Bozen, Göttingen, 3. Dezember 2003
Inhalt |
Von Tilman Zülch, Johannes Vollmer .:: oben ::.
Der Eiserne Vorhang schmilzt, Völker melden sich zu Wort,
die fast ein Menschenalter lang dem "europäischen"
Bewußtsein nicht mehr gegenwärtig waren. Die
Völker und Volksgruppen der 1939/40 von Stalin okkupierten
Territorien zwischen Ostsee und Schwarzem Meer erheben ein halbes
Jahrhundert nach dem brutalen Einfall der beiden Diktaturen
wieder ihre Stimme - zum Erstaunen, aber auch zum Befremden der
westlichen Welt. Reval/Taliinn, Riga und Wilna, Lemberg/Lwiw,
Czernowitz und Kichinew kehren nach Europa zurück, werden zu
Schauplätzen von Demonstrationen, Kundgebungen,
Veränderungen. Einst gleichgeschaltete sowjetische
"Republiken" erscheinen wieder als eigenständige
europäische Nationen. Sprachen, jahrzehntelang
unterdrückt oder beinahe ausgelöscht, erkämpfen
sich wieder ihren alten Platz, werden wieder zu Amtssprachen wie
das Estnische, Lettische, Litauische oder das Rumänische in
der Sowjetrepublik Moldawien. Aus der ohnmächtigen
Dissidentenbewegung wurden repräsentative Volksfronten,
nationale und demokratische Traditionen, Parteien und
Organisationen leben wieder auf.
Fragen der ökonomischen Neuordnung, des ökologischen
Überlebens, der kulturellen Renaissance und der Menschen-
und Bürgerrechte bestimmen den Neuaufbruch dieser
Völker. Sie wurden erst durch das verbrecherische
Einverständnis zweier Diktaturen Teile der Sowjetunion,
blieben es, weil die UdSSR bis heute die Annektionen, die durch
den Vertrag mit Hitler möglich wurden, nicht
rückgängig gemacht hat. Ein Großteil der
historischen Verantwortung für die heutigen Konflikte liegt
zuletzt bei einem Mann, der erst seit kurzem in diesen Regionen
als Massenmörder und Diktator verurteilt werden kann, bei
Stalin.
All die Völker, von denen in diesem Buch die Rede sein wird,
sind Opfer des Hitler-Stalin-Paktes, jener Machtaufteilung zweier
Diktatoren, die Millionen Menschen das Leben kostete und vielen
Völkern das Selbstbestimmungsrecht raubte. Von ihnen, den
Nationen, Nationalitäten und Minderheiten, den
Finnokareliern, Esten, Letten, Litauern, Deutschen, Juden, Polen,
Ukrainern, Weißrussen, Ungarn, Rumänen, Gagausen und
Bulgaren, die die von Stalin annektierten Länder und
Provinzen in Ostfinnland, Estland, Lettland, Litauen, Ostpolen,
Bessarabien und der Nordbukowina, aber auch die erst nach 1945
annektierten Regionen Nordostpreußen und der
Karpato-Ukraine bewohnten oder bis heute bewohnen, handelt dieses
Buch.
Man erinnere sich: Das nationalsozialistische Deutschland
erklärte im Sommer 1939, daß "keine
außenpolitischen Gegensätzlichkeiten von der Ostsee
bis zum Schwarzen Meer" zwischen Deutschland und der Sowjetunion
mehr bestünden. Wie Hitler das sowjetische Stillhalten
brauchte, um Polen zu überfallen, war Stalins Drang, sein
Imperium nach Westen auszudehnen, von Hitlers Zustimmung
abhängig. Diesen Lohn Moskaus schrieben die
Außenminister Hitlers und Stalins im Geheimen
Zusatzprotokoll des Pakts fest.
Der Pakt mit Stalin erleichterte oder ermöglichte es Hitler,
Polen zu überfallen und zu zerschlagen. .Der Osten Polens
wurde absprachegemäß der Roten Armee überlassen.
Der NS-Staat begann mit Rückendeckung Stalins die
Vernichtung des jüdischen Volkes in Polen. Kaum eine andere
jüdische Minderheit Europas wurde so weitgehend ausgerottet
wie die Polens. In diesem Lande wurden Vernichtungslager
aufgebaut und Millionen Juden aus vielen Teilen Europas
ermordet.
Gegenüber der polnischen Bevölkerung unterschied sich
die Politik der beiden Diktatoren kaum: Hunderttausende Polen
wurden vertrieben, deportiert, in Lager verschleppt, starben als
Arbeitssklaven oder wurden erschossen. Beiden Diktatoren war die
Gegnerschaft gegen den polnischen Staat als Ergebnis des
Versailler Vertrags gemeinsam. Hitlers Haß auf das
"Versailler System" fand sein Äquivalent in der
stalinistischen Außenpolitik. Hitlers in Polen vollendete
Zerschlagung der begründeten europäischen
Nachkriegsordnung fand ihre Mittäter und
Erfüllungsgehilfen in Stalin und Molotow. Polen war für
Molotow nur ein "häßlicher Sproß des Versailler
Vertrags", von dem nach einem "einzigen raschen Schlag (...) erst
seitens der deutschen und dann seitens der Roten Armee (...)
nichts übrig" (31.10.1939) blieb. Der deutsche Überfall
auf Polen am 1. September 1939 und der sowjetische am 17.
September läuteten den Beginn der Zerschlagung der kleinen
Staaten des "Cordon Sanitaire" zwischen Deutschland und der
Sowjetunion ein und machte die beiden imperialen Mächte zu
Nachbarn.
Dem sowjetischen Einmarsch in Ostpolen folgten der Überfall
auf Finnland und die Besetzung des Baltikums (Sommer 1940), der
bis dahin rumänischen Nordbukowina und Bessarabiens. Bis
heute fallen auch die sowjetischen Standpunkte in der Bewertung
dieses "Teufelspaktes" weit auseinander. Während Gorbatschow
den Hitler-Stalin-Pakt im Juli 1988 als "unausweichlich"
rechtfertigte und die Annektion des Baltikums in die UdSSR noch
im September 1989 als freiwillige Eintritt in die Sowjetunion
bezeichnete, weisen die sowjetischen Historiker Juri Afanassjew
und Wjatscheslaw Daschitschew vorbehaltlos auf den
verbrecherischen Charakter des Paktes hin. Stalin, der laut
"Moskowskije Nowosti" in den Jahren vor Paktabschluß noch
120.000 Offiziere der Roten Armee liquidieren ließ, habe,
so Daschitschew, mit "seiner grenzenlosen Arglist und Grausamkeit
(...), seiner Unmenschlichkeit und seiner Amoralität" jede
Opferzahl in Kauf genommen. "Stalin interessierte es nicht, ob es
20, 30 oder 50 Millionen Tote waren."
Ob im Baltikum, der Ukraine oder in Polen, nun werden diese
unfaßbaren Verbrechen schonungslos enthüllt. Doch
lange genug hatte man nicht nur deren Leugnung und Tabuisierung
zusehen, sondern auch hinnehmen müssen, daß die
neostalinistischen Regierungen Osteuropas die Verantwortung auch
für viele dieser Massenvernichtungen dem
nationalsozialistischen Regime Hitlers zuschoben. Die
Gleichsetzung von Hitler und Stalin im Sinne einer gleichen
Verurteilung gleichartiger Verbrechen wird von vielen, die ihren
Ort als politisch "links" bestimmen würden, noch immer nicht
hingenommen. Das zeigen neuere Beispiele "linker" Publizistik wie
bei "Spiegel"-Herausgeber Augstein, dessen Behauptung, Stalin
habe "vernünftiger als das Monstrum Hitler" gehandelt, eine
Verhöhnung der Opfer des Hitler-Stalin-Pakts darstellt.
