Logo


In: Home > DOSSIER > Die Welt ernähren, Nahrung für alle. Die Herausforderung einer nachhaltigen Landwirtschaft

Sprache: DEU | ITA


Die Welt ernähren, Nahrung für alle

Die Herausforderung einer nachhaltigen Landwirtschaft

Pogrom bedrohte Völker Nr. 283, 4/2014

Bozen, März 2015

Indice

Editorial, Sabrina Bussani | Brasile. Die Lage der Guaraní: Sterben, um zu leben | Brasilien: Wer Amazonien retten will, muss auch die Rechte der indigenen Völker verteidigen | Mali: Kostbares Land, kostbares Wasser | Westjordanland/Israel: Das Lebensmotto der Familie Nassar wurde auf eine harte Probe gestellt

Editorial [ oben ]

Von Sabrina Bussani

Die Welt ernähren, Nahrung für alle. Die Herausforderung einer nachhaltigen Landwirtschaft, pogrom / bedrohte Völker 283 (4/2014). Die Welt ernähren, Nahrung für alle. Die Herausforderung einer nachhaltigen Landwirtschaft, pogrom / bedrohte Völker 283 (4/2014).

Liebe Leserinnen und Leser,

Die Weltbevölkerung beträgt zur Zeit circa 7 Milliarden Menschen, aber sie ist im Wachsen. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen werden wir bereits im Jahr 2050 in 9 Miliarden sein. Nicht nur die Energieversorgung für so viele Mernschen macht Sorgen, auch eine genügende Nahrungsproduktion stellt für viele eine Herausforderung dar. Regierungen und wirtschafltiche Akteure schliessen Vereinbarungen ab, die den Import von billigen Agrarprodukten ermöglichen. Gleichzeitig versuchen multinationale Konzerne und Regierungen seit Jahren, sich große Landflächen im so genannten Süden der Welt zu garantieren und verfechten die Notwendigkeit einer - ökologisch meist untragbaren - industriellen Agrarproduktion. Ganze Bevölkerungsgruppen werden von ihrem Land vertrieben, um Platz zu machen für Wasserkraftwerke mit dazugehörenden Stauseen oder großen Monokulturplantagen zur Gewinnung von so genanntem Biosprit und von Billigprodukten für die Nahrungsindustrie. So kommt es auch, daß Konsumenten in Europa Im Supermarkt billige Tomaten aus der West-Sahara Wüste finden, oder daß kleine Landwirte im Süden der Welt praktisch von einem Tag zum anderen ihr Land verlieren und plötzlich in sklavenähnlichen Verhältnissen genau jenes Land bearbeiten, das noch kurze Zeit zuvor ihnen gehört hatte und von dem ganze Familien leben konnten.

All das geschieht im Namen der Entwicklung. Eine Entwicklung, die jedoch meist nur neue Armut und Hunger produziert. Denn die Armut ist, laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), die Vorstufe zu Unterernährung und Hunger. Die FAO sagt uns auch, dass heute ungefähr 850 Millionen auf der ganzen Welt Hunger leiden. Laut Unicef sind davon 200 Millionen Kinder unter 5 Jahren betroffen. Weiters stellt Unicef fest, dass täglich ungefähr 3.800 Kinder unter 5 Jahren an den Folgen der Unterernährung sterben.

Gleichzeitig aber wurde in der Wekt noch nie so viel Nahrung produziert wie heute. Jean Ziegler, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung behauptet gar "die derzeitige Weltlandwirtschaft könnte problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren". Warum dann soviel Hunger in der Welt? Laut Ziegler liegen die Hauptgründe in der Profitgier multinationaler Konzerne und in der finanziellen Spekulation mit Nahrungsmitteln. "Wir haben", sagt Ziegler, "ein kannibalistisches System geschaffen". Das System aber ist nicht unveränderbar. Der Mensch hat es geschaffen und der Mensch kann es auch ändern. Und damit dies geschieht, braucht es nicht viel. Jean Ziegler nach, würde ein "Aufstand des Gewissens" der Zivilgesellschaft genügen.

Mit dieser Ausgabe unserer Zeitschrift wollten wir einen Eindruck über die verschiedenen Facetten der Nahrung vermitteln. Angefangen von den kulturellen Aspekten der Nahrung über die ganz konkreten und täglichen Auswirkungen neoliberaler Agrarpolitiken bis hin zu nachhaltigen landwirtschaftlichen Projekten, die versuchen, Frieden und Menschenwürde miteinander zu verbinden.

Wir wünschen allen eine angenehme und interessante Lektüre!

Sabrina Bussani

[Titelbild] Piyanco heißt dieser junge Asháninka, der in der Gemeinde Apiwtxa im brasilianischen Bundesstaat Acre zuhause ist. Mit viel Engagement haben die Asháninka das Ausbildungszentrum Yorenka Ãtame ins Leben gerufen, um ihr Wissen auch Nicht-Indigenen zu vermitteln. Während die Asháninka ihre Kultur noch pflegen können, kämpfen viele andere indigene Gemeinschaften für die Anerkennung ihrer Rechte, die eigentlich 1988 in der brasilianischen Verfassung festgeschrieben wurden, doch allzu häufig von Brasilien missachtet werden. Foto: Ministério da Cultura/Flickr BY 2.0.

