Von Tilman Zülch
Bozen, Göttingen, 3. Dezember 2003
Von der Vernichtung des armenischen Volkes in der Türkei,
über die Gaskammern des Dritten Reiches, den Deportationen
und der teilweisen Ausrottung sowjetischer Kaukasusvölker
durch den Stalinismus bis hin zu den Massenmorden an
Amazonasindianern, Biafranern, Bengalen, Kurden und Eritreern in
unseren Tagen durchziehen Verfolgung und Vernichtung von
Minderheiten unser Jahrhundert. Sie ereigneten sich in
feudalistischen und kapitalistischen Staaten ebenso wie unter dem
"Sozialismus" Stalinscher Prägung. Seit der Niederlage des
Nationalsozialismus und den Ansätzen der Entstalinisierung
haben sich jedoch Verfolgungen von "rassischen und ethnischen"
Bevölkerungsgruppen vor aIlem in den Ländern der
Dritten Welt abgespielt.
Zwar lief die Entkolonialisierung in der Regel friedlich ab, doch
die vergeblichen Versuche einiger Kolonialmächte, die
Unabhängigkeit von Kolonialgebieten durch Anwendung
militärischer Gewalt hinauszuzögern, führte zur
Bildung von Befreiungsbewegungen, auf deren Widerstand die
Kolonialarmeen - in Vietnam, Algerien, Kenia oder den
portugiesischen Kolonien - mit Massenmorden an den
Kolonialvölkern reagierten.
Inzwischen ist die formale Kolonialisierung - sieht man einmal
von der spezifischen Situation im südlichen Afrika ab -
nahezu abgeschlossen. Und doch können wir seit einigen
Jahren vor allem in den Staaten der Dritten Welt ein neues
Phänomen beobachten: die Minderheiten- und
Nationalitätenprobleme haben dort derartig zugenommen,
daß man heute, überspitzt formuliert, fast von einem
weltweiten Aufstand gegen die bisher für stabil gehaltenen
Grenzen, Staaten und Nationen der Dritten Welt sprechen kann -
unter eben der Losung des Selbstbestimmungsrechtes der
Völker, die vorher den Unabhängigkeitskampf der Dritten
Welt begleitet hatte.
Dieser Aufstand wird von Völkern getragen, für die die
Unabhängigkeit der Staaten der Dritten Welt oft nur einen
Wechsel des Kolonialherrn bedeutet hatte. Gleichzeitig begehren
alteingesessene überlebende Stammesvölker in Nord- und
Südamerika und in Australien auf, kommt es in
europäischen Randzonen zu Protestaktionen jener Völker,
die bei der Bildung von Nationalstaaten übergangen und denen
die Entfaltung ihrer sprachlichen und kulturellen Identität
versagt wurde.
Verpaßte Entkolonialisierung
Die neuen Staaten der Dritten Welt "verdanken" ihre heutige
Gestalt und ihre Grenzen überwiegend den früheren
Kolonialmächten. Die Grenzziehungen in Asien, Afrika und
Lateinamerika orientierten sich meist an strategischen und
ökonomischen Interessen europäischer Staaten und an
deren Militär- und Machtpotential. Dabei wurden häufig
historisch gewachsene Regionen zerschnitten und ethnische Gruppe
willkürlich auf mehrere Kolonialgebiete verteilt. So wurden
die Somal Italienisch-Französisch - und Britisch-Somaliland,
Kenia und Äthiopien überantwortet, die Kurden fanden
sich in vier mittelöstlichen Staaten wieder, die
Papuavölker Neuguineas bildeten zur Jahrhundertwende je eine
niederländische, deutsche und britische Kolonie und tragen
bis heute an den Folgen dieser in den europäischen
Metropolen vor einem halben Jahrhundert getroffenen
Entscheidung.
Vor der europäischen Kolonialära bestehende
Abhängigkeitsverhältnisse - z.B. die arabische
koloniale Durchdringung des schwarzafrikanischen Südsudan -
wurden von den neuen - in diesem Fall britischen - Kolonialherren
übernommen und bei der Entkolonialisierung bestätigt:
die legitimen Forderungen der südsudanesischen VoIksgruppen
wurden negiert, das Land dem weiterentwickelten arabischen Norden
ausgeliefert. Schließlich wurden große
Nationalitäten mit verschiedener Sprache, Religion und
Gesellschaftsstruktur zu kolonialen Großräumen
zusammengefügt, ohne aber befriedigende Ansätze zu
unternehmen, die verschiedenartigen Sozialstrukturen - etwa das
Feudalsystem Nordnigerias und die archaischen Dorfdemokratien des
späteren Biafra - einander anzunähern.
Vielmehr wurden durch das Prinzip der "indirect rule" hier und
der direkten Administration dort - die Gegensätze
verstärkt oder durch regional beschränkte Entwicklung
oder Christianisierung bestehende Unterschiede
vergrößert. Auch die SeIektion nationaler Eliten durch
die Kolonialmacht erfolgte eher dem Prinizip der
Herrschaftsabsicherung als der gleichmäßigen
Berücksichtigung aller Nationalitäten. Besonders wenig
Aufmerksamkeit bei der Gewährung der Unabhängigkeit
fanden auch jene sogenannten "primitiven" Bauernvölker, die
aufgrund fehlender staatlicher Tradition und der Organisation
ihrer Gesellschaften in Sippen oder Dörfern denkbar schlecht
auf die staatliche "Unabhängigkeit" vorbereitet waren.
Die Situation dieser von uns als. Stammesvölker bezeichneten
Gruppen - die gebräuchlichen Termini - Primitive oder
Naturyölker dokumentieren den europäischen
Kulturimperialismus - soll im folgenden besondere Aufmerksamkeit
finden. Die willkürlichen Annexionen und Amputationen der
Kolonialzeit erkIären zu einem guten Teil die Existenz
yieler autonomistischer oder sezessionistischer Bewegungen in der
Dritten Welt während der letzten Jahre in Bangladesh,
Biafra, Belutschistan, Eritrea, Kurdistan, Mindanao, Mizostan,
Nagaland, Ogaden, Pantschunistan, den Südmolukken, dem
Südsudan oder Westpapua.
Die Entkolonialisierung verpasst aber haben auch die farbigen
Ureinwohner jener überseeischen Gebiete, in denen die
Alteingesessen durch europäische Einwanderung und durch
Ausrottung entweder zu kleinen Minoritäten wurden (Indianer
in Nordamerika und den meisten Staaten Lateinamerikas,
Schwarzaustralier, Maoris in Neuseeland) oder zu einer seit
Jahrhunderten trotz zahlenmäßiger Mehrheit aIs
Minderheit behandelten und diskriminierten Unterschicht - so die
Quetschua und Aimara der Andenstaaten, die heute in Bolivien und
Peru in sozialrevolutionären Bewegungen vertreten
sind.
Ein weiterer Teil der Dritten Welt wurde nicht in die
Unabhängigkeit entlassen: der zaristische Imperialismus in
Zentralasien wurde von einem neuen "sozialistischen"
Vielvölkerstaat abgelöst, der die gemeinsame Existenz
vom früheren Mutterland und Kolonialgebieten in einem
Staatsgebiet befriedigend durch ein gleichberechtigtes
Miteinander abgelöst haben soll. Die kollektive Deportation
von acht sowjetischen Völkern unter Stalin - sieben von
ihnen stammten aus dem Raum zwischen kaspischen Meer und Kaukasus
und waren islamischer bzw. buddistischer Religion - nach
Zentralasien und der bis heute andauernde massenhafte Kampf der
Krimtataren und Meschier um die Rückkehr in ihre
liquidierten autonomen Sowjetrepubliken - durchaus dem Kampf
indianischer Völker der USA um ihre Landrechte vergleichbar
- deutet darauf hin, daß dieser Anspruch nicht immer
eingelöst wurde.
Die Stammesvölker
Unter den Völkern der "Vierten Welt" haben die
Stammesvölker besonders dringliche Probleme. Etwa: die
Pygmäen, die Buschmänner (San)t, die Gruppen des
indischen "Stammesgürtels", die Bergstämme Vietnams,
Laos, Burmas, Thailands, die Ureinwohner Australiens, die Eskimo,
die Indianer Nordamerikas und des südamerikanischen
Tieflandes. Die meisten dieser Völker haben jahrzehntelang,
oft auch jahrhundertelang versucht, ihre Unabhängigkeit zu
behaupten (bekanntestes, aber durchaus nicht einziges Beispiel:
die Indianerkriege in den USA), wurden besiegt und versuchen
heute mit neuen Mitteln (Beispiel: die Wounded Knee-Aktion der
Sioux in den USA) einen Teil ihrer Rechte
zurückzuerobern.
Dabei stoßen gerade die technologisch
"rückständigsten" unter ihnen auf besondere
Schwierigkeiten, so etwa: Ihre politischen Organisationsformen
(Stammes-, Dorf-, Horden- o. ä. Verfassung) sind auf der
internationalen Bühne nicht hoffähig, ihre Vertreter
werden als "Stammeshäuptlinge" oder "Hordenchefs" kaum ernst
genommen. Ihre soziale und rechtliche Ordnung wird bestenfalls
mit der Geduld betrachtet, die man Kinderspielen
entgegenbringt.