Derartige Kommentare sind Entlastungsversuche, die in ihrer
Machart an vertraute deutsche Rechtfertigungsformeln in bezug auf
den Nationalsozialismus erinnern.
Kein noch so tiefschürfender Essay, der grundsätzlich
ideologische und soziologische Unterschiede zwischen
Nationalsozialismus und stalinistischem Kommunismus
herausarbeitet, kann die absolute Parallelität der Methoden
beider Diktaturen leugnen. Begibt sich nicht derjenige, der
Industrialisierung und Elektrifizierung anstelle der Vernichtung
von 50 Millionen Menschen als wesentliches Ergebnis der
Stalinsehen Diktatur betrachtet, in die Gemeinschaft jener, die,
statt Auschwitz zu beklagen, Autobahnen als zentrales Verdienst
des Hitlerregimes feiern?
Die Massenvernichtungen der SS in Auschwitz sind nicht deshalb
weniger verbrecherisch, weil auch im sibirischen Kolyma drei
Millionen Arbeitssklaven unter Aufsicht der Sicherheitstruppen
des NKWD den Tod fanden, Hitlers Holocaust an den Juden ist nicht
weniger furchtbar, weil in der Sowjetunion 14 Millionen Ukrainer
durch Massenerschießungen von "Kulaken", Kollektivierung
und planmäßig durchgeführten Hungermord
umgebracht wurden. Für das individuelle Opfer, für den
Juden in Auschwitz wie für den nach Kolyma deportierten
Polen, Ukrainer oder Balten, wäre das Problem der
Singularität des einen oder anderen Genocid ohnehin nur eine
akademische Frage zu spät Geborener. Die Austauschbarkeit
des Grauens in den deutschen wie in den sowjetischen
Konzentrationslagern nach dem Angriff auf die UdSSR macht der
polnisch-jüdische Journalist Gustav Herling
verständlich: "Ich denke voll Grauen und Scham an das durch
den Bug geteilte Europa; diesseits beteten Millionen sowjetischer
Sklaven für ihre Befreiung durch die Hitler-Armeen und
jenseits lebten Millionen in deutschen Konzentrationslagern,
deren letzte Hoffnung die Rote Armee war."
Angesichts dieser Abermillionen durch den Stalinismus Ermordeten
erscheint es im fünften Jahr der Regierung Gorbatschow kaum
noch nachvollziehbar, wie unangefochten Breschnew, Stalins
letzter Erbe, agieren konnte. So fiel es denn auch den
Westeuropäern schwer, die Forderungen von Balten, Ukrainern
oder Weißrussen ernst zu nehmen, die von angeblich
"Ewig-Gestrigen" und alten Exilanten in den westlichen
Ländern vertreten wurden. Man nahm die osteuropäischen
Dissidenten nicht ernst, wenn sie auf nationale Rechte pochten.
Man hatte sich an das Blockdenken gewöhnt, hatte die Teilung
Europas verinnerlicht, die Funktionäre des Neostalinismus
als notwendige Partner akzeptiert.
Baltische, weißrussische oder ukrainische
Exilvereinigungen, Parteien und Landsmannschaften wurden nicht
selten belächelt, ihre Zeitschriften fanden über einen
kleinen Kreis von Sympathisanten hinaus kaum Widerhall. Treffen
und Kongresse von Exilgruppen der zweiten oder dritten Generation
wurden von vielen als überlebte Heimattümelei
abqualifiziert. Die meisten Parteien des Westens mieden in der
Regel die Kontakte mit den letzten immer greiser werdenden
Repräsentanten der 1940 von Stalin beseitigten baltischen
Regierungen wie mit den Exilbewegungen überhaupt. Einerseits
Kalter Krieg und strikter Antikommunismus, andererseits
Arrangement mit den Erben Stalins - das waren die Gleise, in
denen die offizielle Politik des Westens zu fahren pflegte. Die
Dissidenten wurden der Fürsorge von Menschenrechtsgruppen
überlassen oder bestenfalls mit hochdotierten
Literaturpreisen bedacht, und die realsozialistischen
Verhältnisse, zustandegekommen durch Angriffskrieg,
genocidartige Verbrechen und permanente Unterdrückung,
wurden zur politischen Normalität erklärt.
Nun muß Westeuropa, und nicht zuletzt die
westeuropäische Linke, umdenken. Die verfolgten Dissidenten
von gestern wurden zu gefeierten Repräsentanten des Wandels
in ihrer Heimat, der demokratischen Erneuerung. Die Volksfronten
stehen für kulturelles Selbstbewußtsein,
ökologische Kritik und für das Selbstbestimmungsrecht
der Völker, die freie religiöse Betätigung, die
Aufarbeitung und Bewältigung der stalinistischen
Vergangenheit gegen Orthodoxie, Stagnation und Machterhaltung um
jeden Preis für eine Funktionärskaste, die nicht
zuletzt auch Verantwortung trägt für Genocid und
chauvinistische Niederhaltung der nichtrussischen
Nationalitäten.
Das nationale Anliegen dieser Völker nicht zu verstehen, ist
"ein Problem des Westens", wie der litauische Schriftsteller
Sigitas Geda sagt, der immer wieder auf die
Mißverständnisse zwischen den
ostmitteleuropäischen Völkern und dem Westen hinweist.
Im Westen werden das Wiederaufleben nationalen
Selbstbewußtseins und das Tempo der Erneuerungen oft mit
Mißtrauen und einer beinahe Metternichschen Sorge um die
Stabilität der durch den Hitler-Stalin-Pakt, Jalta und
Potsdam festgelegten europäischen Teilungslinien angesehen.
Denn die seit zwei Jahrzehnten geübte berechenbare
Entspannungsdiplomatie wie die Politik der konventionellen und
atomaren Abschreckung könnten ja durch die
Veränderungen in Osteuropa überholt oder in Frage
gestellt werden.
Dabei wird übersehen, daß ganz wesentliche Impulse zur
Perestrojka heute nicht mehr von Moskau, sondern von den
Volksfront- und Memorialbewegungen, also von "unten" kommen,
daß also ein Scheitern, ein Abdrängen und
Kriminalisieren dieser Bewegungen auch ein Ende des Miteinanders
zwischen ihnen und den Reformkräften der KP, der Moskauer
Zentrale und der Perestrojka überhaupt bedeuten könnte.
Seitdem die Reformbewegung auch auf die mit 50 Millionen
Einwohnern zweitgrößte Unionsrepublik, die Ukraine,
übergegriffen hat, nach dem Sturz von Breschnews Statthalter
Schtscherbitskij, fühlt sich die versteinerte Nomenklatura
in ihren Grundfesten erschüttert. Die Volksfronten der von
Stalin versklavten Völker sind von Zusammenschlüssen
der Intelligenzija für mehr Demokratie und Offenheit zu
echten Volksbewegungen geworden, weil sie ihren Kampf auf die
Wurzel dessen richten, was Stalin unterdrückt und verfolgt
hatte: die Freiheit des Wortes, nicht bloß als Freiheit der
Meinung, sondern auch der eigenen Sprache, Kultur und Geschichte
dieser europäischen Völker.