Brasilien [ oben ]

Die Lage der Guaraní: Sterben, um zu leben

Von Sabrina Marie Rommerskirchen

"Wir können nicht länger tatenlos zusehen. Vielleicht ist dies das letzte Mal, dass wir unsere Stimme erheben … Aber wir dürfen keine Angst haben. Denn wir sind in unserem Land. Wir sind auf unserem Grund und Boden. Unsere Väter wurden hier geboren, hier leben sie. Wir können gar nicht sagen, wie lange schon, die Geschichte unseres Volkes ist sehr alt. Deshalb müssen wir unsere Stimme erheben", ruft der Guaraní Marcal Tupa zum Widerstand auf.
(Marcal Tupa, Guaraní)

Diese Guaraní, insgesamt 40 Familien, wurden 2003 von ihrem Land vertrieben. Bis heute kämpfen sie dafür, wieder zurückkehren zu dürfen. Foto: Percurso da Cultura/Flickr BY-SA 2.0. Diese Guaraní, insgesamt 40 Familien, wurden 2003 von ihrem Land vertrieben. Bis heute kämpfen sie dafür, wieder zurückkehren zu dürfen. Foto: Percurso da Cultura/Flickr BY-SA 2.0.

"Das Land hier ist mein Leben. Meine Seele. Wenn du mir das nimmst, nimmst du mir mein Leben", klagte der Guaraní Marcos Veron der Menschenrechtsorganisation Survival International 2010 in einem Interview. Die Guaraní sind mit etwa 51.000 Angehörigen das größte indigene Volk Brasiliens. Sie hofften, dass die Fußball-Weltmeisterschaft und die bevorstehenden Olympischen Spiele die Aufmerksamkeit auf die Not der indigenen Gemeinden in Brasilien lenken. Und dass die brasilianische Regierung endlich notwendige Schutzmaßnahmen beschließen würde. Doch sie wurden enttäuscht. Brasilien versuchte in den Sommermonaten 2014 nur, sich als ein Staat zu präsentieren, der die Rechte der Indianer groß schreibt. Konkret änderte sich für die Indigenen jedoch nichts.

Bei den Guaraní ist die Selbstmordrate so hoch wie bei keinem anderen indigenen Volk des südamerikanischen Landes. Nach Angaben von Survival International nahmen sich zwischen 1986 und 1997 244 Guaraní das Leben. Allein 72 Suizide meist junger Leute zwischen 15 und 30 Jahren gab es im Jahr 2013. Es ist ihre Form eines nahezu aussichtslosen Protests. Diese Verzweiflungsakte haben die Guaraní und ihre Situation in den vergangenen Jahren weltweit bekannt werden lassen: Profitgierige Großgrundbesitzer haben das Land der Indianer in Beschlag genommen. Deshalb campieren viele Guaraní neben viel befahrenen Straßen ohne sauberes Wasser, ohne ausreichend Nahrung, ohne medizinische Versorgung, ohne die Möglichkeit, Traditionen zu pflegen und Zeremonien abzuhalten, was ihrem Glauben nach nur auf dem Land ihrer Vorfahren möglich ist.

Die Verdrängung der Guaraní aus ihren ursprünglichen Territorien begann bereits kurz nach dem TripelAllianz-Krieg (1864-1870), in dem Paraguay gegen die verbündeten Staaten Argentinien, Brasilien und Urugu-ay kämpfte. Schon damals wurden die Guaraní rücksichtslos von ihrem Land vertrieben, um es landwirtschaftlich zu nutzen. Besonders im Bundesstaat Mato Grosso do Sul prägen heute Monokulturen von unvorstellbarer Größe das Landschaftsbild. Die Wälder wurden weitgehend gerodet, um Mate, Soja und Zuckerrohr anzubauen. Ohne Wald können die Guaraní ihre traditionelle Lebensweise nicht pflegen. Sie sind keine Nomaden, sondern leben von der Jagd, vom Fischen und allem, was der Wald ihnen bietet.

Der Name ist nicht wirklich Programm: 'Dichter Wald des Südens' bedeutet Mato Grosso do Sul übersetzt. Doch dieser wurde für die Anlage von Plantagen nahezu vollständig in dem Bundesstaat abgeholzt. Monokulturen, so weit das Auge reicht, prägen nun das Landschaftsbild. Foto: Percurso da Cultura/Flickr BY-SA 2.0. Der Name ist nicht wirklich Programm: "Dichter Wald des Südens" bedeutet Mato Grosso do Sul übersetzt. Doch dieser wurde für die Anlage von Plantagen nahezu vollständig in dem Bundesstaat abgeholzt. Monokulturen, so weit das Auge reicht, prägen nun das Landschaftsbild. Foto: Percurso da Cultura/Flickr BY-SA 2.0.

Immer wieder versuchen Guaraní, sich wieder auf ihrem traditionellen Land niederzulassen, das jetzt offiziell Farmern gehört. Die Antwort der Viehzüchter und Plantagenbesitzer ist in aller Regel skrupellose Gewalt. Nicht selten schießen sie einfach auf die Guaraní, wenn sie es wagen, sich auf ihren Flächen zu zeigen. Häufig steckt die Polizei mit den Farmern unter einer Decke.

Den Guaraní sind nur kleine unzusammenhängende Territorien geblieben. So drängen sich im Reservat Terra Indígena Dourados in Mato Grosso do Sul mehr als 12.000 Guaraní auf 35 Quadratkilometern, das entspricht rund 340 Einwohnern pro Quadratkilometer. Viele Guaraní sind dazu gezwungen, in Dörfern weit entfernt von ihrem traditionellen Territorium zu leben. Zurzeit liegen zwar mehrere Gesetzesentwürfe vor, die Gebiete der Guaraní zu demarkieren - das heißt, die Grenzen offiziell festzulegen - allerdings zu ihren Ungunsten. Sollten die Gesetze wirksam werden, werden die Indianer noch mehr Land verlieren. Was wird ihnen dann noch bleiben?