Auch die eigene Kultur dieser Gruppen wird höchstens als
völkerkundliche Kuriosität respektiert. Die
Diskriminierung wird in unserem Sprachgebrauch deutlich. Araber
oder Chinesen haben für uns eine Sprache, "Neger" und
Indianer aber eher "Dialekte"; in Nordirland oder auf Zypern
sehen wir "nationale (oder religiöse) Konflikte", in Afrika
aber nur "Stammeswirren" - uns selbst meist unbewußt
unterscheidet unsere Sprache da ebenso fein, wie sie es mit
"essen" und "fressen" zwischen Mensch und Tier tut.
Aufgrund der hinter diesem Sprachgebrauch stehenden Vorurteile
stellen wir uns (und stellen sich die meisten Staatsvölker
der "Dritten Welt") eine Gleichberechtigung dieser ethnischen
Gruppen meist nur dergestalt vor, dass diese sich integrieren und
wie wir werden. Das aber ist gerade für sie, die von uns
wesentlich verschieden sind, schwierig.
Bei genauem Hinsehen verdeckt die Diskriminierung oder schlicht
das Leugnen einer eigenständigen Existenz der
Stammesvölker in vielen Fällen handfeste Interessen.
Man erkennt einen australischen "Stamm" nicht als juristische
Person an - und braucht sich nicht mit dessen
Rechtsansprüchen auf ein eisenerzreiches Stück Land
abzugeben. Man leugnet die Fähigkeit paraguayischer
Indianer, selbst zu beurteilen, was gut für sie ist - und
kann dann entscheiden, das Beste für sie seit, ein für
die Bodenspekulation wichtiges Land zwangsweise zu verlassen.
Landfragen sind es zumeist, in manchen Fällen auch der
Wunsch, diese alteingesessenen Völker als billige
Arbeitskräfte einsetzen zu können.
Mit der europäischen "Landnahme" auf den "neuen" Kontinenten
begann die Vernichtung der alteingesessenen Völker im
großen Stil. Ohne Ausnahme verschwanden die indianischen
Bewohner fast aller Inseln Westindiens und die Ureinwohner
Tasmaniens. Viele der indianischen Völker Nord- und
Südamerikas, die SchwarzaustraIier und die Buschmänner
des südlichen Afrika wurden dem jagdbaren Wild
gleichgestellt und bis auf geringe Reste dezimiert.
Den landhungrigen europäischen Siedlern war die
konventionelle Kriegsführung gegenüber den "Wilden" zu
human, so daß sie schon damals - Jahrhunderte vor Vietnam -
zur biologischen und ökologischen Kriegsführung
übergingen: man verteilte von Blattern infizierte Decken an
indianische.Stämme oder vernichtete systematisch Wild und
Felder indianischer Bauern. Die überlebenden Indianer
Nordamerikas z. B. wurden dem von den neuen Herren geschaffen
"Büro für indianische Angelegenheiten"
überantwortet, der Politik der Ausrottung folgte die Politik
der Assimilierung; dem Genocid folgte der Ethnocid der
Überlebenden.
Die Pflege der indianischen Kulturen wurde behindert, der
Gebrauch der Muttersprachen wo immer möglich, untersagt, die
kollektive Landbasis der Stämme durch eine
Landaufteilungsverordnung zerstört, Reservate wurden
aufgelöst; indianische Ländereien an Siedler
verpachtet. So blieb den Überlebenden in den Reservaten bis
heute soziale Apathie und weitverbreitete Trunkheit, eine hohe
Kriminalitätsziffer, eine weit überproportionaler
Anteil an den Gefängnisinsassen, eine extrem hohe
Selbstmordquote, eine hohe Kindersterblichkeit und eine niedrige
Lebenserwartung.
Noch im letzten Drittel des 20 Jahrhundertes ist in den USA die
verbliebene Substanz der zusammengeschrumpften Stammesländer
von Wirtschaftskonzernen und Großbauern bedroht, werden mit
den Stämmen geschlossene Verträge gebrochen. Auch in
den entlegenen Regionen Alaskas, des kanadischen Nordens und
Inneraustraliens, die bisher vom Vordringen weißer Siedler
verschont blieben, stoßen multinationale Konzerne auf der
Suche nach Rohstoffen vor und gefährden die ökonomische
Basis von Eskimos, Indianern, Aleuten und Uraustraliern.
Wie ungebrochen sich bis heute das Selbstverständnis der
weißen Kolonisatoren gegenüber den alteingesessenen
Völkern. erhalten hat, demonstrierte noch 1971 Australiens
höchster Gerichtshof, als er im Hinblick auf die reichen
Mineralvorkommen in den Stammesländern der "Aborigines"
besimmte, dass diese kein Recht auf irgendweIches Land in
Australien besäßen. Sozialistische wie kapitalistische
Industriestaaten haben wenig Rücksicht auf alteingesessene
"primitive" Gruppen genommen. In Japan.sind die Ainu auf 16.000
Seelen zusammen geschmolzen, in der UdSSR überlebte in den
3oer Jahren ein Drittel der kasachischen Nomaden nicht die
"Sesshaftmachung", selbst Skandinaviens Lappen beklagen den
"Raub" ihrer Landrechte.
Viele der Stammesvölker sehen als "Bürger" von Staaten
der "Dritten Welt" einer zweifachen Unterdrückung
ausgesetzt. Ais Völker der Entwicklungsländer teilen
sie deren Schicksal der neokolonialen Abhängigkeit und
wirtschaftlichen Ausbeutung. Als Subsistenzbauern, arme
Jäger und Nomaden sind sie besonders schlecht auf das
Eindringen "moderner" Technologien und Wirtschaftsformen
vorbereitet und unter den neuentstandenen neokoloniaIen Eliten
nicht repräsentiert.
Im Kampf gegen Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen der
Kolonialvölker setzten europäische Kolonialherren und
amerikanische lmperialisten Stammensvölker als Söldner
ein. Portugal bewaffnete Angolas Buschmänner gegen die
angolesischen Freiheitskämpfer, die USA mobilisierten in
Indochina Krieger der Meo und Montagnards gegen die
Befreiungsbewegungen von Laos und Südvietnam. Gleichzeitig
besprühte man ihre Felder mit Herbiziden, erklärte ihre
Heimatgebiete zu "Feuer-Frei-Zonen" und verursachte so die Flucht
ganzer Völker in die Elends- und Flüchtlingsquartiere
der vietnamesischen Städte.
Insofern wiederhoIte sich das Schicksal der amerikanischen
Ureinwohner an Völkern der indochinesischen Hochländer.
Schon in den Indianerkriegen Nordamerikas hatte die US-Armee
indianische Söldner-Regimenter zur Niederwerfung
indianischen Widerstandes angeworben. Brasiliens überlebende
Ureinwohner - weniger als 100.000 Indianer unter 100 Millionen
Brasilianern - müssen heute dem doppelten Ansturm
internationaler Konzerne, westlicher Großgrundbesitzer und
verarmter brasilianischer Bauern weichen. Aus dem ökologisch
schwer getroffenen Nordosten Brasiliens transportiert ein zur
Lösung der brasiIianischen Landwirtschaftsprobleme
unwilliges Militärregime unterernährte Pächter und
Landarbeiter in die gerodeten Wälder des Amazonas, wo man
dabei ist, die gleiche Einöde zu schaffen, ein Sandstaub-
und Dürregebiet unvorsteIlbarer Größenordnung.
Die Indianer, die den verletzlichen Tropenwald überlegt
nutzten, werden in Reservate umgesiedelt.
Indiens Zentralregierung unterdrückt brutal den Widerstand
der Mizos und Nagas an der burmesischen Grenze und ermordete
Zehntausende von ihnen. Zaire verlieh seinen Pygmäen das
zweifelhafte Privileg, den Wehrdienst in der nationalen Armee
ableisten zu dürfen. Indonesiens Militärregierung
führt einen blutigen Krieg in Westneuguinea, dessen schwarze
Papuavölker sich zu einer nationalen Befreiungsbewegung von
Westpapua zusammenschlossen.
Trotz ihrer großen Vielfalt haben die von uns als
"primitiv" klassifzierten Kulturen vieles gemeinsam. Sie nutzen
schwierigste Landschaftszonen, wie tropische Wälder,
Wüsten oder die Tundren der Arktis und leben im Zustand der
Selbstversorgung. Das besondere Verhältnis der sogenannten
Primitiven zur Ökologie, eines Lebens im Einklang mit der
Natur wird in Mark MünzeIs Beitrag über die
Acheindianer Paraguyas deutlich.
Dieses "wilde" Indianervolk, dessen Mitglieder nicht erst seit
1972 gnadenlos verfolgt, versklavt und ermordet wurden, hat sich
in Jahrhunderten optimal an die Natur des tropischen Regenwaldes
angepaßt. Die Emanzipationsbewegungen nordamerikanischer
Indianer und grönIändischer Eskimos haben das besondere
Verhältnis ihrer Ahnen zu ihrer Umwelt zu einem zentralen
Pogrammpunkt erhoben und treffen sich so mit der
Umweltschutzbewegung in westlichen Ländern.