Die Zukunft wird zeigen, ob diese Bewegungen ihren befreienden
Charakter durch ein tolerantes Miteinander der verschiedenen
Völker bewahren oder ob Nationalitätenkonflikte wie
etwa in Aserbaidschan, wo offene und blutige Pogrome gegen die
Armenier festzustellen sind, das Bild bestimmen werden.
Von Josef Darski .:: oben ::.
Das erste Opfer der geheimen Abmachungen zwischen Hitler und
Stalin war Polen. Die polnisch-sowjetische Grenze, die am Ende
des polnisch-sowjetischen Krieges geschaffen und im Frieden von
Riga (18.3.1921) bestätigt wurde, verlief 200 bis 300 km
östlich der Curzon-Linie: Vorwiegend weißrussisch und
ukrainisch besiedelte Gebiete fielen an Polen. Nach dem deutschen
Überfall auf Polen am 1.9.1939 marschierte die Rote Armee am
17.9. in Ostpolen ein unter dem Vorwand des Schutzes der
weißrussischen und ukrainischen Bevölkerung, die der
weißrussischen und ukrainischen Sowjetrepublik
angeschlossen wird. Die folgenden Beiträge schildern das
Schicksal der Polen, Weißrussen und Ukrainer unter Stalin
und Hitler, aber auch in der Zwischenkriegszeit.
Westlich der in Riga am 18.3.1921 festgelegten Grenze, in den
damaligen Ostgebieten Polens, die aufgrund des
Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion besetzt wurden, lebten
etwa 5 Millionen Polen (37 % der Bevölkerung). Für die
nationalen Minderheiten Polens, besonders Ukrainer und
Weißrussen, waren die nationalen Rechte eingeschränkt;
ihre politischen Organisationen richteten sich daher häufig
gegen den polnischen Staat. Auf ärmere Weißrussen und
Juden hatten prokommunistische Gruppen Einfluß; unter den
Ukrainern dagegen waren, besonders nach der Kollektivierung in
der Sowjetunion, national-demokratische und nationalistische
Organisationen sehr stark.
Nach dem Ausbruch des Krieges gaben die Ukrainer im polnischen
Sejm eine Loyalitätserklärung gegenüber dem
polnischen Staat ab. Obgleich die Rote Armee, die am 17.
September 1939 in Ostpolen einmarschierte, besonders die
nichtpolnischen Soldaten zum Mord an ihren Offizieren und
Staatsbeamten aufrief, erfüllten ukrainische und
weißrussische Soldaten und Offiziere in der polnischen
Armee ihre Pflicht. Die "Organisation Ukrainischer Nationalisten"
(OUN) widerrief den geplanten Aufstand gegen Polen in der
Westukraine. Trotzdem kam es zu einzelnen Kämpfen zwischen
polnischen und ukrainischen Truppen. In Lemberg/Lwow ;und
Chodorow kämpfte die OUN gegen die Rote Armee. Rechtlich
trat Polen nicht in den Krieg gegen die Sowjetunion ein; der
polnische Oberbefehlshaber befahl den Truppen, Kämpfe gegen
die Bolschewiki zu vermeiden und nach Ungarn und Rumänien zu
entweichen.
Die polnische Regierung und der Generalstab überschritten am
17./18. September die rumänische Grenze; dadurch konnte sich
die polnische Exilregierung bilden. Der polnischen Armee blieb
der Rückzug nach Süden aber großenteils durch die
Sowjets versperrt - nur 85.000 Soldaten gelangten nach Ungarn und
Rumänien, 20.000 wurden getötet und verletzt. Polnische
Truppen wurden entwaffnet, die Offiziere oft sofort erschossen.
Von den von der Roten Armee gefangengenommenen 250.000 Soldaten
wurden 46.000 freigelassen, 10.000 in deutsche Hände
übergeben. 14.380 Offiziere und mindestens 157.000 Soldaten
und Unteroffiziere wurden ermordet. Militärs und
Staatsbeamte polnischer Nationalität wurden während
ihres Rückzugs nach Süden häufig durch die
nichtpolnische Bevölkerung angegriffen und getötet.
Aber auch Juden waren in Gefahr.
Juden, Weißrussen und Ukrainer begrüßten die
neuen Herrscher, doch war das oft nicht die spontane Aktion der
Bevölkerung, sondern der lokalen kommunistischen Gruppen
oder der sowjetischen Armee. Noch im Oktober 1939 organisierten
die neuen Herrscher sogenannte Wahlen für die
Nationalversammlung der Westukraine und des westlichen
Weißrußland, um die eroberten Gebiete zu annektieren.
Alle Einwohner, die am 1. November 1939 ständig in diesem
Territorium wohnten, mußten die sowjetische
Staatsangehörigkeit annehmen.
Die "Sowjetisierung" begann mit dem Aufruf zum Mord an den
"Klassenfeinden" und zum Plündern der "Ausbeuter". Der
größte Räuber war aber der kommunistische Staat
selbst: Man requirierte und verschleppte alle Waren nach Osten,
derer man habhaft werden konnte. Durch die Währungsreform
konnten die Sowjets spottbillig einkaufen. Alle bisherigen
Organisationen wurden aufgelöst und durch kommunistische
Massenorganisationen ersetzt. Die politisch bewußten,
aktiven und gebildeten Elemente der Gesellschaff waren mit
Deportation in den Gulag oder mit Strafumsiedlung bedroht.
Man schätzt, daß ungefähr 1,7 Millionen ehemalige
polnische Bürger deportiert wurden, von denen 50-60 Prozent
Polen, 15 Prozent Ukrainer, 5 Prozent Weißrussen und
ungefähr 30 Prozent Juden waren. Außerdem wurden
336.000 Flüchtlinge aus Westpolen deportiert. Im allgemeinen
kamen die Männer in den Gulag, Frauen und Kinder in die
Strafumsiedlung nach Sibirien, Zentralasien, Nordrußland
und in den Kaukasus. Bis Oktober 1942 starben 420.000 deportierte
polnische Bürger aller Nationalitäten. Nach der
Amnestie vom August 1941 starben weitere 93.000 freigelassene
Polen. 10.000 Soldaten waren schon 1941/42 in den
Militärlagern in der UdSSR gestorben.
Es ist unmöglich, die Zahl der Opfer aller
Nationalitäten von 1939-1945 festzustellen. In den
Ostgebieten konnte jeder verhaftet werden. Die Okkupanten haben
250.000 Polen verhaftet, von denen 50.000 in den
Gefängnissen während des Rückzugs im Juni/Juli
1941 ermordet wurden. Die Zahl der Opfer anderer
Nationalitäten ist unbekannt. So wurde im Juni 1941 der
Einmarsch der Hitler-Wehrmacht von der nicht-polnischen
Bevölkerung als Befreiung und von den Polen als
Erleichterung begrüßt. Während der deutschen
Okkupation waren die Ostgebiete ein Ort der Anarchie und des
gegenseitigen Blutbads. Im Wilna-Gebiet kämpften die
polnische Heimat-Armee (AK) und das litauische Hilfskorps des
General Plechavicius zusammen, die schließlich vom
deutschen Oberkommando entwaffnet wurden. Obwohl in der
polnischen Heimat-Armee einige tausend Weißrussen
kämpften, kam es nie zu einer Verständigung zwischen
der polnischen und weißrussischen politischen Führung.
Der NKWD terrorisierte die Bevölkerung, vernichtete die
Dörfer, die der Heimat-Armee geholfen hatten (besonders in
Weißrußland) und griff die AK-Truppen an.