Weil viele Guaraní ihre traditionelle Lebensweise aufgeben mussten und sich deshalb auch nicht mehr selbst versorgen können, müssen sie auf Plantagen arbeiten - zumeist unter sklavereiähnlichen Bedingungen. Bei minimaler Bezahlung müssen in bis zu zwölf Stunden täglich mehrere Tonnen Zuckerrohr geschnitten werden. Dabei kommen die Arbeiter direkt mit gesundheitsschädlichen Spritzmitteln in Kontakt, die ausgebracht werden, um das Wachstum des Zuckerrohrs zu beschleunigen. Die Zuckerrohr verarbeitenden Fabriken bieten ihren Arbeitern selten Mahlzeiten, Unterkunft oder medizinische Versorgung an. Ein Plantagenarbeiter hält durchschnittlich 15 Jahre durch. Das brasilianische Gesetz sieht zwar eine Gefängnisstrafe von zwei bis acht Jahren vor, wenn Fabrik- und Plantagenbesitzer ihre Angestellten unter unsäglichen Bedingungen arbeiten lassen. Bisher ist es jedoch noch zu keiner Verurteilung mit Freiheitsentzug gekommen. Viele kommen mit einer Geldstrafe davon.

Dies alles mag die Verzweiflung der Guaraní und die hohe Selbstmordrate erklären. Vor allem für die jüngere Generation scheint es aussichtslos darauf zu warten, dass ihre Rechte anerkannt werden. Doch wie lange wird dies noch weitergehen? Wie viele Guaraní werden sich noch das Leben nehmen, bis die Regierung endlich handelt? Der Guaraní-Kaiowá Anastácio Peralta zumindest ist pessimistisch: "Das Volk der Guaraní war wie ein Fluss, der langsam in seinen Bahnen floss, als ein riesiger Fels ins Flussbett geworfen wurde und ihn in alle Richtungen trieb."

Nach Angaben des Indianermissionsrates (CIMI) und der brasilianischen Gesundheitsstiftung Fundação Nacional de Saúde gibt es etwa 51.000 Guaraní in Brasilien. Allein 40.000 von ihnen leben im Bundesstaat Mato Grosso do Sul; die anderen 11.000 verteilen sich auf die Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná, São Paulo, Rio de Janeiro und Pará. Unter den Guaraní wird zwischen drei Gruppen unterschieden: Kaiowá, Mbyá und Ñandeva. In Mato Grosso do Sul sind vor allem die Guaraní-Kaiowá und die Guaraní-Ñandeva ansässig.

[Zur Autorin] Sabrina Marie Rommerskirchen hat einen BachelorAbschluss in European and International Laws an der Universität Maastricht erworben und spezialisierte sich im Masterstudiengang Globalisation and Law auf Menschenrechte. 2007/2008 verbrachte sie im Rahmen eines Schüleraustausches zwölf Monate in Brasilien. Sie absolvierte außerdem ein Praktikum bei der deutschen Botschaft in Brasília und ist seitdem auch privat häufig nach Brasilien gereist. Während eines Praktikums bei der Gesellschaft für bedrohte Völker(GfbV) hat sich Rommerskirchen mit der Lage der indigenen Bevölkerung in Brasilien auseinandergesetzt.

Brasilien [ oben ]

Wer Amazonien retten will, muss auch die Rechte der indigenen Völker verteidigen

Der Anbau von Soja, Mais und Baumwolle ist dafür verantwortlich, dass die rund 15.300 Xavante im brasilianischen Bundessstaat Mato Grosso do Sul ihr Land und ihre kulturelle Identität zu verlieren drohen. Paul Jay von Real News Network, einem Internetfernsehsender, der in Baltimore/USA stationiert ist, interviewte im August 2014 dazu Hiparidi Top'Tiro. Der Xavante ist seit 1996 Präsident der indianischen Vereinigung Xavante Warãund gründete 2006 die Mobilisierung der indigenen Völker des Cerrado.

Bis hierhin und nicht weiter! Hiparidi Top'Tiro zeigt die Grenze zwischen dem Gebiet der Xavante und den Sojaplantagen. Foto: Gerry Hadden/PRI.org. Bis hierhin und nicht weiter! Hiparidi Top'Tiro zeigt die Grenze zwischen dem Gebiet der Xavante und den Sojaplantagen. Foto: Gerry Hadden/PRI.org.

RNN: Warum haben Sie die Mobilisierung der indigenen Völker des Cerrado gegründet?
Hiparidi Top'Tiro: In Brasilien gibt es sechs große Ökosysteme: das Amazonasgebiet, das die größte Bedeutung für die Welt hat, den Cerrado, die Caatinga, das Pantanal, den Atlantikwald und die Pampa (1). Vier dieser Gebiete genießen nahezu keinen Schutz von der brasilianischen Regierung. Die Mobilisierung der indigenen Völker des Cerradowurde gegründet, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch der Cerrado geschützt werden muss, denn niemand schenkte ihm Beachtung. Jeder konnte dort nach Herzenslust und in jedem gewünschten Umfang Soja, Baumwolle und Mais anbauen. Die Gesetzgebung für den Amazonas ist sehr viel strenger. So legt die Umweltgesetzgebung Brasiliens fest, dass zwar 32 Prozent Amazoniens, aber nur 22 Prozent des Cerrado unberührt bleiben müssen. Wir, die indigenen Völker des Cerrado, haben uns organisiert, um unsere Kultur zu erhalten. Wir glauben, dass als Folge einer Entwaldung des Cerrado mit den Tieren und den Vögeln auch unsere Spiritualität als indigenes Volk ganz und gar verschwinden wird.
Es begann mit einem zeremoniellen Lauf, den die Vereinigung der Xavante Warãorganisierte. Danach hat Xavante Warãdann ihrerseits die Vereinigung der Krahô zu einem Lauf eingeladen, eine Untergruppe der Timbira. Allmählich wurden wir immer mehr. Im Cerrado leben auch Quilombolas (2). Wir haben auch mit ihnen Kontakt aufgenommen. Wir haben erkannt, je mehr Menschen wir zusammenbringen, indigene und andere traditionelle Völker, umso besser können wir auf die Zerstörung des Cerrado und die Notwendigkeit, ihn zu schützen, aufmerksam machen. Mit jedem gefällten Baum verlieren indigene Völker einen Teil ihrer Kultur. Die Xerente zum Beispiel haben ihr ganzes Wissen, alle ihre Erinnerungen verloren. Sie vergessen ihre Sprache, die Namen von Pflanzen und Vögeln, die es nicht mehr gibt. Wir mussten uns auch mit den Quilombolas zusammenschließen, um noch mehr Verbündete zu gewinnen, damit die brasilianische Regierung uns endlich zuhören muss. Die große Herausforderung für uns ist es, für den Cerrado eine Umweltgesetzgebung zu bekommen, die ebenso bindend ist wie die für Amazonien. Bislang haben wir erreicht, dass das Umweltministerium ein Cerrado-Zentrum geschaffen hat. Es ist jedoch nicht mit dem Zentrum für Amazonien vergleichbar, denn es hat keinen Etat.