Diese Gesellschaften sind meist egalitär und kennen nicht
die Extreme von Armut und Reichtum; das Land wird fast immer
kollektiv zum Wohle der Gemeinschaft bewirtschaftet. Sie besitzen
ein Wissen über Ursprünge menschlicher Gemeinschaften,
das um so relevanter auch für westliche Gesellschaften
werden könnte, je mehr Werte unseres Gesellschaftssystems in
Frage gestellt werden. Selbstbewusst behauptet ein indianischer
Historiker heute, den Zug zu Kommunen und Wohngemeinschaften in
westlichen Ländern kommentierend: "Wenn ein Indianer sich
die moderne Welt anschaut, stellt er einen unausweichlichen Trend
zu Sozialstrukturen fest, in denen das Stammestum die einzige
gültige Form überindividueller Beteiligung darstellt.
Der Witz der Sache wird klar, wenn der Indianer merkt, daß
er nur einen Schritt zur Seite tun muß, um die wilde Jagd
vorbeizulassen, damit in Kürze Leute zu ihm kommen und ihm
raten werden, er solle doch zum Stammestum
zurückkehren".
Auch "Survival International", eine internationale Organisation
für Überleben und Emanzipation von Stammesvölkern,
betont, dass der Bürger industrialisierter Staaten nicht nur
auf ökologischem Gebiet von ihnen lernen, sondern auch als
soziales Wesen profitieren könne: "Indem die
Industriegesellschaften planmäßig traditionelle
Gesellschaf zerstören, beseitigen sie bewußt ein
reiches Erbe menschlicher Erfahrung und menschlichen Wissens, das
im Laufe von Jahrtausenden entstanden ist. Auf der einen Seite
könnte man darauf hinweisen, daß die sozialen Systeme
während des größten Teiles der menschlichen
Geschichte dem der wenigen noch existierenden "primitiven"
Gesellschaften ähnlicher waren, als dem der
Industriegesellschaften. Auf der anderen Seite könnte man
das technische Wissen der traditionellen Gesellschaften um die
natürliche Umwelt hervorheben und darauf verweisen, dass
noch viele dieser Erfahrungen uns unbekannt geblieben sind. Bis
heute entsenden pharmazeutische Firmen Expeditionen z.B nach
Südamerika mit der Hoffnung, neue Medikamente bei
indianischen Medizinmännern zu entdecken.
Gemessen an einer bisher der Wissenschaft kaum zur Kenntnis
genommenen Weite des Lebens bei den "Naturvölkern",
müsste eine Überprüfung unserer allzu
selbstbewußten Haltung einsetzen. Natürlich hätte
das nur einen Sinn, wenn wir von unseren eingefleischten
Vorstellungen und Maximen abrücken könnten, um uns aus
der Sicht anderer Existenzweisen sehen und beurteilen zu
können. Hier wäre ein Ansatz für kritische
Betrachtungsweise unseres Daseins, der unser Verhältnis zu
den Naturvölkern geradezu umkehren, uns zu Nutznießern
einer Welt machen könnte, die wir bisher nur aus der Optik
des ÜberIegenen, nicht aber zum Lernen Berufenen
betrachten.
Auch so gesehen wäre das Aussterben der "Naturvölker"
nicht nur ein bedauernswerter Prozeß, den wir aus
menschlichen, aus moralischen Gründen verhindern soIlten, es
wäre vor allem auch ein Verarmungsprozeß für uns
selbst, heißt es in der 1974 erschienen Band "Kein Platz
für wilde Menschen", von Peter Baumann und Helmut Uhlig.
Versagt hat auf jeden Fall die traditionelle Ethnologie, gerade
auch die deutsche. Das ethnologische Wissen um Stammeskulturen,
Kulturwandel und Naturreligionen häuft sich in den Archiven.
Indianer, Polynesier, Negritos und Buschmänner stehen als
Puppen in den Schaukästen der Museen. Nach wie vor jagen
Ethnologen völkerkundliche Skurrilitäten nach,
während die Objekte ihrer Wissenschaft - yiele
Stammesvölker - immer weiter dezimiert werden. Ökologen
und Zoologen ist es gelungen, Interesse für die Erhaltung
der Umwelt zu wecken oder Wildtiere für zukünftige
Generationen zu erhalten. Nur winzige Organisationen jedoch
kümmern sich um das Schicksal dieser Völker.
"Wenn es klar wäre, daß Stammesvölker in
völliger Isolation von der heutigen Gesellschaft leben
wollten, wenn sie es könnten", schreibt die
Hilfsorganisation "survival international", "gäbe es
keinerlei Rechtfertigung, in ihre Probleme einzugreifen." Doch
die WirkIichkeit der Unterdrückung und Vernichtung macht
lnterventionen zugunsten der Stammesvölker bitter notwendig,
auch wenn betroffene Regierungen sie als eine neue Spielart des
Kolonialismus abzutun versuchen.
In der berühmt gewordenen "Deklaration von Barbados",
verfaßt von fortschrittlichen lateinamerikanischen
Ethnologen, wird etwa für die Indianer Lateinamerikas
ausdrücklich erklärt, dass sie bis heute einer
koIonialistischen Herrschaft unterworfen sind von Regierungen,
die ihrerseits abhängig von westlichen Metropolen sind. Die
"Assimilierung, die heute Indianern Brasiliens und Papuas
Indonesiens abverlangt, ist schon gestern in AustraIien und in
Nordamerika gescheitert. So sind es in Nordamerika z.B. nicht von
ungefähr in erster Linie die in die Städte
ausgesiedelten Indianer, die - wie Claus Biegert in seinem
Beitrag darlegt - die indianische Emanzipationsbewegung der
"American Indian Movement" begründeten, die nach der
Zurückweisung in den Städten zur "Überlegenheit"
ihrer kulturellen Identität zurückfanden.
Die Assimilierung ist also keineswegs ein unvermeidlicher
Prozeß, Stammesvölker sind durchaus bereit und in der
Lage bei Erhaltung sozialer und kultureller Traditionen, sich
wandelnden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen
anzupassen. Der zweite Beitrag Mark Münzels verdeutlicht,
daß selbst Südamerikas Tieflandindianer Modelle
solchen Kulturwandels bereits geschaffen haben. In einigen
lateinamerikanischen Ländern entstehen heute nationale
Indianerbewegungen, die indianischen Widerstand organisieren, um
Landrechte kämpfen und neue Wirtschaftsformen für
indianische Gemeinschaften schaffen. Weiterhin gibt es ein
wachsendes Bewußtsein des gemeinsamen Schicksals der
Stammesvölker.
Ein gemeinsamer Kongreß der arktischen Völker in
Kopenhagen 1971 war ein erster Schritt in dieser Richtung. Diese
Begegnung fand internationale Aufmerksamkeit. Ein zweiter
Kongreß unter Beteiligung von südamerikanischen
Indianern und Schwarzaustraliern, Maoris etc fand 1975 in Kanada
statt. Es gibt viele Möglichkeiten, die
Emanzipationsbewegungen dieser Völker zu unterstützen.
Die wesentliche Veränderung der Situation wird dennoch nur
von ihnen ausgehen müssen, denn sie können nicht auf
die sicher korrekte Einschätzung des französischen
Anthropologen Robert Jaulin warten, der schrieb: "Die Beendigung
des Ethnocids wird sich nur bei einer Änderung, der
westlichen Haltung gegenüber dem Universum
einstellen."
Verbundsystem der Unterdrückung
"Um Biafra zu besiegen hat es den Nationen der Welt gefallen,
einen langsamen Krieg des Hungers und der Krankheit zu betreiben.
Sie haben zugesehen, wie ein Pseudo-Labour-Großbritannien
und ein pseudo-sozialistisches Rußland miteinander
wetteiferten, die tüchtigsten Leute und 'die
mörderischsten Waffen zu schicken, damit die Mörder
unter den besten Bedingungen arbeiten konnten.
Verstümmelungen, Bombardements von Krankenhäusern und
Marktplätzen, einfacher und nackter Mord, ganz zu schweigen
von einer fast vollständigen Blockade - nichts wurde in
diesem Kriege ausgelassen. Und er wurde durchgeführt mit der
Billigung beinahe aller afrikanischen Staaten, arabischen
Staaten, den Staaten der Dritten Welt, sozialdemokratischen
Staaten und anderen - nicht zu vergessen, des
Generalsekretärs der UNO, U Thant, der der großen
Sache des Vereinten Erdöls in Nigeria seinen
mörderischen Segen gab."
Mit dieser Erklärung kommentierte Jean-Paul Sartre nach dem
Fall Biafras die bemerkenswerte Tatsache, daß sich eine
neue weltweite KoaIition gegen den Versuch der Ibos
zusammengefunden hatte, aus dem nigerianischen Staatsverband
auszuscheren. Stanley Diamond analysiert in seinem Beitrag die
Hintergründe dieses Bündnisses, einer "neuen heiligen
Allianz", die sich gegen jede Bestrebung richtet, die kolonialen
Grenzen von einst unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht
in Frage zustellen. Als neues weltweites Verbundsystem der
Unterdrückung finden sich immer wieder Staaten der Ersten,
Zweiten und Dritten Welt gemeinsam mit internationalen
Institutionen, Militärpakten und multinationalen Konzernen
in wechselnden Konstellationen zusammen, um Aufständen von
Minoritäten zu begegnen.