Die schwierigste Situation gab es in der Westukraine, besonders
in Wolhynien. In den Jahren 1939-1944 versuchten die AK, die
polnische geheime Administration und die "Ukrainische
Aufständische Armee" (UPA) zu einer Verständigung zu
kommen, jedoch ohne Erfolg: Die polnische Exilregierung wollte
mit Unterstützung der polnischen Öffentlichkeit die
Ostgebiete weiter halten, während die ukrainische politische
Führung staatliche Unabhängigkeit forderte.
Gegenseitiges Morden begann 1941 im Cholmer Land, im
Frühjahr 1943 begingen ukrainische Truppen in Wolhynien
Massenmorde an Polen. Inmitten des deutsch-sowjetischen Krieges
entstand ein grausamer ukrainisch-polnischer Bürgerkrieg: In
der Westukraine kämpfte die Heimatarmee häufig mit den
NKWD-Partisanen gegen die deutschen Truppen und manchmal gegen
die UPA, diese wiederum gegen NKWD-Partisanen, deutsche Truppen
und die polnische AK und Zivilbevölkerung. Für Mord und
Folter an der polnischen Zivilbevölkerung nahm die AK
wiederum an ukrainischen Dörfern Rache und erschoß
manchmal alle waffenfähigen Männer in den Orten, in
denen die UPA stationiert war. Schätzungsweise 30.000-40.000
Polen wurden von Ukrainern ermordet, Tausende flohen nach
Zentralpolen, die Heimatarmee wurde zum Rückzug aus
Wolhynien gezwungen. Die Zahl der ukrainischen Opfer bleibt
unbekannt.
Im Januar 1944 überschritt die Rote Armee die polnische
Grenze von 1939. Die AK-Truppen, die sich am Kampf der Roten
Armee gegen die Wehrmacht beteiligt hatten, wurden vom NKWD
entwaffnet, ihre Offiziere erschossen oder in den Gulag
geschickt. Soldaten und Unteroffiziere, sofern sie das Geschick
ihrer Kommandanten nicht teilten, wurden in die von Kommunisten
kontrollierte polnische Armee eingegliedert. Deportiert wurden
bis Dezember 1944 80.000 Polen aus dem Wilna- und dem
Nowogrodek-Gebiet, bis Januar 1945 15.000 Polen aus Grodno und
Bialystok. Verhaftet wurden: am 10.10.1944 21.000 Polen im
Lubliner Gebiet, im Januar 1945 17.000 Polen im Lemberger Gebiet;
die meisten wurden in den Gulag deportiert. Schätzungsweise
wurden mindestens 200.000 Polen von 1944 bis 1946 aus den
ehemaligen polnischen Ostgebieten und Zentralpolen in den Gulag
deportiert oder strafumgesiedelt; einige Soldaten der
Heimat-Armee konnten 1947, andere 1956 nach Polen
zurückkehren. Etwa zwei Millionen Polen aus den ehemaligen
Ostgebieten wurden nach 1945 repatriiert.
Im Sommer 1987 wurden in Giby (Suwalkigebiet) Massengräber
entdeckt. Dort ruht ein Teil der Opfer vom Juli 1945, als der
NKWD in Nordpolen tausende Menschen verhaftete und tötete.
Im August wurde das "Bürgerkomitee für die Suche nach
Verschwundenen" gegründet, das bereits 700 der
Getöteten identifizieren konnte. Es sind noch viele Giby in
ganz Polen zu erwarten.
Josef Darski, 1952 in Polen geboren, lebte ab 1984 in
Frankreich. Er ist Historiker und Publizist und war der
polnischen Opposition verbunden.
Von Gustav Herling .:: oben ::.
Nur Menschen, denen jede Menschlichkeit fremd
ist, können die Wahrheit solcher Bücher, wie dieses von
Gustav Herling, leugnen, denn, hätten sie irgendeine
Menschlichkeit, würden sie die darin geschilderten Tatsachen
nicht einfach abtun, sondern sich die Mühe machen, ihnen
nachzugehen.
Bertrand Russell in seinem Vorwort zu "Welt ohne Erbarmen":
1953.
(...) Nach Polens Niederlage im September 1939 zog die
jüdische Jugend aus den nördlichen Vororten Warschaus
und den Judenvierteln der kleinen von den Deutschen besetzten
Dörfer und Städte wie ein Vogelschwarm zum Bug und
überließ die Älteren ihrem Schicksal, das sie
dann in die deutschen Krematorien und Gaskammern führte. Sie
hofften, im "Vaterland des Weltproletariats", das plötzlich
so nahe an Warschau herangerückt war, Schutz und ein
besseres Leben zu finden. In den Wintermonaten 1939/40 spielten
sich am Ufer des Bug schauerliche Szenen ab, die aber nur das
Vorspiel zu dem waren, was dann kam und Millionen von Polen
fünf Jahre lang in Angst und Schrecken hielt.
Die Deutschen taten nichts, um die Flüchtenden
zurückzuhalten, erteilten ihnen aber mit Schlägen eine
praktische Unterweisung in ihrer Lehre vom "Rasse-Mythos"; auf
dem jenseitigen Ufer des Bug jedoch stellten sich die russischen
Hüter des "Klasse-Mythos" in ihren langen Pelzmänteln
mit aufgepflanzten Bajonetten, Polizeihunden und
Maschinengewehrsalven den in das "Gelobte Land" Flüchtenden
entgegen. Von Dezember bis März kampierten die Juden in dem
knapp zwei Kilometer weiten Niemandsland am Westufer des Bug; sie
schliefen unter freiem Himmel, deckten sich mit roten Federbetten
zu, zündeten des Nachts Feuer an oder klopften an die
Türen der Bauernkaten in der Nähe und baten um Hilfe
und Unterkunft. Auf den Bauernhöfen ringsum entstanden
kleine Tauschmärkte - Kleidungsstücke, Juwelen und
Dollars wurden für Lebensmittel und für Hilfe bei der
Überquerung des Flusses gegeben.
Jede einzelne Bauernkate entlang der Grenze entwickelte sich zu
einem Schmugglernest, und die Bevölkerung aus der Umgebung
wurde schnell reich und segnete das unerwartete gute Geschick.
Unzählige schattenhafte Gestalten drängten sich vor
jeder Hütte, blickten durch die Fensterscheiben, klopften
gegen das Glas und kehrten dann, enttäuscht und um eine
Hoffnung ärmer, zu ihren Lagerfeuern zurück. Die
meisten gaben es schließlich auf und gingen in das von den
Deutschen besetzte Polen zurück. Dort wurden sie fast
ausnahmslos in den nächsten fünf Jahren von den
deutschen Konzentrationslagern Auschwitz, Maidanek, Belsen und
Buchenwald verschlungen. Einige hielten jedoch standhaft aus,
blieben am Flußufer und warteten auf eine Gelegenheit,
hinüberzukommen. Manchmal gelang es einem; er lief dann
drüben einige hundert Meter durch die verschneite Ebene, bis
er, im grellen Strahl eines sowjetischen Scheinwerfers gefangen,
von einer Maschinengewehrkugel getroffen, aufs Gesicht fiel. Dann
erklang lautes Jammern und Wehklagen, Hände reckten sich wie
züngelnde Flammen drohend zum Himmel, doch gleich darauf
kehrte wieder Stille ein, und man wartete weiter.