RNN: Welche Auswirkungen hat die industrielle Agrarwirtschaft auf das alltägliche Leben in Ihrem Gebiet?
Hiparidi Top'Tiro: Am schlimmsten ist, dass die Giftstoffe, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden, das Wasser verseuchen. Außerdem verschwindet dort, wo der Sojaanbau zunimmt, das Wild, das wir jagen. Die Tiere, Pekaris und Tapire, suchen außerhalb unseres Reservats nach Nahrung. Sie fressen in den Feldern Soja und Mais und werden dick. Wenn das Jagdwild dann auf unser Land zurückkehrt, sind die Tiere fett und ihr Fleisch ist fett. Das ist nicht gut für die Gesundheit unserer Kinder. Es ist auch schwieriger geworden, Rohmaterial für unsere Bogen und Pfeile zu bekommen. Wir finden es nicht mehr auf unserem Land und müssen unser Reservat verlassen, um es nahe der angrenzenden Farmen zu holen. Die Landwirtschaft hat auch Auswirkungen auf unsere Ehezeremonien. Bei einer Heirat wird nach unserem Brauch Wildfleisch verschenkt. Die Tiere müssen wir inzwischen auf Ländereien jagen, die uns nicht mehr gehören. Zudem wachsen die Früchte nicht mehr so gut wie einst. Wir müssen jetzt unser mittlerweile zu klein gewordenes Land verlassen, um genug davon zu sammeln. Wir haben auch Probleme, alle die Dinge zu bekommen, die wir für unsere Rituale brauchen. Deshalb können wir unsere Zeremonien nicht mehr so häufig durchführen, wie es nötig wäre. Auch Träume sind sehr wichtig für uns. Damit ich zum Beispiel meinen Namen, Hiparidi, bekommen konnte, musste ihn zunächst jemand träumen. Wenn es also keinen Cerrado mehr gibt, weder Tiere noch Vögel, die in unseren Träumen unsere Namen aus der Welt der Geistwesen bringen können, fügt das unserer Kultur Schaden zu.

RNN: Wie leben die Menschen jetzt? Wie gestalten sie ihr Leben?
Hiparidi Top'Tiro: Traditionell und kulturell sind wir Jäger und Sammler. Gartenbau betreiben wir momentan nur wenig, da es durch das Eindringen nicht-indigener Menschen in unser Land viele Konflikte gibt. Alles begann mit dem "Marsch nach Westen" (3) während der Diktatur unter Getúlio Var-gas. Der Staat begann unter Vargas damit, unser Land an Menschen aus dem Süden zu verteilen, an Menschen aus dem Bundesstaat Paraná. Sie sagten, unser Land sei "leer". Sie behaupteten, dass es keine Besitzer habe und dass es besiedelt werden müsse. Die Regierung begann, unsere Leute in kleinen Reservaten anzusiedeln und unseren alten Leuten Renten zu zahlen, damit sie nicht mehr den Wunsch verspüren zu jagen und sich passiv verhalten. So entstanden unsere Probleme. Auch heute jagen wir immer noch, fangen Fisch und bauen Feldfrüchte an. Wir ernähren uns immer noch traditionell, wenn auch um einiges weniger als früher.

Quilombolas sind Nachkommen entflohener afrikanischer Sklaven. Hiparidi Top'Tiro suchte auch mit dieser Gemeinschaft den Schulterschluss, um mit gebündelten Kräften die Zerstörung des Ökosystems Cerrado aufzuhalten. Foto: Amanda Oliviera/Flickr BY-NC-SA 2.0. Quilombolas sind Nachkommen entflohener afrikanischer Sklaven. Hiparidi Top'Tiro suchte auch mit dieser Gemeinschaft den Schulterschluss, um mit gebündelten Kräften die Zerstörung des Ökosystems Cerrado aufzuhalten. Foto: Amanda Oliviera/Flickr BY-NC-SA 2.0.

RNN: Was sagen Sie Menschen, die diese großen landwirtschaftlichen Betriebe für die Ernährung der Bevölkerung innerhalb und außerhalb Brasiliens für notwendig halten?
Hiparidi Top'Tiro: Ich glaube, dass der globale Kapitalismus die indigenen Völker nicht zerstören muss. Sie können in dieser Welt durchaus koexistieren. Wir aber sind darauf angewiesen, unsere Kultur aufrechtzuerhalten und wir haben dieselben Rechte wie die anderen Bürger. Die sogenannte Agroindustrie muss zur Verantwortung gezogen werden. Sie müssen nicht unser Land rauben, unsere Kultur und unser Leben zerstören, um zu produzieren. Sie müssen anerkennen, dass andere Menschen auch Staatsbürger sind, die Rechte haben.