Weitere Minderheiten in der Dritten Welt haben in den vergangenen
Jahren die Erfahrung der Jbos teilen müssen. Die
kürzliche Liquidierung der kurdischen Befreiungsbewegung im
Irak, zustande gekommen durch ein Übereinkommen der
beteiligten Dritten Welt-Regierungen, erfolgte im Einklang mit
östlichen und westlichen Interessen am irakischen
Erdöl. Die Sowjetunion und zuletzt Frankreich hatten der
irakischen Militärregierung die notwendigen Waffen und
Militärberater zur Verfügung gestellt. Die Motivationen
beteiligter Blöcke und Länder sind von Fall zu Fall
verschieden, doch nur in Ausnahmefällen fand sich eine
Konstellation, die das Aufbegehren einer nationalen Minderheit
begünstigte. Bangladesh erreichte als erstes Volk der
Vierten Welt seine Unabhängigkeit, obwohl es den
islamischen, den arabischen Block, nahezu alle Länder der
Dritten Welt, die Volksrepublik China, die USA und
überwiegend die Staaten des Westens gegen sich hatte. Zwar
fand sich in der UNO nur eine numerisch winzige Staatengruppe
bereit; für die Interessen Bangladeshs einzutreten, doch das
gemeinsame Interesse der Sowjetunion und Indiens an der
Schwächung Pakistans ermöglichte schließlich die
Schaffung eines politisch unabhängigen Staates der
Ostbengalen.
Minderheitenkonflikte entstanden in zahlreichen Ländern
durch die Kombination von Gruppendiskriminierung, politischer
Unterdrückung und besonderer wirtschaftlicher Ausbeutung. So
haben sich z.B. die politischen Führer der Bengalen, Kurden
oder Westpapuas über die Funktion ihrer Heimatregionen als
Rohstofflieferanten und Absatzmärkte beklagt und auf die
besondere Benachteiligung ihrer Länder bei Infrastruktur und
Industrialisierungsinvestitionen durch die Zentralregierungen
hingewiesen. Zu Recht wird hier von der Existenz eines internen
Kolonialismus gesprochen, gegen den sich autonomistische oder
sezessionistische Bewegungen von Fall zu Fall auflehnen. Diese
doppelte Unterdrückung erleichtert die Bildung von
nationalen Emanzipations- und Befreiungsbewegungen, die auf
verstärkte Repression häufig mit militärischem
Widerstand reagieren.
Im Verlaufe des Befreiungskampfes versuchten solche Bewegungen -
etwa die "Kurdische Demokratische Partei" des Irak (KDP) oder die
"Eritreische Befreiungsbewegung" (ELF-PLF) - neben der
Organisation der militärischen Guerilla; durch den Aufbau
von Schulen, medizinischen Versorgungsstationen, von
Marktkollektiven, soziale und edukative Errungenschaften zu
etablieren, um der Bevölkerung schon während des
Kampfes dessen Perspektiven verständlich zu machen. Insofern
werden diese Bewegungen nicht nur wegen ihres autonomistischen
oder sezessionistischen Charakters, sondern auch wegen ihres
demokratischen und revolutionären Elementes von verkarsteten
Regierungen der Dritten Welt als Bedrohung empfunden.
Zudem kollidieren durch die Entkolonialisierung neuetablierte
Nationalismen mit den Ansprüchen von Minoritäten: etwa
der Panarabismus mit dem Emanzipationsstreben der Kurder oder
Südsudansen, der indonesische Nationalismus mit den
nationalen Forderungen der Papuas oder der
Souveränitätsanspruch Indiens mit den nationalen
Befreiungsbewegungen der Naga und Mizos. Andererseits können
diese neuetablierten Nationalismen auch Minoritäten
außerhalb des eigenen staatlichen Bereichs
begünstigen. So gibt es etwa panisIamische und panarabische
Sympathien für die zur Hälfte islamischen Eritreer oder
die islamischen Somal Ogadens.
Iraks Militärregime, konsequent bei der VerfoIgung der
Kurden, lieferte Waffen an Äthiopiens Eritreeische
Befreiungsfront. Im Prinzip existiert ein weitgehend Konsensus
der Regierungen der Dritten Welt im gegenseitigen Interesse
gemäß dem Prinzip der Nichteinmischung,
Minderheitenkonflikte in Nachbarstaaten zu übersehen und
diese nicht vor die Foren der Vereinten Nationen oder der
Organisation für afrikanische Einheit zu bringen. So hat z.B
der Massenmorden an 200.000 Wahutus in Burundi 1973 keinerlei
Reaktionen afrikanischer Regierungen ausgelöst, während
das von der portugiesischen Armee begangene Massaker von Wiriyamu
an 400 Afrikanern weltweite Proteste nach sich zog. Die OAU
beglückwünschte Burundis Präsidenten Micombero zum
Mord an den Hutubauern, hintertrieb eine friedliche Lösung
des Biafrakonfliktes und verweigerte jahrelang die Diskussion der
Vorgänge im Südsudan. Somit wurden die drei blutigsten
Konflikte in Schwarzafrika im Ietzten Jahrzehnt, denen zusammen
etwa 3 Millionen Afrikaner zum Opfer fielen, von der OAU
übergangen, die andererseits im südlichen Afrika
für die Befreiung der unterdrückten farbigen Mehrheiten
auftritt.
Längst sind einige der Unterdrückten von gestern bzw
deren Exponenten zur Unterdrückern von heute geworden. So
arrangierten die Algerier, deren Befreiungsbewegung noch vor
einem Jahrzehnt den französischen Imperialismus
bekämpfte; die irakisch-iranische Entente, die den
militärischen Zweig der kurdischen Befreiungsbewegung des
Irak zerstörte, beteiligte sich Nassers Ägypten in den
späten 60er Jahren an militärischen Aktionen gegen
Kurden, Südsudanesen und Biafraner. Selbst eine Delegation
des Weltkirchenrates; sonst Anwalt der Opfer des Rassismus im
südlichen Afrika, leugnete im Herbst 1974 die Existenz eines
bewaffneten Konfliktes in Irakisch-Kurdistan und bestritt nach
dem kurdischen Zusammenbruch entgegen "amnesty international" und
der "Internationalen Liga für Menschenrechte" vorliegenden
Materialien Hinrichtungen, Folter und Konzentrationslager,
während dieselben "Vereinten Nationen", die für Namibia
nationale Selbstbestimmung fordern, den irakisch-iranischen gegen
die kurdische Befreiungsbewegung gerichteten Vertrag
begrüßten.
Regierungen, die sich mit Widerstandsbewegungen ihrer nationalen
Minderheiten konfrontiert sahen, haben fast immer versucht,
für deren Entstehung die früheren Kolonialmächte,
andere imperialistische Staaten oder auch den Kommunismus dieser
oder jener Prägung verantwortlich zu machen. Besonders in
Afrika sollten mit dem geflügelten Wort vom zweiten Katanga
sezessionistische Bewegungen wie die südsudanesische oder
die biafranische diskreditiert werden. Der Fall Katanga, wo
belgische Konzerne schließlich dabei scheiterten, sich den
reichsten Teil des Kongo als ökonomische Basis zu erhalten
und deshalb separatistische Tendenzen schürten, gilt zu
Recht, als klassisches Beispiel einer von außen
provozierten Sezession.
In der Regel sind aber die Industriestaaten und früheren
Kolonialmächte eher an der Erhaltung der aus der
Kolonialzeit ererbten Grenze - Beispiel Nigeria - als an deren
Veränderung interessiert. So hat Connor O'Brian, der den
Biafrakessel während des Krieges zweimal besuchte und der
während der Kongokrise als UN-Vertreter für die Einheit
des Kongo wirkte, in seinen Veröffentlichungen zum
Biafrakonflikt nachgewiesen, daß dort nicht die Sezession
Biafras, sondern die Erhaltung der "Einheit" Nigerias im
Interesse der früheren Kolonialmacht und der in Nigeria
dominierenden britischen Konzerne lag. Eine breite Allianz
auswärtiger Mächte ermöglichte die
Wiederherstellung der nigerianischen Einheit und zerstörte
die autochthone biafranische Unabhängigkeitsbewegung.
Ironischerweise versicherten sich gerade jene Regierungen, die zu
Unrecht das Aufbegehren ihrer nationalen Minderheiten
auswärtigen Staaten in die Schuhe schoben, der
militärischen und ökonomischen Unterstützung
westlicher Regierungen oder der sozialistischen
Großmächte, um den Widerstand ihrer Minoritäten
niederzuschlagen. So nahmen die Regierungen des Irak, des Sudan,
Nigerias, Äthiopiens, Pakistans, Indiens und Indonesiens
Militärhilfe und Militärberater in Anspruch, statt
rechtzeitig mit Kurden, Südsudanesen, Biafranern, Eritreern,
Bengalen, Nagas oder Papuas Kompromißlösungen
auszuhandeln. Insofern fällt der an die nationalen
Minderheiten gerichtete Vorwurf der Abhängigkeit von
imperialistischen Mächten auf eben diese Staaten
zurück. Die Inanspruchnahme militärischer Hilfe von
außen zur gewaltsamen Lösung der
Minoritätenkonflikte im Innern führte gewöhnlich
zur Verstärkung der technologischen und ökonomischen
Abhängigkeit der Staaten der Dritten Welt.