In jenen Monaten ist es vielen Flüchtlingen geglückt,
durch Lücken in der Demarkationslinie
hindurchzuschlüpfen, und die einst polnischen, jetzt
sowjetischen Städte Bialystock, Grodno, Kowel, Luck und
Baranowicze waren plötzlich voll von jungen jüdischen
Kommunisten, die trotz allem, was sie an der Grenze erlebt
hatten, sehr bald wieder an ihre Träume von einem von
rassischen Vorurteilen freien Lande, das sie hier gesucht hatten,
glaubten.
Zunächst kümmerten sich die Russen nicht um sie, dann
aber begannen sie Menschen zum "freiwilligen" Siedeln tief im
Inneren Rußlands auszuheben, wobei sie die Juden vor die
Wahl stellten: sowjetischer Paß oder Rückkehr in ihren
Heimatort. Und da geschah das Erstaunliche, daß die
gleichen Menschen, die noch vor ein paar Monaten ihr Leben aufs
Spiel gesetzt hatten, um in das gelobte Land zu gelangen, jetzt
in Scharen in entgegengesetzter Richtung
zurückströmten, in das Land der Pharaonen. Auch dem
sahen die Russen gleichgültig zu, aber sie müssen sich
doch diesen negativen Ausgang der Treueerprobung der
Sowjetbürgerkandidaten gut gemerkt haben. Denn im Juni 1940,
nach der Niederlage Frankreichs und dem Fall von Paris, setzten
im russisch besetzen Polen die ersten Säuberungen ein, und
in Hunderten von Güterzügen wurde das jüdische
Lumpenproletariat aus den polnischen Dörfern in die
Gefängnisse und Arbeitslager Rußlands
transportiert.
In den Arbeitslagern wurden die Juden die erbittertsten Gegner
des Sowjetkommunismus, die ihn viel kompromißloser
haßten als die alten russischen Gefangenen oder die anderen
Ausländer. Mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie einst
ihre Liebe zu ihm übertrieben hatten, übertrieben sie
jetzt ihren Haß. Zur Arbeit gingen sie nur, um nicht
erschossen zu werden, aber im Wald setzten sie sich ans Feuer,
wärmten sich und taten nur gerade so viel, daß sie die
Verpflegungsstufe I erhielten. Abends wühlten sie dann in
den Abfallhaufen, um ihren ewigen Hunger zu stillen. In dem
strengen nördlichen Klima starben sie bald mit biblischen
Flüchen auf den Lippen und mit den zornigen Blicken
betrogener Propheten.
Gustav Herling, 1919 in Polen geboren, polnischer
Widerstandskämpfer gegen deutsche Nazis und sowjetische
Kommunisten, Angehöriger der polnischen Truppe der
Alliierten, lebte nach der Befreiung in Italien und
Großbritannien. Autor mehrerer Bücher. Aus: "Welt ohne
Erbarmen"; von Gustav Herling, Rote Weissbücher, 9.
Köln 1953.
Von Tilman Zülch, Johannes Vollmer .:: oben ::.
Die Benachteiligung des Weißrussischen hat Tradition in
Polen. Bereits nach dem Zusammenschluss Polens und Litauens zu
einem osteuropäischen Großreich wurde das
Weißrussische 1696 als Amtssprache durch das Polnische
ersetzt. Zuvor hatte es seit dem 14. Jahrhundert im litauischen
Großfürstentum den Status einer offiziellen Sprache
genossen. Nach den polnischen Teilungen von 1772, 1793 und 1795
fielen die weißrussischen Länder dem russischen
Zarenreich zu. Die adlige Oberschicht bediente sich des
Russischen. Russisch wurde Amtssprache, Weißrussisch blieb
die Muttersprache der einfachen Leute. Im Zarenreich galten die
Weißrussen als russischer "Stamm". Doch bereits im 19.
Jahrhundert kam es zu einer kulturellen Bewegung der
"weißrussischen Wiedergeburt", die Revolution von 1905 gab
dieser weißrussischen Bewegung neuen Auftrieb.
Nach der Russischen Revolution von 1917 erklärte der auf dem
"AlIweißrussischen Kongreß" gebildete "Rat der
Weißrussischen Volksrepublik" in Minsk
Weißrußland am 25. März 1918 zum
unabhängigen Staat. Doch dieser wurde im Krieg zwischen dem
neu entstandenen Polen und der Sowjetunion aufgeteilt. Der Westen
wurde polnisch, im Osten entstand eine weißrussische
Sowjetrepublik. Das wiederentstandene Polen orientierte sich zwar
an dem polnischen Vielvölkerstaat von 1772 und schob seine
Grenzen in litauisch, weißrussisch, ukrainisch und deutsch
besiedelte Regionen vor. Die Staatskonzeption blieb
chauvinistisch. Die "Minderheiten", die über ein Drittel der
Bevölkerung ausmachten, wurden unterdrückt. Kaum ein
anderer Staat Europas diskriminierte zwischen 1918 und 1933 die
jüdische Minderheit so offen wie der polnische.
Die zeitgenössischen polnischen und weißrussischen
Statistiken gehen weit auseinander, was die Zahl der
weißrussischen Bürger Polens betrifft. Nach polnischen
Regierungsangaben von 1921 waren allein 22 % der
Gesamtbevölkerung der weißrussisch bewohnten Gebiete
orthodoxe Polen; weißrussische Katholiken wurden ohnehin
als Polen betrachtet. Nach der polnischen Statistik hätten
1921 1.001.879 Weißrussen in Polen gelebt, nach
weißrussischen Angaben 2,5 Millionen. Obwohl in den
Verträgen von Versailles (Art. 2) und Riga (Art. 7) und der
Verfassung der polnischen Republik (Art. 111-116) den
Weißrussen eine politische, kulturelle und wirtschaftliche
Eigenentwicklung in Polen zugestanden worden war, wurden von den
polnischen Behörden allein von den bei der Annektion
vorgefundenen 400 weißrussischen Schulen bis zum März
1923 alle bis auf 37 geschlossen. Gleichzeitig waren dort 3.380
überwiegend in der Nachkriegszeit eingerichtete polnische
Schulen eröffnet worden. 1925/26 war die Anzahl der
weißrussischen Elementarschulen bereits auf 25
gefallen.
Auch die katholische Kirche Polens beteiligte sich an der
Polonisierung der weißrussischen Bevölkerung. Die in
Polen etwa eine Million Angehörige zählende
weißrussische Kirche, die das Polnische als Kirchensprache
benutzte, galt ohnehin als polnisch. Bestrebungen, das
Weißrussische wiedereinzuführen, wurden von den
polnischen Bischöfen unterdrückt. 1928 verbot Bischof
Jaberzykowski von Wilna den weißrussischen Katholiken sogar
die Zugehörigkeit zur Christlich-Demokratischen
Weißrussischen Partei Polens sowie das Lesen ihres Organs
"Bielaruskaja Krynica". In den weißrussischen Gemeinden
wurden vornehmlich polnische Priester eingesetzt, die
weißrussischen wurden in das polnische Sprachgebiet
versetzt. Die orthodoxe Kirche war sowohl in den ukrainischen wie
in den weißrussischen Gebieten im Zwischenkriegspolen
schweren Verfolgungen ausgesetzt. Nach Angaben der Organisationen
der beiden Minderheiten wurden 1.300 orthodoxe Kirchen in
katholische umgewandelt, teilweise mit Blutvergießen.