RNN: Gibt es denn auch in Ihrem Volk Menschen, die denken, dass die industrielle Landwirtschaft vielleicht gar nicht so schlecht ist, weil man damit Geld verdienen kann?
Hiparidi Top'Tiro: Es ist eine Illusion zu glauben, dass alle Dinge aus der modernen Welt das Leben leichter machen, dass die Menschen mehr Zeit und Muße haben, über das Leben nachzudenken, weil es industriell gefertigte Nahrung gibt. Einige von uns glauben das und wir haben deshalb interne Konflikte. Die Mehrheit von uns vertritt jedoch die Meinung, dass es besser für uns ist, unsere Nahrung selbst zu produzieren. Jeder, der das Essen, das von außerhalb unseres Reservates kommt, mag, kann ja in die Stadt gehen und selbst sehen, wie das Leben dort wirklich ist.

RNN: Welche Politik sollte die brasilianische Regierung verfolgen?
Hiparidi Top'Tiro: Wir verlangen, dass die Regierung die indigenen Völker und unsere Rechte als Staatsbürger respektiert. Wir haben ja Garantien für die indigenen Rechte in der Verfassung von 1988 errungen. Zweitens wollen wir, dass die politischen Vertreter wirksamere Programme ins Leben ruft, um unsere Kulturen abzusichern, und ganz besonders, um unser Land zu demarkieren. Außerdem wollen wir, dass die Regierung Umweltgesetze verabschiedet, die alle Ökosysteme des Landes gleichwertig schützen. Auch wenn der Amazonas die "Lunge der Welt" ist, müssen alle Ökosysteme gleichbehandelt werden. Wir möchten außerdem, dass die Brasilianer und die brasilianische Regierung wissen und stolz darauf sind, dass es 220 eigenständige indigene Völker in Brasilien gibt, und dass von ihnen 180 unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Wo sonst in der Welt gibt es solch einen Reichtum, solch eine Vielfalt?

RNN: Sie fordern die Regierung ebenfalls auf, auf den Bau von sechs großen Wasserkraftwerken zu verzichten und den Schiffsfrachtverkehr auf den großen Flüssen einzustellen. Das bedeutet ja dann, dass sich das Agrobusiness, das die Energie der Kraftwerke und die Flüsse als Wasserstraßen nutzt, einschränken müsste.
Hiparidi Top'Tiro: So sagt es die brasilianische Regierung. In der Tat hat man in der Ära Lula (4) behauptet, dass indigene Völker ein Hindernis für die nationale Entwicklung seien. Die gegenwärtige PT-Regierung der Arbeiterpartei PT ["Partido dos Trabalhadores", d. Ü.] sagt das auch, aber wir glauben nicht, dass das stimmt. Wir sagen, dass wir Rechte haben als Bürger und als indigene Völker. Unsere Rechte werden in mehreren Gesetzen und in Artikel 231 der Verfassung von 1988 abgesichert. Der Staat kann uns nicht einfach verschlingen, und das nur für die Entwicklung. Ganz besonders wenn diese Entwicklung nicht für alle ist, sondern nur für eine Minderheit. Wir sind auch noch hier. Und es gibt viele von uns, die ebenfalls profitieren sollten: indigene Völker, die Gemeinschaften der ehemaligen Sklaven, die Bewegungen der AfroBrasilianer, Landlose. Ich weiß, dass in unserem Land die Minderheit, die nur Geld machen will, schlecht über uns redet. Wir stimmen dem, was sie sagen, nicht zu. Es wäre hilfreich, wenn Menschen in anderen Ländern wie hier in den USA von unserem Kampf erfahren und unsere Projekte unterstützen würden, mit denen wir den Cerrado und seine Bewohner verteidigen.

Übersetzt aus dem Englischen von Yvonne Bangert. Das Interview finden Sie als Videoaufzeichnung auf Portugiesisch mit englischen Untertiteln unter: www.intercontinentalcry.org/protecting-amazon-includes-defending-indigenous-rights

[Noten]
(1) Anm. d. Red.: Der Cerrado ist eine Savannenlandschaft in Zentralbrasilien. Die Caatinga ist eines der größten Trockenwaldgebiete in Südamerika und das Pantanal eines der größten Binnenfeuchtgebiete der Erde.
(2) Anm. d. Red.: Quilombolas sind Nachkommen entflohener afrikanischer Sklaven, die eine eigene Kultur entwickelt haben.
(3) Anm. d. Red. Mit dem "Marsch nach Westen" kündigte Präsident Getúlio Vargas 1938 an, große Gebiete im Landesinneren für die Landwirtschaft erschließen zu wollen. Getúlio Vargas regierte Brasilien als Diktator von 1930 bis 1945 sowie als gewählter Präsident von 1950 bis 1954.
(4) Anm. d. Red.: Luiz Inácio Lula da Silva war von 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens.

Mali [ oben ]

Kostbares Land, kostbares Wasser

Von Mascha Brammer

Der Fluss Niger ist eines der bedeutendsten und landwirtschaftlich genutzten Lebensadern Afrikas. Malis Landwirtschaft konzentriert sich vor allem an dem Strom. Doch nur fünf Prozent des westafrikanischen Landes ist überhaupt für Ackerbau und Viehzucht nutzbar, denn 60 Prozent der Landesfläche liegt in der Sahara im Norden von Mali. Der Süden befindet sich in der tropischen Zone. Die Wirtschaft wird vorwiegend von Kleinbauern und Viehzüchtern getragen, 70 Prozent der Bevölkerung arbeitet in diesem Bereich.