Die Bereitschaft der sozialistischen Großmächte
entgegen dem Leninischen Nationalitätenprinzip vom
Widerstandsrecht unterdrückte Völker gleich westlichen
Regierungen Repressionsfeldzüge gegen Befreiungsbewegungen
nationaler Minderheiten zu unterstützen, ist in den letzten
Jahren deutlich geworden. Die Sowjetunion hat vor 1967-1970
zusammen mit der Regierung Wilson die Politik der Aushungerung
Biafras und des Hungermordes an fast zwei Millionen Ibos durch
Militärhilfe und diplomatische Schachzüge
ermöglicht. Sie ließ sowjetische Piloten 1970-71 im
Rahmen der sudanesischen Luftwaffe afrikanische Dörfer im
Südsudan bombardieren und lieferte der irakischen Armee und
Luftwaffe 1974-75 die modernsten Waffensysteme - darunter
Phosphor und Napalm, mit der diese 500 kurdische Bauernsiedlungen
zerstörte.
Die Volksrepublik China begünstigte den Überfall der
pakistanischen Armee auf Ostpakistan, dem zwei bis drei Millionen
Bengalen zum Opfer fielen. Trotz der chinesischen
Waffenlieferungen und der zynischen Grußadresse Tschou
Enlais an Pakistans Generale, musste Pakistan Bangladesh
aufgeben. Andererseits sympathisierte die Volksrepublik China mit
dem Kampf Biafras gegen "sowjetischen Sozialimperialismus und
angelsächsischen Neokolonialismus" und bildete
Angehörige der Naga-Befreiungsarmee militärisch aus,
während die UdSSR zusammen mit Indien die
Unabhängigkeit Bangladesh erzwang und die "Demokratische
Partei Kurdistans" so lange für fortschrittlich
erklärte, wie der Irak von antisowjetischen Regimes
beherrscht wurde.
Die Preisgabe internationalistischer Prinzipien zugunsten
strategischer und ökonomischer Interessen durch die
Sowjetunion beklagte der Vertreter einer kurdischen
Studentenvereinigung: "Mit einer pseudosozialistischen Diktatur
faschistischer Prägung kann sich Moskau eben besser
verbünden als mit freiheitsliebenden, aber wirtschaftlich
schwachen kurdischen Bauern, Hirten und Arbeitern, womit wieder
einmal gezeigt wird, wie ernst es die sowjetischen Machthaber mit
dem Sozialismus meinen".
Deutsche Politik: Humanitäre Hilfe und
Waffenlieferungen
"Ich zweifle daran, ob wir berechtigt sind, feierlich jenen Toten
zu gedenken, die Opfer des Völkermords geworden sind, wenn
es uns nachweislich nicht gelingt, Völkern die in unserer
Gegenwart sterben, über jene Grenze hinaus beizustehen, die
unserem karitativen Impuls durch innen- und außenpolitische
Rücksichten gesetzt werden. Was werden wir sagen, wenn, was
wir jetzt schon ahnen; in einigen Jahren nachgewiesen und
natürlich gleichzeitig dementiert wird; dass in Biafra in
unserer Gegenwart ein Völkersterben stattgefunden hat, dass
keine Gipfelkonferenz einberufen wurde; es zu verhindern? Wenige
Tage nach der Beendigung des Bürgerkrieges dort habe ich ein
Bild von brutaler Obszönität gesehen, eine wieder in
Gang gesetzten Bohrturm, der triumphierend seinen Kolben in den
Schoß der Erde stieß. Dieses Bild sagte, es ist alles
wieder normal; das bedeutet, die alten
Herrschaftsverhältnisse sind wieder hergestellt, der alte
Rahmen wieder festgefüqt, das Tabu der Innenpolitik ist
gewahrt worden, keine Einmischung in .die Außenpolitik ist
erfolgt, die gewöhnlich der Hebel der Wirtschaftspolitik
ist. Als Zeitgenosse und verstrickt mit dem Wirtschaftssystem, in
dem ich lebe, nehme ich an der Herrschaft dieses Bohrturms teil.
Wer hätte sich in Hitlers Vernichtungspolitik eingemischt,
wäre sie Innenpolitik geblieben? Manche Politiker und
Diplomaten finden es unqehörig; wenn ein Deutscher, in
dessen Zeitgenossenschaft Auschwitz fiel, sich in die Politik
anderer Länder einzumischen wagt. Soll Auschwitz auf diese
Weise zur Brüderlichkeit oder sollte es nicht zum
Anlaß für sie werden?"
Mit diesen Worten beschwor Heinrich Böll 1970
anläßlich der Woche der Brüderlichkeit die
besondere Verpflichtung unseres Landes, das sich seiner
"rassischen" Minderheiten durch Völkermord entledigte, zur
Beendigung oder Verhinderung gegenwärtiger Völkermorde
beizutragen. Mit einem bequemen Bekenntnis zu Israel und dem
offiziell gepflegten Philosemitismus haben deutsche Regierungen
erfolgreich die Vernichtung von Völkern in Übersee und
die Mitverantwortung deutscher Politik aus dem Bewusstsein der
Öffentlichkeit verdrängt.
Die Bundesrepublik Deutschland ist durch umfangreiche
wirtschaftliche Interessen an die Staaten der Dritten Welt
gebunden und nimmt mit anderen Industriestaaten an deren
Ausbeutung teil. Bereits in der ersten Hälfte der 60er Jahre
leisteten von der CDU geführte Bundesregierungen
militärische Ausrüstungshilfe an afrikanische Staaten,
u.a. an Äthiopien, Nigeria und den Sudan, für die das
Bundesministerium für Entwicklungshilfe zuständig war.
Die Militärhilfe an den Sudan im Werte von 123 Millionen DM
erfolgte auf dem Höhepunkt der von der sudanesischen Armee
an den Sudsudanesen begangenen Massaker. Deutschen Waffen und von
der Bundeswehr ausgebildeten sudsudanesischen Offizieren und
Piloten dürfte ein wesentlicher Teil der mindestens 500.000
ermordeten Südsudanesen zum Opfer gefallen sein.
Auch nigerianisches Militärpersonal, darunter Piloten,
wurden in Deutschland ausgebildet, und war insofern für den
Ernstfall, den 1967 folgenden Biafrakrieg, ausreichend
vorbereitet. Die deutschen Waffenlieferungen an das faschistische
Portugal auch durch sozialdemokratische Regierungen, die gegen
die Schwarzafrikaner Angolas und Mocambiques Anwendung fanden,
sind dank des Umsturzes in Portugal bekannt geworden. Daß
der offiziellen deutschen Weigerung, Waffen in Spannungsgebieten
zu liefern, ein besonderer deutscher Weg, durch den Aufbau von
Munitionsfabriken an der Militarisierung der Dritten Welt
teilzuhaben, gegenübersteht, bleibt jedoch weithin
unbeachtet. Die bundeseigene "Fritz Werner GmbH" baute
Munitionsfabriken u.a in Indonesien, Nigeria, dem Sudan, Pakistan
und inzwischen auch im Iran.
Den Feldzügen der vier erstgenannten Staaten gegen
Befreiungsbewegungen nationaler Minderheiten fielen - bisher -
mindestens fünf Millionen Angehörige dieser Gruppen zum
Opfer. Indonesien bekämpft weiter die Befreiungsfront der
Papuas, Pakistan führt "Befriedungsaktionen" gegen
Belutschen und Paschtunen - der Iran unterstützt den Kampf
Omans gegen die Befreiungsbewegung von Dhofar und die
pakistanische Regierung gegen die Widerstandsbewegung der
Belutschen - u.a. mit deutscher Munition.
Als während des Biafrakonfliktes die Regierung
Kiesinger-Brandt durch die fortgesetzte Bewilligung
öffentlicher Millionen für die karitative Biafrahilfe
die Empörung breiter Schichten der Bevölkerung, die
sich vor allem auch gegen die britische Unterstützung der
nigerianischen Hungerblockade richtete, erfolgreich
entpolitisierte, traf ein deutscher Entwicklungshelfer zwanzig
deutsche Techniker aus Geißenheim im Rheingau zur Wartung
der von der "Fritz Werner GmbH" errichteten einzigen
Munitionsfabrik in Nigeria an. (Außerdem warteten 10
deutsche Flugtechniker der Firma Dornier, Pfaffenhofen bei
München, die nigerianischen Bomber sowjetischer Herkunft in
Kaduna, deren Opfer einige zehntausend biafranische Zivilisten
wurden.) Es mag reiner Zufall gewesen sein, daß der
britische Premier Wilson im Februar 1969 bei seinem
Deutschlandbesuch ausgerechnet den Westberliner Zweig der "Fritz
Werner GmbH" besichtigte, während vor den Toren der von der
Polizei gesicherten Fabrik Biafrakomitees gegen die britische
Biafrapolitik demonstrierten.
Auch die deutsch-französische Gemeinschaftsproduktion von
Militärgütern findet bei kriegerischen
Auseinandersetzungen in der Dritten Welt zunehmend Verwendung.