Schließlich sollte auch die polnische
Militärkolonisation im polnischen Teil
Weißrußlands das Weißrussentum weiter
schwächen.
Als Kolonisationsobjekte wurden ehemalige Ländereien des
Zarenreiches sowie Land genutzt, das früher Klöstern
und Kirchen gehört hatte. Sehr selten wurde auch polnischer
Großgrundbesitz aufgeteilt, obwohl nach der amtlichen
polnischen Statistik in Westweißrußland 88 % des
Großgrundbesitzes auf Polen und nur 1,4 % auf
Weißrussen entfiel. Durch die Ansiedlung polnischer Bauern
wurde die Polonisierung weiter vorangetrieben. Auch die
Verwaltung der weißrussischen Gebiete lag fast
ausschließlich in Händen polnischer Beamter, die aus
dem polnischen Sprachgebiet hierher versetzt wurden.
Bis heute wird ernsthaft von manchen sowjetischen Historikern und
Publizisten der sowjetische Einmarsch in Ostpolen mit dem Schutz
Westweißrußlands und der Westukraine begründet.
Dabei hatte Molotow damals dem deutschen Botschafter Graf von der
Schulenburg in aller Offenheit erklärt, mit der
Begründung, die Sowjetunion müsse den "von Deutschland
'bedrohten Ukrainern und Weißrussen zu Hilfe kommen",
sollte "den Massen das Eingreifen der Sowjetunion plausibel
gemacht und gleichzeitig vermieden werden, daß (die)
Sowjetunion als Angreifer erscheint".
Weil der deutsche Entwurf eines gemeinsamen Kommuniques
anläßlich des sowjetischen Einmarsches am 17.9.1939
"den Tatbestand mit allzu großer Offenheit darlege", wurde
er von Stalin zurückgewiesen, der selbst einen neuen Entwurf
anfertigte. Tatsächlich wußte dann auch die okkupierte
Bevölkerung in den ersten Tagen nach dem Einmarsch nicht, ob
sie die Sowjetarmee als Unterstützung im Kampf gegen
Deutschland bzw. als Schutzmacht gegen die Deutschen oder aber
als Besatzer anzusehen hatte; den Anschein von Hilfe zu erwecken,
war aber von sowjetischer Seite eben beabsichtigt.
Offensichtlich wurde das Interesse der Sowjetunion dann durch die
Scheinwahlen vom Oktober 1939, die den Anschluß
Westweißrußlands an die Weißrussische SSR
herbeiführten, offensichtlich aber auch durch die bald
zahlreichen Verhaftungen und seit Februar 1940 beginnenden
Massendeportationen von "Volksfeinden", die aus den neu eroberten
Gebieten zu Vernichtungsstätten wie Kuropaty in
Zentralweißrußland gebracht wurden. Sprecher neuer
weißrussischer Bewegungen werfen Stalin heute
Völkermördverbrechen am weißrussischen Volk
vor.
Der nationalsozialistische Krieg gegen die Sowjetunion war von
allem Anfang an keine militärische Auseinandersetzung, bei
der es, wie im Westen, um den Sieg über die feindlichen
Armeen ging. Es war ein Ausrottungs- und Eroberungskrieg der
"überlegenen" arischen Herrenrasse gegen die "minderwertige"
slawische Rasse des Ostens, der als Kolonialgebiet auszubeuten
war - und es war ein Weltanschauungskampf gegen den
"Bolschewismus".
Der Vormarsch der Heeresgruppe Mitte durch
Weißrußland von Brest über Baranovice, Minsk,
Witebsk, Smolensk, Mogilew, Orscha bis vor Moskau war begleitet
von Todeslagern und Massengräbern. In dem im August 1941
errichteten Kriegsgefangenenlager Nr. 337 bei Baranovice wurden
88.407 Menschen ermordet: zuerst durch Erfrierung, Verhungern und
Erschießung bei Schwäche, ab 1942/43 durch Gaswagen.
Allein in einem der in Witebsk errichteten fünf KZs wurden
von Exekutionskommandos in der ersten Woche 60.000 Gefangene
erschossen.
Beim Rückzug sollte durch "verbrannte Erde" alles für
die Bevölkerung Lebenswichtige zerstört werden:
Industrieanlagen, Wohnhäuser und Transportmittel, Ernte und
Vorräte. Die Zerstörungsgewalt, die dieser
Vernichtungskrieg innerhalb von drei Jahren zeigte, vermittelt
eine Ahnung davon, welche langfristige Ausbeutungs- und
Vernichtungspolitik den Völkern im Falle eines Sieges
Nazideutschlands bevorgestanden hätte. "Den
osteuropäischen Völ.kern sollte nicht nur die eigene
Staatlichkeit vorenthalten werden; sie sollten auch ihrer
geistigen Führungsschicht beraubt, durch Exekution,
Vertreibung, inhumane Gesundheitspolitik, durch "Auslaugung",
d.h. Raub der "rassisch wertvollen" Menschen, dezimiert, durch
eine destruktive Schulpolitik in einem geistigen
Dämmerzustand gehalten, alles in allem zu einem niederen
Helotendasein herabgedrückt werden".
Der "Generalplan Ost" des SS-Reichssicherheitshauptamtes von
1941, den Himmler hatte ausarbeiten lassen, sah für
Weißrußland vor, daß 75 % seiner
Bevölkerung "ausgesiedelt" und 25 % "eingedeutscht" werden
sollte. Die Pläne zur Ausbeutung der besetzten Gebiete,
denen Hitler zustimmte, waren die des Henkers Himmler. In seiner
Rede vor SS-Gruppenführern in Posen am 4.10.1943 sagte
Himmler: "Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art
vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn
notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob
die anderen Völker im Wohlstand leben oder ob sie verrecken
vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als
Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich
das nicht". Dies war das Schicksal, das der Bevölkerung
Weißrußlands und den anderen slawischen Völkern
zugedacht war (siehe Dokument über "Generalplan Ost").
Jüdische Minderheiten - Die Vernichtung
Am 22. Juni 1941 überschritten die Truppen der Deutschen
Wehrmacht die sowjetisch-deutsche Teilungslinie in Polen. Schon
bald nach dem deutschen Einmarsch begannen speziell ausgebildete
Mordkommandos der SS, die sogenannten "Einsatzgruppen", mit der
systematischen Ausrottung der Juden in den Städten und
Dörfern des ehemaligen Ostpolen. Die jüdische
Bevölkerung wurde auch hier, wie im übrigen Europa,
nicht einmal als Sklavenvolk von Zwangsarbeitern betrachtet,
sondern sollte kollektiv ausgelöscht werden.
In dieser im Norden mehrheitlich weißrussisch, im
Süden vornehmlich ukrainisch bewohnten Region hatten die
sowjetischen Okkupationstruppen 1939 eine jüdische
Volksgruppe von 1,3 Millionen Menschen vorgefunden. Weitere etwa
250.000 Juden waren noch vor der Schließung der
deutsch-sowjetischen Demarkationslinie vom westlichen in das
östliche Polen geflüchtet.
Die jüdische Bevölkerung stellte in vielen
ostpolnischen Städten erhebliche Teile der Bevölkerung,
so z.B. in Wilna 28%, in Grodno 42%, in Brest-Litowsk 52%, in
Kowel 61 %, in Pinsk 75%, in Przemysl 34%, in Tarnopol 44% und in
Lemberg 33%. Allein die ostgalizische Stadt Lemberg hatte bei der
polnischen Volkszählung von 1931 99.600 jüdische
Einwohner.