Markttag in Mali. Foto: Alexbip/Flickr BY-NC-ND 2.0. Markttag in Mali. Foto: Alexbip/Flickr BY-NC-ND 2.0.

Der Wettkampf um die kleine, kostbare Fläche des Nigerbinnendeltas zwischen den klimatischen Extremen hat begonnen: Versteppung, Wüstenbildung und der Bau von Minen, Bewässerungsanlagen und Dämmen, die das natürliche Bewässerungssystem zerstören, verringern den Anteil landwirtschaftlicher Nutzflächen immens. Die Ernährungssicherheit in Mali kann kaum noch gewährleistet werden. Zudem werden immer mehr Grundstücke an ausländische Investoren verpachtet.

Dieser Landraub zerstört in hohem Maß funktionierende Dorfgemeinschaften der Kleinbauern. Auch die Tuareg im Norden des Landes tragen mit ihrer Viehwirtschaft zur Ernährungssicherheit der eigenen Bevölkerungsgruppe bei. Zudem sind mittlerweile viele Klans sesshaft geworden und betreiben Bewässerungswirtschaft. Das Land gehört offiziell dem Staat, allerdings wird es traditionell innerhalb der Dörfer und Familien weitervererbt und als Gemeingut angesehen. Diese Tradition hat Mali 2006 gesetzlich geschützt und Land kann aufgrund eines staatlichen Interesses gegen eine Entschädigungszahlung enteignet werden. Allerdings wird in vielen Fällen nicht gezahlt.

Die staatliche Behörde "Office du Niger" ist ein "wichtiger" Akteur, der den Landraub in Mali "fördert". Office du Niger wurde bereits 1932 mit dem Ziel gegründet, landwirtschaftliche Nutzflächen im südwestlichen NigerBinnendelta zwischen der Stadt Ségou und der mauretanischen Grenze zu verwalten. Seit 1994 untersteht sie dem Ministerium für Landwirtschaft und seit 2009 direkt einem Staatssekretär des Premierministers. Die Behörde verpachtet Land an Kleinbauern, verkauft Wasser, verwaltet die Reisproduktion und stellt so die Ernährung der Malier sicher. Viele Kleinbauern klagen, dass die Arbeit des Office du Niger nicht transparent sei. Die Rechte der Kleinbauern und Viehzüchter werden zudem kaum beachtet. Manchen wird sogar vorgeworfen, sich illegal auf dem Land angesiedelt zu haben, nachdem Investoren Interesse an ihren Ländereien bekundet haben.

Die Regierung und mit ihr auch die staatlichen Institutionen sind zunehmend investitionsfreundlicher geworden, seitdem wirtschaftliche Liberalisierungsmaßnahmen umgesetzt worden sind, die die Weltbank in den 1980er Jahren bereits gefordert hat. Das Investitionsklima für ausländische Geldgeber hat sich erheblich verbessert. Doch wirkt sich das zu Ungunsten der Kleinbauern aus: Anstatt der vorhandenen Vielfalt der Gemüse- und Getreidesorten, die bei Ernteausfällen sehr hilfreich ist, soll nun mehr Reis produziert werden. Aufgrund vieler Hungersnöte seit 2008 hat der malische Premierminister Modibo Sidibé die "Reisinitiative" gegründet, die den Export von Reis verhindert, aber den Import von ausländischem Reis ermöglicht. Der Preis ist infolge dessen so stark gesunken, dass viele Kleinbauern, die Reis anbauen, das nötige Wasser nicht mehr bezahlen können. Zum einen soll der Reis der Ernährungssicherheit der malischen Bevölkerung dienen, die stark wächst, zum anderen aber auch die Ernährungssicherheit der Staaten sicherstellen, die als Investoren auftreten. Der Exportstopp von Reis wurde 2010 wieder ausgesetzt.

Problematisch ist aber auch, dass sich das Siedlungsgebiet der Tuareg mit dem Land überschneidet, das das Office du Niger verwaltet. Die Tuareg werden benachteiligt und ebenso wie andere Kleinbauern auch von ihrem Land vertrieben, so dass landwirtschaftliche Großprojekte und der Abbau von Rohstoffen wie Uran realisiert werden können. Aufgrund der Vertreibungen und der Unzufriedenheit mit der malischen Regierung schließen sich die Tuareg fundamentalistischen Gruppen wie Al Qaida an.

Das Projekt "Malibya" ist der bisher größte bekannte Vertrag, den das Office du Niger 2008 mit dem "Libya Africa Investment Portfolio" (LAP), einer libyschen Investmentgesellschaft, geschlossen hat. LAP kann 50 Jahre lang 100.000 Hektar Land, auf dem Hybridreis und Tomaten angebaut sowie Vieh gehalten werden soll, Wasser unbegrenzt für jährliche fünf US-Dollar/Hektar nutzen. Zudem soll ein 40 Kilometer langer Kanal entstehen sowie eine ebenso lange Straße.

Gerade solche Infrastrukturprojekte sind eines der zentralen Argumente für die Verpachtung von Landflächen. Der malische Bauernverband Sexagon ist gegen das Projekt Malibya, da er befürchtet, dass der Reis vor allem für den Export angebaut werde und vertriebene Kleinbauern ihre Familien nicht mehr ernähren können. Die Bauern wurden in das Projekt nicht miteinbezogen. Weder haben sie eine Entschädigungszahlung erhalten noch wissen sie, ob sie als Hilfskräfte auf den Flächen arbeiten dürfen, die sie zuvor selbst bewirtschaftet haben. Bisher sind 150 Familien von den Infrastrukturarbeiten betroffen.