Zuletzt kamen solche Waffen, darunter Alouette-Hubschrauber,
Raketen etc. gegen die Kurden des Irak zum Einsatz. Es erscheint
müßig zu fragen, warum es in der Bundesrepublik
Deutschland im Gegensatz zu den Ländern Skandinaviens oder
den Niederlanden unmöglich ist, die Bundesregierung oder nur
eine der großen Parteien gegen Massenmorde in Übersee
zu mobilisieren. Die Mitverantwortung der Firma Hoechst für
die Vernichtung der Ache´-Indianer Paraguays erklärt
die offiziellen Lügen des Staatssekretärs Moersch. Die
Steigerung der deutschen Exporte um 811 % in den Irak seit Anfang
1975 verdeutlicht die Haltung Herbert Wehners, die
Kurdenverfolgungen als innere Angelegenheit des Irak zu
betrachten. Was hätte der Emigrant Herbert Wehner 1933-45
über jene geäußert, die die Judenverfolgungen als
"innere Angelegenheit" Hitlerdeutschlands abtun wollten?
Auschwitz ist in der Bundesrepublik nicht zum Anlaß der
Brüderlichkeit geworden. Selbst überlebenden
osteuropäischen Juden, die in der Bundesrepublik anklopften,
wurden 1975 die Aufenthaltsgenehmigungen versagt, es sei denn,
sie konnten ihre deutsche Volkszugehörigkeit nachweisen,
während Behörden in Köln sogar alteingesessenen
sogar alteingesessenen Kölnern "Zigeunern", die die
Konzentrationslager des Dritten Reichs überlebten, 1950-67
die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen.
Bleibt nachzutragen, daß die DDR blind der oben skizzierten
sowjetischen Außenpolitik folgte und an Waffenlieferungen
und der Bereitstellung von Beraterpersonal beteiligt war. Wie die
UdSSR werden auch in den Medien der DDR systematisch solche
Befreiungsbewegungen nationaler Minderheiten diffamiert, deren
Existenz sowjetischen Interessen entgegensteht. Selbst in
wissenschaftlichen Veröffentlichungen finden sich derartige
unwissenschaftliche Polemiken wieder.
Die europäische Linke: Verweigerte
Solidarität?
Der Kampf Biafras ist heute der Kampf der Linken in der ganzen
Welt. Wenn die Linke so tut, als gehe sie daran vorbei und wenn
sie die Augen vor diesem Völkermord verschließt wie
übrigens vor vielen Stammes- und Gruppenmorden auf
ethnischer Grundlage, die sich heute in Afrika und
Südamerika ereignen, wird sie ihre anderen Aktionen in
unheilvoller Weise pervertieren, d.h sie wird als Linke gar nicht
mehr existieren.
Diese Erklärung von 22 französischen
Linksintellektuellen (November 1968) veröffentlicht in "Le
Monde" weist auf eine wunde Stelle der europäischen Linken.
Wo sich an Völkern der Dritten Welt begangene
Kriegsverbrechen, wo sich der Befreiungskampf nationaler
Widerstandsbewegungen nahtlos in in den antiimperialistischen
Kampf fügen ließ - in Algerien, Vietnam, Kambodschda
oder Mocambique - , veranstaltete die Linke gewaltige
Solidaritätsaktionen: Informationskampagnen,
Demonstrationen, materielle Hilfe.
Wo hingegen ethnische Gruppen im letzten Jahrzehnt sich gegen
Unterdrückung erhoben, wo sie völkermordartigen
Verbrechen ausgesetzt waren, wo sich Befreiungsbewegungen
nationaler Minderheiten gegen Regimes der Dritten Welt und -
häufig gegen deren Alliierte in West oder Ost zur Wehr
setzen, versagte die orthodoxe Linke im großen und ihre
Solidarität. Die Probleme der Biafraner, Kurden,
Südsudanesen, Eritreer, der Nagas wurden gewöhnlich
kaum beachtet, häufig genug wurde ihre Unterdrückung
oder Verfolgung zudem zynisch legitimiert, wurde die
denunzierende Propaganda der Verfolger kritiklos
übernommen.
Die Standpunkte der orthodoxen Linken Moskauer oder Pekinger
Richtung, etwa die Hasserfüllte Kampagne der DKP-treuen
Organisationen und Blätter der BRD gegen die kurdische
Befreiungsbewegung 1974/75, die die an den Kurden begangenen
zahlreichen Kriegsverbrechen bewusst unterschlug, als auch die
Solidarität "maoistischer" Gruppierungen mit den
chinesischen Waffenlieferungen an die pakistanischen Generale
während des Überfalls auf Ostbengalen (1971),
orientierten sich konsequenterweise an den strategischen '
Interesse der jeweiligen sozialistischen Metropole.
Wie ist die Zurückhaltung der organisierten orthodoxen
Linken erklärbar? Warum wird dem Wiederstand vieler
ethnischer Minoritäten die Solidarität versagt, derer
sie häufig um des bloßen physischen Überlebens
willens so dringend bedürfen, warum wird die objektivierbare
nationale ökonomische und politische Unterdrückung
nationaler Minoritäten so selten untersucht, warum werden
Halbwahrheitent und Entstellungen so bereitwillig
übernommen?
Es scheint, dass die verhärteten politischen Gruppierungen
in Westeuropa Widerstandsbewegungen in der Dritten Welt eher
durch Kategorien interpretieren, die aus politischen
Bedürfnissen dieser Gruppierungen abgeleitet sind als aus
den inneren Bedingungen der zu untersuchenden Bewegungen. So
werden Befreiungsbewegungen nationaler Minderheiten
eurozentrische Bestimmungen übergestülpt und
möglichst alle Tendenzen übergangen, die- sich dem
Streben nach vereinheitlichender Interpretation nicht fügen.
Dabei wäre gerade aus den inneren Reaktionsbedingungen
vornehmlich bäuerlicher Gesellschaften die Berechtigung
ihres Kampfes zu beurteilen.
Wer jedoch vorab den Interpretationszusammenhang autoritär
vorgibt, der dichtet sich gegen die eigentliche Problematik
unterdrückter Minderheitsgesellschaften ab. Wo die Frage
nach Bedürfnissen und MögIichkeiten betroffener
Völker stehen müßte, werden statt dessen
Interpretationsraster gesetzt, aus denen einfach
herausfällt, was nicht innerhalb des alles beherrschenden
Widerspruchs zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu liegen
kommt. Auf indirekte Weise sagt die Methode der Betrachtung
allerdings mehr über den Zustand betreffender linker
Gruppierungen als über ihre Analyseobjekte aus.
Einige dieser immer wiederkehrenden, an der Oberfläche
bleibenden Interpretationsraster sollen hier erwähnt werden.
Die Berechtigung des Wiederstandes einer unterdrückten oder
verfolgten ethnischen Minderheit wird an denjenigen Kräften
gemessen, die sie militärisch oder politisch
unterstützen. Beispiel: das iranische Schahregime
unterstützt die kurdische Bewegung des Irak, also ist diese
"proimperialistisch". Hinterfragt wird nicht die kurdische
Situation im Irak - wie es Kurt Greussing in seinem Kurdenbeitrag
unternimmt -, sondern vielmehr wird von den zufälligen
Allianzen, die im Falle der Kurden je nach den strategischen
Interesse der beteiligten Mächte ständig wechselten,
auf den Charakter der Befreiungsbewegung geschlossen.
Weiterhin wird Widerstands- oder Bürgerrechtsbewegungen ein
sozialistisches oder marxistisches Bekenntnis abverlangt und eine
Bewegung, die solches nicht erbringt, für reaktionär
befunden, Beispiel: die Befreiungsbewegung fast durchweg
analphabetischer südsudanesischer Bauern und Hirten wurde
zwei Jahrzehnte nicht zur Kenntnis. genommen, obwohl sie ohne
irgendwelche nennenswerte Hilfe von außen sich der
Unterstützung der südsudanesischen Bauernmassen
erfreute und militärisch wesentlich erfolgreicher war als
manche der von links favorisierten Befreiungsbewegungen.
Schließlich werden sezessionistische Bewegungen verdammt,
weil ihr "Separatismus" die "antiimperialistische Front" der
Länder der Dritten schwächt, die jeweilige
Begründung des sezessionistischen Anspruchs aber wird
außer acht gelassen, obwohl der Ruf nach der Separation
gewöhnlich das totale Scheitern eines multinationalen
Staatskonzeptes offenbart.
Dieses Beharren auf einstmals von den Kolonialmächten
gezogenen Grenzen auch gegen den ausdrücklichen Willen
unterdrückter Völker der Dritten Welt, widersprach
selbst Lenin, der entschieden das Postulat Recht auf Sezession
befürwortete: "Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
bedeutet ausschließlich das Recht auf Unabhängigkeit
im politischen Sinne, auf die Freiheit der politischen Abtrennung
von der unterdrückenden Nation. Konkret bedeutet diese
Forderung der politischen Demokratie die volle Freiheit der
Agitation für die Abtrennung und die Lösung der Frage
über die Abtrennung durch das Referendum der betreffenden,
d.h. der unterdrückten Nation. Sie ist nur ein
folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche
nationale Unterdrückung", und fügte hinzu, es sei
selbst dann nicht auf die Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechtes der Nationen zu verzichten, wenn der
Kampf ´für die nationale Freiheit´ unter
bestimmten Bedingungen von einer anderen Großmacht für
ihre ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenutzt werden
kann."