Unter den Hunderttausenden von Stalin in sibirische Arbeitslager
deportierten Bewohnern Ostpolens befanden sich auch zehntausende
Angehörige der jüdischen Volksgruppe. Nach der
Schließung der im Hitler-Stalin-Pakt definierten
Demarkationslinie wurden Juden aus dem Machtbereich Hitlers mit
Gewalt an der Flucht nach Ostpolen gehindert und
zurückgejagt. In dem im Juni 1940 von sowjetischen Truppen
besetzten Bessarabien verbot man zunächst alle
jüdischen Institutionen, und am 13. Juni 1941 wurden viele
der jüdischen Führer und besonders wohlhabende Juden
nach Sibirien verschleppt, wo viele von ihnen ums Leben kamen.
Nach der sowjetischen Annektion der baltischen Länder wurden
auch Angehörige der jüdischen Minderheiten, wie die
Balten, von den stalinistischen Deportationswellen erfaßt.
Allein aus Estland wurden 500 geistliche Führer nach
Sibirien verschleppt, dazu kamen zahlreiche sogenannte
"kapitalistische" Juden. Nur wenige kehrten aus den sibirischen
Lagern zurück.
Nach dem Rückzug der Roten Armee ermordete die SS unter dem
Schirm der deutschen Truppen in Massenexekutionen an Ort und
Stelle die jüdische Bevölkerung. Juden, derer man
habhaft werden konnte, sollten vernichtet werden. "Keine Familie
sollte verschont werden. Auch sollten keinerlei Energien darauf
verschwendet werden, Ghettos einzurichten und Juden über
weite Strecken in Lager oder zu Erschießungsplätzen zu
transportieren. Die Ermordungen sollten in den jeweiligen
Städten und Dörfern im Augenblick des
militärischen Sieges durchgeführt werden." Jeder
SS-Einsatzgruppe wurde ein bestimmtes Gebiet zugewiesen. "So war
die Einsatzgruppe A für die Vernichtung der Juden in den
baltischen Ländern zuständig, während die
Einsatzgruppe D in der Ukraine (...) tätig werden
sollte."
Nach der Wannsee-Konferenz (20.1.1942) errichteten die Nazis die
Vernichtungslager Belsec, Treblinka und Sobibor. Schon wenige
Stunden nach ihrem Eintreffen wurden die jüdischen
Männer, Frauen und Kinder, die das Wüten der
SS-Kommandos überlebt hatten, in diesen Todeslagern
vernichtet. "Während die SS damit fortfuhr, Juden in Todes-
und Arbeitslager zu deportieren, setzten die Juden selbst ihre
Versuche fort, in Wälder und Gehölze zu fliehen."
Widerstandsaktionen einzelner jüdischer Partisanengruppen,
die sich auch in verschiedenen Regionen des Baltikums und
Ostpolens bildeten, wurden vor allem dadurch erschwert oder
unmöglich gemacht, daß die jüdischen Minderheiten
unbewaffnet waren und "umgeben von einer extrem feindseligen
Landbevölkerung, von der sie bisweilen schon angegriffen
wurden, noch ehe die Mordkommandos eintrafen."
So wurde in vielen Städten und Dörfern Litauens die
Massenvernichtung der jüdischen Minderheiten
durchgeführt, bevor die nationalsozialistischen Einsatz-
oder Deportationskommandos eingetroffen waren. In Lettland hatten
einheimische Faschisten, die lettische Polizei und
Ordnungsdienste auf eigene Faust und ohne deutsche Befehle
Tausende jüdische Kinder, Frauen und Männer
hingerichtet. Abertausende Letten und Litauer, unter ihnen
Geistliche und Intellektuelle, waren Zeugen der Judenmorde und
schwiegen dazu. Die Deutschen hatten ferner über 200.000
Juden aus Westeuropa zur Vernichtung nach Lettland
deportiert.
Zahlreiche Letten, Litauer und Esten, Ukrainer und Polen stellten
Teile des Personals der Vernichtungslager. Die polnische
("blaue") Polizei leistete der SS nicht nur "Hilfsdienste wie in
anderen besetzten Ländern auch, sondern ging von sich aus
auf die Jagd und veranstaltete in eigener Regie
Judenexekutionen." In Polen konnten die Nationalsozialisten nicht
nur auf das Stillhalten einer terrorisierten Bevölkerung
zählen, sondern auch auf die Komplizenschaft großer
Bevölkerungsteile", schrieb der
französisch-jüdische Autor Marc Hillel 1985 in seinem
Buch "Le massacre des survivants en Pologne 1945-47".
In Ostgalizien fielen häufig ukrainische Bauern über
die Juden her und ermordeten Hunderte von ihnen, noch ehe die
deutschen Mordkommandos eintrafen. Nach der Wiederbesetzung
Bessarabiens durch die Deutschen im Juli 1941 ließ die
rumänische Regierung die Juden ins ukrainische, von
Rumänen besetzte Transinistrien deportieren. 148.000
Menschen erfroren, verhungerten, starben an Krankheiten oder
fielen den Brutalitäten ihrer rumänischen und deutschen
Bewacher zum Opfer. Rumänische Faschisten hatten im Juli und
August 1941 in der ganzen Provinz Vernichtungslager eingerichtet
und Tausende von Juden ermordet.
Die Mittäterschaft von Angehörigen jener Völker,
die selbst Opfer Stalins und Hitlers waren, an der
Judenverfolgung vermindert die Schuld des nationalsozialistischen
Deutschland am Holocaust keineswegs, doch auch die nicht-deutsche
Verantwortung für diesen Völkermord sollte nicht
länger der Tabuisierung anheimfallen. Auch diese Völker
dürfen nicht nur das eigene Leid, sie müssen auch die
eigene Schuld öffentlichmachen. Eine echte Versöhnung
der Völker und Volksgruppen Europas dürfte sonst kaum
möglich sein.
Die überlebende jüdische Bevölkerung dieser
Regionen verließ den europäischen Kontinent, sofern
sie konnte. Sie ging nach Amerika oder Palästina. In Polen
setzte noch einmal zwischen 1945 und 1948 eine panische
Fluchtwelle der überlebenden etwa 250.000 Juden ein, nachdem
bei verschiedenen Pogromen erneut 1.500 Juden von Polen ermordet
worden waren.
Es gab nicht nur Opfer
Ein Teil der Bevölkerung aus den von Hitler
großzügig Stalin überlassenen Ländern und
Landesteilen verstand sich in dieser Zeit nicht
ausschließlich als Opfer: So hatten einheimische
Kommunisten in Lettland, Litauen, Ostpolen oder Bessarabien
1939/40 sehr schnell mit den neuen Machthabern paktiert und es
war den Sowjetischen Behörden in Ostpolen und Bessarabien
geglückt, verschiedene Nationalitäten gegeneinander
auszuspielen. So nutzten baltische und ukrainische Chauvinisten
die Kollaboration einzelner jüdischer Kommunisten mit Stalin
als perverse Legitimation für ihre Unterstützung des
nationalsozialistischen Holocausts.