Das Office du Niger hat offiziell 540.000 Hektar Land verpachtet und vor allem mit chinesischen, US-amerikanischen, französischen und britischen Investoren Verträge geschlossen. Nach inoffiziellen Angaben sind aber Landverpachtungen im Ausmaß von bis zu 820.000 Hektar geplant. Viele Fragen bleiben offen: Wer profitiert wirklich von diesen Landverträgen?

Welche Auswirkungen hat der unbegrenzte Zugriff auf Wasser für das Flusssystem des Niger? Mit welchen Folgen müssen die vorherigen Landbesitzer leben? Wird die Ernährungssicherheit infolge solcher Landverträge wirklich sichergestellt? Zudem ist rechtlich nicht geregelt, wem das Land überhaupt gehört: dem Staat oder den Bauern? Die Kleinbauern pochen auf eine angemessene Entschädigung, die ihnen oft nicht gewährleistet wird. Nicht nur Land, sondern auch Wasser wird in Mali geraubt. Das Nigerbinnendelta ist ab Juli auf die Wasserhöchststände des Flusses angewiesen. Stromaufwärts können Konzerne "dank" des Projektes Malibya das ganze Jahr über unbegrenzt Wasser verbrauchen, nur eingeschränkt durch eine staatliche Regelung, von Januar bis Mai keine Pflanzen anzubauen, die viel Wasser benötigen. Dieser "Diebstahl" hat gravierende

Auswirkungen auf den Fluss und seine Anwohner, denen das Lebenselixier für die Bewässerung ihrer Flächen nicht im ausreichenden Maß zur Verfügung steht.

Westjordanland/Israel [ oben ]

Das Lebensmotto der Familie Nassar wurde auf eine harte Probe gestellt

Von Konstantin Udert

Am Morgen des 19. Mai 2014 erhielt Tony Nassar einen Anruf mit der schockierenden Nachricht, dass etwa ein Viertel des Landes seiner Familie zerstört worden sei. Israelische Bulldozer hätten 1.500 Aprikosen- und Apfelbäume gerodet, in eine Grube geschoben und die zehn Hektar großen Terrassenfelder, auf denen die Bäume gepflanzt waren, planiert.

Tent of Nation. Foto: Konstantin Udert. Tent of Nation. Foto: Konstantin Udert.

Der stellvertretende Schulleiter aus Bethlehem/Westjordanland machte sich unverzüglich auf den Weg, um gemeinsam mit Familienmitgliedern und internationalen Beobachtern den Schaden zu begutachten. Sie trauten ihren Augen nicht, als sie ihr eigenes Land nicht wiedererkannten: Dort, wo nach jahrzehntelanger Arbeit der Nassars die Fruchtbäume geblüht hatten, sahen sie auf braune Erde, Geröll und Kettenspuren. Trauer, Wut und Frustration überkamen alle Anwesenden. Tony Nassar fasste sich jedoch als Erster und verkündete: "Wenn sie unsere Bäume fällen, werden wir neue Bäume pflanzen. Sie haben Bulldozer, aber wir haben den Glauben und die Hoffnung auf einen gerechten Frieden."

Augenzeugen erzählten, dass sie um etwa sieben Uhr gesehen hätten, wie israelische Militärfahrzeuge die Zufahrtsstraße zum Grundstück der Nassars blockierten. Anschließend seien drei Bulldozer gekommen und hätten innerhalb von zwei Stunden die fast erntereifen Bäume gefällt und vergraben. Doch woher nimmt Tony Nassar seine Zuversicht? Und warum vernichtet jemand 1.500 erntereife Bäume? Die Antworten auf diese sich aufdrängenden Fragen spiegeln einige Aspekte des israelisch-palästinensischen Konflikts geradezu exemplarisch wieder.

Die Antwort auf die erste Frage nimmt im Jahr 1916 ihren Anfang, als Daher Nassar das 42 Hektar große, auf einem Hügel südlich von Bethlehem gelegene Grundstück erwarb. Damals zählte das Wort mehr als Dokumente, trotzdem ließ Tonys Großvater sein Besitzrecht in das damals ottomanische Grundbuch eintragen. Auch während der britischen Mandatszeit und der anschließenden jordanischen Besatzung ließ er sich von den jeweiligen Besatzern den Grundbucheintrag offiziell bestätigen, der später auch von der israelischen Regierung anerkannt wurde. So kann die Familie Nassar heute lückenlos beweisen, dass "Dahers Weinberg" ihr seit 1916 gehört. Dies ist ein großes Glück, denn sämtliche Nachbarn wurden bereits vor Jahrzehnten wegen fehlender Dokumente enteignet. Doch warum roden nun israelische Bulldozer 1.500 erntereife Bäume? Das Grundstück der Familie Nassar ist sehr begehrt.

Es ist seit den 1970er Jahren umringt von israelischen Siedlungen1, die auf das Grundstück der Nassars ausgeweitet werden sollen2. Seit 1991 befindet sich die Familie in laufenden Gerichtsverfahren, da ihr Land vom israelischen Militär wiederkehrend zu "Staatsland" deklariert wird, wogegen sie jedes Mal Einspruch einlegt. Tony und seine Familie haben in diesem Rechtsstreit bereits mehr als 100.000 Euro verloren. Ihnen wurde sogar ein Blankoscheck angeboten, um das Land zu verkaufen. Doch es geht den Nassars nicht um Geld: Das Land ist das Erbe ihrer Vorfahren, ihre Zukunft und die Hoffnung auf gerechten Frieden.