Das Unvermögen der meisten orthodoxen linken Gruppierungen,
Solidarität gegenüber ethnischen Minoritäten zu
üben, denen Ethnocid oder Genocid oder auch nur nationale
Unterdrückung droht, offenbart ein gebrochenes
Verhältnis zur Humanität. Während sich etablierte
Parteien und Regierungen vor ihrer nationalen Öffentlichkeit
durch die Leistung humanitärer Hilfe von der Bürde der
Humanität freikaufen - statt für den Stopp britischer
Waffenlieferungen an Nigeria zu sorgen, erhalten deren
biafranische Opfer Milchpulver -, nehmen viele orthodoxe linke
Gruppen im Namen des Dogmas von der Humanität Abschied. Nur
so ist zu erklären, dass große TeiIe der Linken vor
vielen Gruppen- und Stammesmorden auf ethnischer Grundlage die
Augen verschließen.
Ein skurriles Beispiel: Als die britische Labourregierung die
Agonie Biafras inszenierte und der britische Premier seine
nigerianischen Vasallen im Hafen von Lagos auf einem Kriegsschiff
empfing, veranstaltete die britische Linke
Vietnam-Massendemonstrationen, von den leidenden biafranischen
Brüdern, den Opfern von Shell-BP, Unilever, von Labour und
Breschnew war nicht die Rede.
Dieser verweigerten Solidarität stehen zwei wegweisende
Beispiele auch für die Zukunft gegenüber. Chile und
Prag, zwei durch den lmperialismus zu Fall gebrachte Versuche,
demokratischen Sozialismus zu verwirklichen, bewältigten
ihre Minderheitenprobleme und nahmen politische Nachteile in
Kauf, um für die Interessen von Minderheiten in Übersee
einzutreten. Die sozialistische Regierung Chiles gab den Mapuche
ihre Ländereien zurück - später nach dem
faschistischen Putsch wurden zweieinhalbtausend von ihnen
ermordet - Allende protestierte bei der sowjetischen Regierung
gegen die Diskriminierung der Juden. In Prag sorgte man für
die Gleichberechtigung der ungarischen, polnischen und deutschen
Minderheit - die Regierung Dubcek stoppte als erstes Land aus
humaner Motivation die Waffenlieferungen an Nigeria - nach der
sowjetischen Invasion wurden sie im Februar 1969 wieder
aufgenommen.
Kirchen für Minderheiten?
Einige "Rebellionen" von Minderheiten in der Dritten Welt
während der letzten Jahre gingen von christianisierten
VöIkern aus - von Biafranern, Nagas oder Wahutus - oder von
Völkern mit christianisierten Eliten - wie Südsudanesen
oder Papuas. Westliche Kirchen sind von den betroffenen
Regierungen beschuldigt worden, diese Konflikte geschürt zu
haben. Untersucht man diese Vorwürfe, bleibt kaum mehr als
die lntentionen dieser Staaten, für innere Schwierigkeiten
äußere Faktoren verantwortlich zu machen.
ChristIiche Nagas, Papuas oder Südsudanesen haben im
Gegenteil zu Recht das Schweigen, das Desinteresse oder die
Hilflosigkeit europäischer oder amerikanischer Mutterkirchen
zu den Genociden an ihren Völkern verurteilt. Der Vatikan
hat zwar gegen die Ausweisung katholischer Missionare aus dem
Südsudan protestiert, sich aber andererseits immer wieder
mit sudanesischen Regierungen im Interesse der Missionsschulen im
arabischen Nordsudan und den dortigen christlichen Minderheiten
auf Kosten der Südsudanesen zu arrangieren versucht.
Ein von den Verona-Vätern herausgegebener
Südsudan-Informationsdienst, der systematisch Informationen
über den an den Südsudanesen begangenen Genocid
gesammelt hatte, musste auf Intervention des Vatikans hin
eingestellt werden. Man wird dem Vatikan wie dem Weltkirchenrat
angesichts der furchtbaren Massaker im Südsudan den Vorwurf
nicht ersparen können, aus diplomatischen Erwägungen
gegenüber der arabischen Welt übermäßige
ZurückhaItung geübt zu haben.
Auch die frag würdige Rolle des Weltkirchenrates beim
Zustandekommen des Friedensabkommens im Südsudan kann dieses
Versagen nicht aufheben. Im übrigen scheinen politische
Rücksichtsnahmen der Kirchen etwa auf die indischen,
indonesischen oder irakischen Christen ein Eintreten gegen
Verfolgungen von Nagas, Papuas oder Kurden verhindert zu
haben.
Der Biafra-Konflikt provozierte eine außerordentliche Welle
der Solidarität der Öffentlichkeit vieler westlicher
Staaten mit der Sache Biafras, während deren Regierungen mit
ganz wenigen Ausnahmen mehr oder weniger offen die nigerianische
Zentralregierung unterstützten. Den Plan zur Aushungerung
Biafras versuchten 35 vorwiegend kirchliche Hilfsorganisationen
aus 31 Staaten mit der Einrichtung einer internationalen
Luftbrücke, der "joint church aid", in den Biafrakessel zu
vereiteln. Dabei setzten sie neue beispielhafte
Maßstäbe der Humanität insofern, als sich ihre
Luftbrücke über den nationalen
Souveränitätsanspruch Nigerias hinwegsetzte. Der
zweite, in der Konsequenz notwendige Schritt, die
Verantwortlichkeit westlicher Regierungen und multinationaler
Konzerne für die Abschnürung Biafras herauszustellen
und international anzuprangern, unterblieb oder wurde nur in
zaghaften Ansätzen unternommen.
Nach dem militärischen Zusammenbruch - nichts zählt in
unseren Leistungsgesellschaften mehr als der Erfolg (Yakubu Gowon
und HaroId Wilson blieben erfolgreich, Adolf Hitler war es nicht,
darum schrieb Afrikas vielleicht bedeutendster Schriftsteller,
der Biafaner Chinua Achebe, nach dem Kollaps Biafras ein Gedicht
"Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte") - konnte der
zynische, an die beteiligten Kirchen erhobene Vorwurf des
nigerianischen Diktators, die kirchliche Hilfe hätte den
Krieg verlängert und die Zahl der Opfer erhöht, nicht
ausbleiben. Den ganzen Zynismus dieser Argumentation entlarvte
das gleichzeitige nigerianische Verbot, die Kirchenhilfe für
die Hungergebiete fortzusetzen, das noch einmal den Hungertod
Tausender zur Folge hatte.
Heute ist der Vorwurf des siegreichen nigerianischen Staatschefs
vielerorts zu hören, auch von innerhalb der Kirchen, obwohl
gerade jene Stimmen bisher einer kritischen Auseinandersetzung
mit den Hintergründen des Biafrakonfliktes ausgewichen sind.
Die Angst vor der eigenen Courage nach dem verlorenen Biafrakrieg
hat die Kirchen so seht verunsichert, daß sie während
der folgenden Krisen in Ostbengalen (1971) und in Kurdistan
(1974/75) die nationale Souveränität der
Zentralregierungen nicht mehr in Frage stellten und die
eingeschlossene kurdische und bengalische Zivilbevölkerung
nur ungenügend unterstützen konnten.
Mit dem Antirassismusprogramm, dem Eintreten für die Opfer
des weißen Rassismus im südlichen Afrika und für
indianische und schwarz-australische Minderheiten hat der
Weltkirchenrat begonnen, Völkern, die Opfer des Rassismus
geworden sind, mit einem Hilfsprogramm beispielhafte
Unterstützung zuteil werden zu lassen. Gleichzeitig negiert
der Rat aber ständig, völkermordähnliche
Verbrechen in Asien und Afrika, wie etwa den Massenmord an
Burundis Hutus, oder begünstigte die irakische Aggression
gegen die Kurden. Diese "selektive" Humanität ist durch das
verstärkte Gewicht osteuropäischer und afrikanischer
Mitgliedskirchen im Rat erklärbar.
Erfreulichere Perspektiven eröffnet der Weg vieler
katholischer Kirchen in Lateinamerika, sich dem Problem der
doppelten Unterdrückung der indianischen Völker zu
stellen und deren Bürgerrechts- und Bauernbewegungen zu
unterstützen.
Der europäische Nationalstaat für die Dritte
Welt?
Minderheitenkonflikte in Europa haben seit Kriegsende nicht mehr
zu Massenmorden an ethnischen Gruppen geführt. Der Kampf der
baskischen ETA gegen spanischen Faschismus für ein
unabhängiges sozialistisches Baskenland und die Rebellion
der Kampforganisationen nordirischer Katholiken gegen ein
britisch regiertes Nordirland - verdeutlichen, dass selbst in
Westeuropa gewaltsame Erhebungen nationaler Minderheiten
möglich sind.
In vielen westeuropäischen Staaten beklagen ethnische
Gruppen die Bedrohung ihrer nationalen Identität, ihrer
Sprache und Kultur oder auch die ökonomische
Vernachlässigung ihrer Regionen. Die Klagen der Basken und
Katalanen, der Korsen und Bretonen, der Kärntner Slowenen
und Südtiroler, der Schotten und Waliser machen
bewußt, dass in Westeuropa Minderheitenprobleme - mit
Ausnahmen wie der Schweiz, die ihren aufsässigen
Franco-Jurassiern gerade einen eigenen Kanton zusagte - nicht
überzeugend gelöst sind.