Diese Zusammenarbeit von Angehörigen der betroffenen
Völker sowohl mit Stalin als auch mit Hitler schwächte
den Widerstand. "Schon ein Sandkorn blockierte das Wunderwerk der
scheinbar perfekten Vernichtungsmaschinerie", beschreibt der
französische Philosoph Andre Glucksmann den Widerstand gegen
den Holocaust in Bulgarien und Dänemark. Hier scheiterten
alle Völkermordpläne der Nazis an der Gegenwehr
dänischer und bulgarischer Regierungsstellen, Parteien und
Berufsgruppen. Hätte die Solidarität der von Stalin und
Hitler bedrohten Völker Osteuropas wenn schon nicht die
Unterwerfung verhindern, so doch die Ausmaße der
Deportationen, der "Klassen"-, "Rassen"- und Völkermorde der
Jahre 1939-53 vermindern können?
Doch die Schergen Hitlers und Stalins hatten in vielen
Ländern Osteuropas keine Schwierigkeiten, Sympathisanten,
Helfershelfer und Kollaborateure zu rekrutieren. Kroatische
Ustaschas, slowenische Heimwehren, tschechische Kollaborateure,
polnische Blaue Polizisten, bosnische, ukrainische und baltische
SS einerseits und, wie gesagt, einheimische Kommunisten
andererseits. In vielen nationalsozialistischen
Vernichtungslagern dienten Osteuropäer der
Tötungsmaschinerie. Einheimische Kommunisten waren an der
Vorbereitung stalinistischer Deportationen beteiligt.
Schon die Entstehung der osteuropäischen Staaten nach dem 1.
Weltkrieg aus den drei Kaiserreichen Deutschland,
Österreich-Ungarn und Rußland stand nicht nur unter
dem Zeichen des Selbstbestimmungsrechtes symbolisiert durch die
14 Punkte Wilsons. Die Siegermächte sahen zu, wie entgegen
hehren Prinzipien 6 Millionen Ukrainer Polen, 2 Millionen Ungarn
Rumänien, 3 Millionen Sudetendeutsche der Tschechoslowakei
zugeschlagen und die Gebiete vieler anderer Volksgruppen
annektiert wurden und nahmen in Kauf, daß das
Selbstbestimmungsrecht der Slowaken, Kroaten, Slowenen oder
Ukrainer- sei es als regionale Autonomie, sei es als
Eigenstaatlichkeit - mißachtet wurde.
Getreu der Befürchtung Grillparzers über den
aufkommenden Nationalismus der k.u.k.-Nationalitäten des
alten Österreich "von der Humanität über die
Nationalität zur Bestialität" begannen die Armeen der
neu entstandenen Nationen nach dem Ersten Weltkrieg, kaum
aufgestellt, schon mit Raubzügen gegen Nachbarstaaten.
Litauen brach ins internationalisierte ostpreußische
Memelland ein, Polens Armee besetzte die litauische Hauptstadt
Wilna und trug wie auch die "Weiße" und "Rote" Armee zur
Zerstörung der neu entstandenen ukrainischen Republik
bei.
Polen schließlich beteiligte sich noch im Jahr vor dem
deutschen Überfall an der Hitlerschen Aufteilung der
Tschechoslowakei, marschierte ins tschechoslowakische Olsagebiet
ein. In dieser ethnisch gemischten Region führte die
polnische Regierung eine makabre "Volksgruppenpolitik"
gegenüber den Polnischstämmigen ein, die der
späteren NS-Politik gegenüber Deutschstämmigen in
Polen entsprach. Nationalitätenstaaten wie Polen,
Rumänien oder die CSR, deren Bevölkerung zur
Hälfte oder einem guten Drittel nicht zu den
Staatsvölkern gehörte, gaben sich als
Nationalstaaten.
Minderheitenschutz verlangte man in der Regel für die eigene
Ethnie beim Nachbarn, versagte sie aber den Minderheiten daheim.
Die übergreifende europäische Bewegung der nationalen
Minderheiten - in den 20er Jahren zusammengeschlossen im
Europäischen Nationalitätenkongreß - scheiterte
letztlich an diesen Widersprüchen. Mit dem Aufkommen des
Nationalsozialismus und der einsetzenden Instrumentalisierung der
deutschen Minderheiten vom Baltikum bis Rumänien und der
Etablierung autoritärer bis faschistoider Regime in allen
Staaten Osteuropas mit Ausnahme der Tschechoslowakei war die
Entwicklung über die europäische Minderheitenbewegung
hinweggegangen. Ein einziger Staat Osteuropas, Estland, hatte
eine vorbildliche Nationalitätenregelung geschaffen - alle
anderen hatten dabei versagt, ein erträgliches Miteinander
zu realisieren. Stalin und Hitler sahen sich also einem Osteuropa
gegenüber, das denkbar schlecht auf die beiden Imperialismen
vorbereitet war.
In den 50 Jahren seit der gemeinsamen Unterdrückung der
Völker durch den Stalinismus sollten alle gelernt haben. Als
sich im Frühjahr 1989 die Nomenklatura gegen die
Konstituierung der neuen weißrussischen Volksfront zur Wehr
setzte und diese aus Minsk in das benachbarte Wilna floh, um dort
ihre Gründung vorzunehmen, zeigte sich der "neue Geist". Die
baltischen, ukrainischen und weißrussischen Volksfronten
treten heute dezidiert für die Rechte der in ihren
Ländern lebenden Minderheiten ein. Nach neueren Umfragen
billigen inzwischen in Lettland sogar zwei Drittel der
eingewanderten russischen Einwohner die Politik der lettischen
Volksfront, während die sogenannten Interfronten zu Organen
der jeweils regionalen Nomenklatura geworden sind. Erste
Anzeichen der Vernunft zur Nationalitätenfrage zeigen sich
auch in Polen. So fordert die neue polnische Regierung nicht nur
die kulturelle Autonomie für die polnische Gemeinschaft in
Litauen. Noch vor dem letzten Regierungswechsel hatten polnische
Regierungsstellen und der Kardinal und Primas von Polen Jozef
Glemp erklärt, in Polen gäbe es keine Deutschen mehr.
Inzwischen werden dort jetzt zaghaft erste deutsche
Minderheitenvertretungen zugelassen.
Die Staaten Westeuropas sind in den vergangenen Jahren, nicht
zuletzt durch die Gründung der EG, auch in der
Nationalitätenfrage aufeinander zugegangen. Von der
dänischen Minderheit im deutschen Südschleswig und der
deutschen im dänischen Nordschleswig bis zu den
Autonomiemodellen der Südtiroler in Norditalien, für
Katalonien und das Baskenland in Spanien oder die Sprachen rechte
für die Waliser in Großbritannien sind eine Reihe
westeuropäischer Nationalitätenprobleme inzwischen
relativ befriedigend gelöst worden. In der Föderation
europäischer Volksgruppen (FUEV) in Flensburg arbeiten seit
.1989 erstmals auch Minderheitenvereinigungen aus Ungarn mit. Im
"Europäischen Büro für kleinere Sprachen" haben
sich alle Sprachminderheiten der EU zusammengeschlossen. Nur in
dem entstehenden gemeinsamen Haus Europa, dessen Kernzelle die
Europäische Gemeinschaft sein könnte, wären alle
kleineren Völker, Nationalitäten und Minderheiten West-
wie Osteuropas dazu in der Lage, durch intensive Zusammenarbeit
ihre Rechte endlich durchzusetzen.
Johannes Vollmer, geboren 1950, Journalist, war
langjähriger Europareferent der GfbV und Mitarbeiter der
Zeitschrift "pogrom". Aus: "Aufstand der Opfer - Verratene
Völker zwischen Hitler und Stalin", Hg. Johannes
Vollmer/Tilman Zülch; Göttingen 1989, Taschenbuchreihe
"pogrom".