde, als eines der
fünf Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinen Nationen,
als Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte, muss China
eigene Beiträge für die friedliche Sache der Menschheit
und Fortschritte bei den Menschenrechten leisten. Es ist
bedauerlich, dass allein China unter den Grossmächten der
heutigen Welt sich noch im Zustand eines autoritären
politischen Systems findet und aus diesem Grund fortwährend
Menschenrechts-Katastrophen und soziale Krisen produziert, die
Entwicklung der Nation aus eigener Kraft fesselt und den
zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit einschränkt.
Dieser Zustand muss geändert werden! Die
Überführung der politischen Herrschaft in eine
Demokratie erlaubt keinen weiteren Aufschub mehr.
Übersetzung aus dem Chinesischen: Prof. Dr. Jörg-M. Rudolph, Ostasieninstitut, Fachhochschule Ludwigshafen, zu finden auf: www.oai.de/de/publikationen/oai-blog/42-kaleidoskop/155-liu-xiaobo-erhaelt-den-friedensnobelpreis.html
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/2c-stampa/2010/101208de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2010/101008de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2010/100930de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2010/100722de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2010/100720de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2010/100118de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2010/100129de.html
| www.gfbv.it/3dossier/asia/tibet-ud.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/tibet.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/china.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/china1.html
in www: http://de.wikipedia.org/wiki/Falun_Gong
| http://de.wikipedia.org/wiki/Xinjiang
| www.tchrd.org | www.hrichina.org