Ulrich Delius
"Vor zehn Jahren gab es hier nur wenige Chinesen" erzählt
ein Ladenbesitzer in Kashgar, der größten Stadt im
Westen der Autonomen Region Xinjiang. Heute sind Angehörige
der chinesischen Mehrheitsbevölkerung der Han kaum mehr
wegzudenken aus dem Straßenbild der größten
Stadt im Westen Ostturkestans, wie die seit Jahrhunderten hier
lebenden Uiguren Xinjiang bezeichnen. Zwar waren 1998 offiziell
noch immer 81 Prozent der 300.000 Einwohner-Stadt Uiguren, doch
auch hier wird die Zahl der Han-Chinesen in den nächsten
Jahren stark zunehmen. In der Provinzhauptstadt Urumtschi und
anderen weiter östlich gelegenen Städten Ostturkestans
sind heute bereits mehr als 75 Prozent Han-Chinesen. In der 1958
von Mao Tsetung gegründeten Stadt Shihezi stellen die Han
sogar 95 Prozent der Einwohner. Jedes Jahr treffen in der 600.000
Einwohner-Stadt durchschnittlich 10.000 neue Siedler ein. Im Jahr
1997 wurden alleine in Shihezi 70.000 neue Migranten registriert.
In Shihezi ist die Zentrale der paramilitärischen
staatlichen Produktions- und Baugesellschaft Xinjiang (Xinjiang
Production and Construction Corporation) ansässig, die mit
der Hilfe ehemaliger Soldaten systematisch die Ansiedlung
hunderttausender Han-Chinesen betreibt. Die
Produktionsgesellschaft unterhält Dutzende Großfarmen
und Industriebetriebe in der gesamten Region. Dank der mit vielen
Vergünstigungen staatlich geförderten Migration von Han
aus dem Osten Chinas, beherrscht die chinesische
Mehrheitsbevölkerung inzwischen in den meisten Städten
Ostturkestans den Handel und das öffentliche Leben.
Eine vergleichbare Umwälzung der Bevölkerungsstruktur
erlebte auch Tibet in den letzten Jahren. Millionen chinesische
Siedler strömten nach Tibet, so dass die tibetische
Hauptstadt Lhasa heute schon sehr chinesisch geprägt ist.
Eine neue Welle von Migranten wird von Tibetern befürchtet,
wenn im Jahr 2007 die Eisenbahnlinie von Golmud nach Lhasa fertig
gestellt wird. Schon heute ähneln die Städte
Ostturkestans und Tibets mit ihren breiten Straßen und
modernen Häuserblocks architektonisch immer mehr
chinesischen Städten und verlieren ihren besonderen
kulturellen Charakter. Ihr architektonischer Niedergang ist
symptomatisch für die wachsende Bedrohung der traditionellen
Kultur ihrer einheimischen Völker.
Gefördert wird die Ansiedlung von Han-Chinesen in
Ostturkestan durch große Infrastrukturprojekte wie den Bau
von Eisenbahnen und Straßen. Als 1992 eine Eisenbahnlinie
nach Kasachstan gebaut wurde, nutzten Han-Migranten die neue
Verbindung, um sich entlang der Strecke anzusiedeln. Bis 1999 die
Eisenbahnlinie von Kashgar in die 1.500 Kilometer östlich
gelegene Provinzhauptstadt Urumtschi eröffnet wurde, lebte
in Kashgar vor allem die lokale muslimische Bevölkerung. Nun
treffen zweimal am Tag hunderte Han-Chinesen mit dem Zug oder mit
den zwanzig täglichen Flügen aus Urumtschi ein.
1949 war nur einer von fünfzehn Bewohnern Xinjiangs
Han-Chinese. Rund fünf Millionen Uiguren standen damals nur
300.000 Han gegenüber. Heute ist mindestens jeder Dritte ein
Han. Die chinesischen Behörden verschleiern das
tatsächliche Ausmaß der Ansiedlung von Migranten. So
behaupteten sie bis vor wenigen Jahren, nur sechs Millionen Han
hätten sich in Xinjiang niedergelassen. Eine
Volkszählung ergab im Jahr 2000, dass bereits 7,5 Millionen
Han in Ostturkestan lebten. Ihnen standen 19,25 Millionen Uiguren
gegenüber. Doch tatsächlich leben viel mehr Chinesen in
Ostturkestan. Denn in der Volkszählung wurden Soldaten,
Polizisten, chinesische Berater und Helfer sowie Mitarbeiter der
Produktions- und Baugesellschaft Xinjiang nicht erfasst.