In den sozialistischen Staaten Osteuropas dominiert weithin der
Nationalismus der Staatsvölker: Polens Regierung versagt
seinen 300.000 nach 1945 deportierten Ukrainern die Rückkehr
in seine Südostprovinz und verjagte durch eine
"antizionistische" Kampagne 20.000 seiner 30.000 - den Holocaust
der Nazis - überlebenden Juden und schürt in einem
Land, fast ohne Juden, weiter den Antisemitismus, in der
Südslowakei fühlen sich die 500.000 Ungarn - 400.000
wurden 1945 nach Ungarn zwangsumgesiedelt - aIs Bürger
zweiter Klasse, Rumänien beseitigte die Autonomie seiner
ungarischen Skeklerprovinz, Bulgarien verweigert seiner halben
Million Türken türkische SchuIen. Zwar hat die UdSSR
ihren nichtrussischen Nationalität zahlreiche Rechte
eingeräumt, doch yermissen Sowjetdeutsche und Juden
wesentliche Möglichkeiten der Wahrnehmung kultureller und
sprachlicher Autonomie, fordern Krimtataren, Meschier und
wiederum Sowjetdeutsche die Wiedererrichtung ihrer von StaIin
liquidierten Heimatrepubliken und die Rückkehr ihrer
Völker dorthin.
Wenn schon in den hochindustrialisierten Staaten der Ersten und
Zweiten Welt wenig Bereitschaft besteht; legitime Rechte
ethnischer Minoritäten anzuerkennen, nimmt es nicht wunder,
daß in den sozioökonomisch labileren Staaten der
Dritten Welt solche Konflikte - nicht zuletzt dank
Waffenlierungen aus Ost und West - zu Eruptionen führen
können.
In den meisten schwarzafrikanischen, asiatischen und in vielen
lateinamerikanischen Staaten sind mehrere ethnische Gruppen
ansässig. In vielen dieser Länder konnten gravierende
Nationalitätenkonflikte vermieden werden, so gibt es in der
Mehrzahl der schwarzafrikanischen Staaten so viele ethnische
Gruppen, daß eine einzige kaum die anderen, zu dominieren
vermag. In den Ländern Lateinamerikas hat der Kampf der
Indios um soziale und ökonomische Gleichberechtigung erst
begonnen, er geht meist Hand in Hand mit dem Kampf um die
Erhaltung der jahrhundertelang unterdrückten Nationalkultur.
Militärisch scheinbar geIöste Konflikte - die
Niederwerfung der Biafraner oder der irakischen Kurden sind nur
aufgeschoben und werden in anderer Form wiederkehren. Der
Aufstand der Vierten Welt wirft für die Staaten der Dritten
WeIt dabei zwei wesentliche Fragen auf:
1) Die Frage nach der Legitimität der bestehenden, von
Kolonialmächten gezogenen Grenzen:
Hier schneidet sich (z.B. deutlich in Biafra) das
völkerrechtliche Prinzip der Kontinuität der
Legitimität - ein Staat ist legitim, weil er z.B. auf einer
britischen Kolonie aufbaut - mit dem Selbstbestimmungsrecht der
Völker. Julius Nyerere hat in seiner Rede zur Anerkennung
Biafras darauf hingewiesen, dass es Fälle geben kann, wo die
von einer betroffenen Bevölkerung um jeden Preis
gewünschte Veränderung der Kolonialgrenzen
vernünftiger sein kann als deren Erhaltung um den Preis der
Vernichtung der Betroffenen. Eritrea wäre eine solche
Lösung heute zu wünschen. Andererseits wäre gerade
in Schwarzafrika die Überwindung der kolonialen Grenze auch
durch Zusammenschlüsse kleiner Staaten denkbar.
2) Die Frage nach dem Sinn von auf "Nationen" gegründeten
Staaten:
Während in Europa herrschende nationale Mehrheiten das
Problem der Minderheiten meist für so
`geringfügig´ erachten, dass sie ihr nationalen
Selbstbewusstsein nicht in Frage stellen, erweist sich in vieIen
anderen Teilen der Welt immer deutlicher die Unmöglichkeit,
"homogene" Nationen zu schaffen. Der Versuch der nationalen
Homogenisierung nach europäischem Vorbild provoziert den
"Tribalismus" - die Beschränkung der Loyalität auf die
ethnische Gruppe statt auf die "Nation" - , der von westlichen
Experten und afrikanischen Eliten als besondere Bedrohung der
jungen Staaten dargestellt wird. Es bleibt ab zuwarten, ob nicht
überlieferte Bindungen an Dorfgemeinschaft und die ethnische
Gruppe und die Akzeptierung der kulturellen und ethnischen
Vielfalt eher für den sozialen Wandel in Anspruch genommen
werden können als in Europa konzipierte Modelle des
NationaIstaates.
Menschenrechtsorganisationen für Minderheiten
Der Kampf unterdrückter, unterprivilegierter und verfolgter
ethnischer Minderheiten, der Kampf der Vierten Welt um Bewahrung
und Entwicklung ihrer Identität,. um Erhaltung oder
Wiedererlangung ihrer Landbasis, um Selbstverwaltung oder
nationale Unabhängigkeit ist Teil des weltweiten
Emanzipationsstrebens der Völker. Da Bestrebungen von
Bürgerrechts- und Befreiungsbewegungen nationaler
Minderheiten immer wieder vitale ökonomische und
strategische Interessen nicht nur westlicher Industrieländer
und multinationaler Konzerne, sondern auch der Staaten der
Dritten WeIt und der Länder des sozialistischen Lagers
berühren, finden sich von Fall zu Fall wechselnde, aber in
der Regel mächtige Allianzen gegen die zusammen.
Unter Berufung auf das Nichteinmischungsprinzip werden die
Minderheitenkonflikte zu inneren Angelegenheiten betroffener
Staaten erklärt, und es wird versucht, jede internationale
Solidarität abzublocken, Emanzipationsbewegungen nationaler
Minderheiten zu liquidieren und Verbrechen des Ethnocids und
Genocids zu verschleiern. Diesem weltweiten Verbundsystem der
Repression, "der Weltherrschschaft der Gangster" - wie Sartre es
nannte - versuchten kleine Aktionskomitees entgegenzuwirken, die
sich jeweils spontan in verschiedenen westlichen Ländern
bildeten und die sich meist schnell und pragmatisch zu
internationaler Zusammenarbeit zusammenfanden.
Häufig erhoben auch einzelne Persönlichkeiten der
demokratischen und humanistischen Linken wie Sartre in
Frankreich, Gollwitzer in Deutschland, Sacharow in der
Sowjetunion oder Senator McCarthy in den USA ihre Stimme, um
gegen Verfolgungen von Minderheiten zu protestieren. Doch
kurzlebige Aktionskomitees reichen nicht aus, um der
"Weltherrschaft der Gangster" zu begegnen. Es müssen
kontinuierlich arbeitende Menschenrechtsorganisationen für
Minderheiten geschaffen werden, die planmäßig und
überlegt als Anwälte verfolgter ethnischer Gruppen
auftreten, die die Forderungen von deren Repräsentanten
bekanntmachen, eine sensationsorientierte Presse immer wieder
motivieren, durch eigene Publikationsorgane Multiplikatoren und
Engagierte ansprechen, die Gewerkschaften, Parteien, Kirchen und
Parlamentarier mobilisieren und humanitäre, edukative und
Entwicklungshilfe jnitieren.
Im angelsächsischen Bereich wären zwei solcher
Initiativen zu benennen: die "Minority Rights Group" in London
beschränkt ihr Wirken bisher auf den Informationssektor, hat
aber mit ihren Reporten die Aufmerksamkeit der
angelsächsischen Presse gefunden. "Survival International"
konzentriert seine Arbeit auf Stammesvölker und
unterstützt in enger Zusammenarbeit mit deren Räten und
Organisationen Projekte auf kooperativer Basis, die aus den
Traditionen kollektiv bestimmter Gesellschaften herrühren,
ihnen neue ökonomische Grundlagen schaffen sollen. Die
"Gesellschaft für bedrohte Völker", einst deutscher
Zweig von "Survival International", gibt in ihrer Reihe "pogrom"
Materialien zur Situation von Minderheiten heraus und versucht in
Fällen akuter Verfolgung tätig zu werden. Wie die
Arbeit von "amnesty international" für politische Gefangene
deren Existenz nicht ganz aus der Welt schaffen kann, werden die
neuen Minderheitenschutzorganisationen Verfolgung ethnischer
Gruppen nicht beseitigen können.
Das Aufbegehren verfolgter Minderheiten in vielen Teilen der Welt
könnte nicht nur verstärkte Repression zur Folge haben,
sondern auch zur Entwicklung konstruktiver multinationaler
Modelle führen. Autonomieversprechen in jüngster
Vergangenheit - wie im Irak an die Kurden, wie im Sudan an die
Südsudanesen und in Indien an die Nagas - brachten eher neue
Formen der Unterdrückung als Alternativen für die
Zukunft. Doch schon ihr Vorhandensein offenbart das
Eingeständnis, daß Mittel der Unterdrückung
Konflikte nicht dauerhaft lösen können.
Nach Gandhi wären Gesellschaften danach zu beurteilen, wie
sie ihre Minderheiten behandeln. Vor diesem Urteil würden
bis heute nur wenige Staaten bestehen.
Tilman Zülch. Von denen keiner spricht -
Unterdrückte Minderheiten - von der Friedenspolitik
vergessen (z.B. Kurden, Basken, Chicanos, Indios, Meschier u.a)
Rororo-aktuell - 1975.