Die Erklärung, Privateigentum sei "Staatsland" oder "Militärgebiet", ist das gängige Verfahren, mit dem auch die Nachbarn der Nassars enteignet worden sind., Sie konnten vor Gericht keine Gegenbeweise vorlegen oder wurden durch die hohen Anwaltskosten zur Aufgabe gezwungen. Ihr Land wurde anschließend vom israelischen Staat an die Siedler verkauft und diente somit der völkerrechtlich illegalen Siedlungserweiterung.

Ein Mitglied der Familie Nassar. Foto: Melody Nelson/Flickr BY-NC-SA 2.0. Ein Mitglied der Familie Nassar. Foto: Melody Nelson/Flickr BY-NC-SA 2.0.

Die Nassars sind der israelischen Regierung ein Dorn im Auge, da sie die Landnahme zur Siedlungsexpansion bisher legal verhindern können. Doch nicht nur das ärgert Israel. Die Nassars haben auf ihrem Grund und Boden das Projekt Tent of Nations ("Zelt der Völker") ins Leben gerufen - einen Hort des gewaltfreien Widerstands gegen die israelische Besatzung im Westjordanland. Seit dem Jahr 2000 ist das von Tonys Bruder, Daoud Nassar, geleitete Tent of Nations Treffpunkt für interkulturelle und interreligiöse Dialogveranstaltungen. Es bietet zudem Bildungsangebote für palästinensische Frauen und Jugendliche an. Das dort gelebte Motto "Wir weigern uns, Feinde zu sein" inspiriert seitdem zahlreiche Besucher. Somit ist "Dahers Weinberg" nicht nur für die Nassars ein bedeutungsvoller Ort. Besonders für die Palästinenser aus der Umgebung erfüllt das Tent of Nations wichtige Funktionen:

- Für Kinder und Jugendliche aus Bethlehem ist das Gelände des Tent of Nations der einzige Ort, an dem sie etwas über die Natur und Umweltschutz lernen können, da fast alle unbebauten Flächen des Westjordanlands von Israel kontrolliert werden.

- Unterhalb des Grundstücks des Tent of Nations liegt das palästinensische Dorf Nahalin mit rund 7.000 Einwohnern. Falls die umliegenden israelischen Siedlungen verbunden werden würden und das Tent of Nations deshalb verschwinden würde, dürften sich die Repressionen des israelischen Militärs gegen die Einwohner Nahalins erfahrungsgemäß weiter verstärken und einen geregelten Alltag unmöglich machen.

Noch stärker als die Einwohner Nahalins werden im Moment jedoch die Nassars drangsaliert. Abgesehen von der wiederkehrenden Deklarierung ihres Grundstücks als "Staatsland" erhielten sie Abrissbefehle für Zelte, Komposttoiletten, Tierställe, die Solaranlage und Wasserzisternen sowie die Anweisung, die in Stein gehauenen Höhlen zu zerstören. Die Zelte und Höhlen wurden errichtet, da feste Strukturen, wie Häuser etwa, ohne die Angabe von Gründen nicht genehmigt wurden. Die Nassars bauten zudem eine Solaranlage, Wasserzisternen und Komposttoiletten, da sich das Gelände zunehmend zu einer Selbstversorger-Farm entwickeln soll - die israelische Regierung verweigert nach wie vor einen Strom- und Wasseranschluss. Und so hat das Tent of Nations eine weitere wichtige Funktion: Internationale Gäste erleben hier selbst, welchen Repressionen die palästinensische Zivilbevölkerung mitunter ausgesetzt ist. Übereinstimmend beschreiben sie, vor allem die einheimischen Besucher, die friedliche und aktive Reaktion der Familie Nassar als "inspirierend", "ermutigend".

Die zahlreichen Drangsalierungen, die zuletzt in der illegalen Zerstörung der Fruchtbäume als ein wirtschaftliches Standbein des Tent of Nations gipfelten, und die feindselige und demoralisierende Vernichtung jahrzehntelanger Arbeit haben eine simple und traurige Botschaft: "Verschwindet!" Mit der Arbeit der Nassars und ihrer Mission haben sich weltweit zahlreiche Menschen, Kirchen und Vereine solidarisiert. Sie unterstützen mit Spenden, durch ihren Arbeitseinsatz vor Ort und durch Lobbyarbeit den Erhalt und Ausbau des Tent of Nations auf "Dahers Weinberg". Damit können die Nassars der israelischen Besatzung eine starke Botschaft entgegensetzen: "Wir weigern uns, Feinde zu sein" und "Wir werden bleiben!"

"Unsere Mission ist, mit dem Tent of Nations Brücken zwischen Menschen zu bauen und zwischen Menschen und der Erde. Wir vereinen mit dem Tent of Nations Menschen verschiedener Kulturen, um Brücken der Verständigung, der Versöhnung und des Friedens zu bauen."

[Weitere Informationen] www.tentofnations.org, www.facebook.com/tentofnations

[Zum Autor] Konstantin Udert hat 2014 für drei Monate die bedrohte Völker - pogrom-Redaktion als Praktikant unterstützt. Er ist persönlich mit der Familie Nassar bekannt. Im Wintersemester 2014 wird er Politikwissenschaften in Berlin studieren. Er engagiert sich ehrenamtlich für Brass for Peace e.V.. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, "Interesse und Verständnis für die Situation im Heiligen Land bei den Bläserinnen und Bläsern der Posaunenchorbewegung in der evangelischen Kirche in Deutschland" zu wecken, Kontakte zwischen palästinensischen und deutschen Blechbläsern zu ermöglichen und zu fördern. Konstantin Udert ist Mitglied in der Amnesty-Hochschulgruppe Hannover.


Pogrom-bedrohte Völker 283 (4/2014)