Goldgräberstimmung herrscht unter vielen chinesischen
Neusiedlern. Angelockt von dem 1999 von Staatspräsident
Jiang Zemin verkündeten "Großen Entwicklungsplan
für den Westen", der massive Investitionen in Tibet,
Xinjiang und anderen westlichen Provinzen vorsieht, hoffen sie
auf Arbeit. Die chinesische Führung betreibt die
Erschließung des Westens nicht nur aus militärischen
Gründen, um die Grenzen zu den Nachbarstaaten zu sichern und
um eine Abspaltung Tibets oder Ostturkestans zu verhindern,
sondern auch, um sich Rohstoffe zu sichern. Denn die
prosperierende Wirtschaft in den industriellen Zentren an der
Ostküste verlangt immer mehr Rohstoffe. Unter dem Deckmantel
der "wirtschaftlichen Erschließung benachteiligter
Regionen" wird die Ausplünderung Xinjiangs und Tibets
vorangetrieben. Schon heute ist Xinjiang bedeutendster
Erdgaslieferant der Ostküste. Auch werden immer mehr
Ölfelder im Tarim-Becken in Ostturkestan erschlossen. Tibet
liefert Holz, Wasser, Gold, Kupfer, Bauxit und Kohle. Für
die ansässige heimische Bevölkerung bringt die
Rohstofferschließung keine wirtschaftlichen Perspektiven.
Denn chinesische Arbeitgeber bevorzugen Han-Chinesen. Tibeter,
Uiguren, Kasachen und andere ethnische "Minderheiten" werden
benachteiligt.
Zwischen den Uiguren und den zugewanderten Siedlern gibt es kaum
Kontakt. Han-Chinesen und Uiguren leben in unterschiedlichen
Stadtvierteln. Mischehen gibt es nur selten. Die Uiguren und
andere in Ostturkestan lebende ethnische Minderheiten empfinden
die chinesischen Siedler als illegale Einwanderer, die die
Bevölkerungsstruktur im Sinne der chinesischen Führung
verändern sollen. Nur wenige Han beherrschen die uigurische
Sprache oder bemühen sich zumindest, sie zu lernen. Die
Uiguren sollen nach dem Willen der Behörden und der
Mehrheitsbevölkerung Chinesisch und nicht Uigurisch lernen.
Das auf der Förderung von Minderheiten-Sprachen aufbauende
Erziehungssystem wurde seit 1997 systematisch ausgehöhlt. So
sieht eine im April 2004 vom Parteikomitee der Kommunistischen
Partei Xinjiangs verabschiedete Erziehungsrichtlinie die
schrittweise Abschaffung der "Minderheiten-Schulen" vor. Neben
den Schulen, die auch von muslimischen Hui besucht werden, gab es
bislang in allen drei Schulstufen (Grundschule, Mittelschule,
Obere Mittelschule) separate Schulen für Uiguren und andere
in Xinjiang lebende "Minderheiten (Kasachen, Mongolen, Kirgisen,
Pamir-Tadschiken), in denen die Minderheiten-Sprache als
Unterrichtssprache eingesetzt wurde.
Wurde in den letzten Jahren bereits ab der 3. Klasse in diesen
Minderheiten-Schulen in Chinesisch unterrichtet, so sollen sie
nun ganz zugunsten des Chinesischen abgeschafft werden. Die
Minderheiten-Schulen sollen aufgelöst und den chinesischen
Schulen angeschlossen werden. Tausende uigurische Lehrer werden
mangels ausreichender Chinesisch-Kenntnisse ihre Arbeit
verlieren, da sie nicht an chinesischen Schulen unterrichten
können. Im Zuge der Assimilation waren die
Schülerzahlen an den Minderheiten-Schulen in den letzten
Jahren bereits zurückgegangen. Immer häufiger melden
uigurische Eltern ihre Kinder an chinesischen Schulen an, um
ihnen ein gutes berufliches Fortkommen zu ermöglichen. Denn
die chinesische Führung macht mit ihrer Politik der
Assimilation deutlich, dass in der Volksrepublik nur beruflich
Karriere machen kann, wer Chinesisch spricht und sich dem
Wertesystem der Kommunistischen Partei Chinas unterwirft.
Minderheiten-Kultur hat darin allenfalls einen folkloristischen
Stellenwert.
Die 56 offiziell registrierten "ethnischen Minderheiten" Chinas,
die acht Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, weisen die
höchsten Zahlen von Analphabeten auf. So können in der
Autonomen Region Tibet 36 Prozent nicht lesen oder schreiben, in
den angrenzenden alten tibetischen Provinzen sind es immerhin
noch zwischen 17 und 24 Prozent der Bevölkerung,
während insgesamt in den ländlichen Regionen Chinas
durchschnittlich nur 8 Prozent Analphabeten sind.
Die UN-Sonderberichterstatterin für Bildung, Katarina
Tomasevski, zog nach einem Besuch in Tibet im Jahr 2004 eine
katastrophale Bilanz und forderte dringend Maßnahmen zum
Schutz der tibetischen Sprache und Kultur sowie anderer
Minderheiten-Sprachen. Von 120 Minderheiten-Sprachen seien
fünfzig Prozent bedroht, erklärte Tomasevski. Wenn
China die Assimilationspolitik nicht aufgibt, wird der Untergang
der Kultur und damit auch der Identität der ethnischen
Minderheiten in der Volksrepublik kaum aufzuhalten sein.
Aus pogrom-bedrohte Völker 231 (3/2005)