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Pogrom bedrohte Völker Nr. 283, 4/2014
Bozen, März 2015
Indice
Editorial, Sabrina Bussani | Brasile. Die Lage der Guaraní: Sterben, um zu
leben | Brasilien: Wer Amazonien retten will,
muss auch die Rechte der indigenen Völker verteidigen |
Mali: Kostbares Land, kostbares Wasser |
Westjordanland/Israel: Das Lebensmotto der Familie
Nassar wurde auf eine harte Probe gestellt
Von Sabrina Bussani
Die Welt ernähren, Nahrung für alle. Die Herausforderung einer nachhaltigen Landwirtschaft, pogrom / bedrohte Völker 283 (4/2014).
Liebe Leserinnen und Leser,
Die Weltbevölkerung beträgt zur Zeit circa 7 Milliarden
Menschen, aber sie ist im Wachsen. Laut Schätzungen der
Vereinten Nationen werden wir bereits im Jahr 2050 in 9 Miliarden
sein. Nicht nur die Energieversorgung für so viele Mernschen
macht Sorgen, auch eine genügende Nahrungsproduktion stellt
für viele eine Herausforderung dar. Regierungen und
wirtschafltiche Akteure schliessen Vereinbarungen ab, die den
Import von billigen Agrarprodukten ermöglichen. Gleichzeitig
versuchen multinationale Konzerne und Regierungen seit Jahren,
sich große Landflächen im so genannten Süden der
Welt zu garantieren und verfechten die Notwendigkeit einer -
ökologisch meist untragbaren - industriellen
Agrarproduktion. Ganze Bevölkerungsgruppen werden von ihrem
Land vertrieben, um Platz zu machen für Wasserkraftwerke mit
dazugehörenden Stauseen oder großen
Monokulturplantagen zur Gewinnung von so genanntem Biosprit und
von Billigprodukten für die Nahrungsindustrie. So kommt es
auch, daß Konsumenten in Europa Im Supermarkt billige
Tomaten aus der West-Sahara Wüste finden, oder daß
kleine Landwirte im Süden der Welt praktisch von einem Tag
zum anderen ihr Land verlieren und plötzlich in
sklavenähnlichen Verhältnissen genau jenes Land
bearbeiten, das noch kurze Zeit zuvor ihnen gehört hatte und
von dem ganze Familien leben konnten.
All das geschieht im Namen der Entwicklung. Eine Entwicklung, die
jedoch meist nur neue Armut und Hunger produziert. Denn die Armut
ist, laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation
der Vereinten Nationen (FAO), die Vorstufe zu Unterernährung
und Hunger. Die FAO sagt uns auch, dass heute ungefähr 850
Millionen auf der ganzen Welt Hunger leiden. Laut Unicef sind
davon 200 Millionen Kinder unter 5 Jahren betroffen. Weiters
stellt Unicef fest, dass täglich ungefähr 3.800 Kinder
unter 5 Jahren an den Folgen der Unterernährung
sterben.
Gleichzeitig aber wurde in der Wekt noch nie so viel Nahrung
produziert wie heute. Jean Ziegler, ehemaliger
UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung
behauptet gar "die derzeitige Weltlandwirtschaft könnte
problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren". Warum dann
soviel Hunger in der Welt? Laut Ziegler liegen die
Hauptgründe in der Profitgier multinationaler Konzerne und
in der finanziellen Spekulation mit Nahrungsmitteln. "Wir haben",
sagt Ziegler, "ein kannibalistisches System geschaffen". Das
System aber ist nicht unveränderbar. Der Mensch hat es
geschaffen und der Mensch kann es auch ändern. Und damit
dies geschieht, braucht es nicht viel. Jean Ziegler nach,
würde ein "Aufstand des Gewissens" der Zivilgesellschaft
genügen.
Mit dieser Ausgabe unserer Zeitschrift wollten wir einen Eindruck
über die verschiedenen Facetten der Nahrung vermitteln.
Angefangen von den kulturellen Aspekten der Nahrung über die
ganz konkreten und täglichen Auswirkungen neoliberaler
Agrarpolitiken bis hin zu nachhaltigen landwirtschaftlichen
Projekten, die versuchen, Frieden und Menschenwürde
miteinander zu verbinden.
Wir wünschen allen eine angenehme und interessante
Lektüre!
Sabrina Bussani
[Titelbild] Piyanco heißt dieser junge Asháninka, der in der Gemeinde Apiwtxa im brasilianischen Bundesstaat Acre zuhause ist. Mit viel Engagement haben die Asháninka das Ausbildungszentrum Yorenka Ãtame ins Leben gerufen, um ihr Wissen auch Nicht-Indigenen zu vermitteln. Während die Asháninka ihre Kultur noch pflegen können, kämpfen viele andere indigene Gemeinschaften für die Anerkennung ihrer Rechte, die eigentlich 1988 in der brasilianischen Verfassung festgeschrieben wurden, doch allzu häufig von Brasilien missachtet werden. Foto: Ministério da Cultura/Flickr BY 2.0.
Von Sabrina Marie Rommerskirchen
"Wir können nicht länger tatenlos zusehen.
Vielleicht ist dies das letzte Mal, dass wir unsere Stimme
erheben … Aber wir dürfen keine Angst haben. Denn wir
sind in unserem Land. Wir sind auf unserem Grund und Boden.
Unsere Väter wurden hier geboren, hier leben sie. Wir
können gar nicht sagen, wie lange schon, die Geschichte
unseres Volkes ist sehr alt. Deshalb müssen wir unsere
Stimme erheben", ruft der Guaraní Marcal Tupa zum
Widerstand auf.
(Marcal Tupa, Guaraní)
Diese Guaraní, insgesamt 40 Familien, wurden 2003 von ihrem Land vertrieben. Bis heute kämpfen sie dafür, wieder zurückkehren zu dürfen. Foto: Percurso da Cultura/Flickr BY-SA 2.0.
"Das Land hier ist mein Leben. Meine Seele. Wenn du mir das
nimmst, nimmst du mir mein Leben", klagte der Guaraní
Marcos Veron der Menschenrechtsorganisation Survival
International 2010 in einem Interview. Die Guaraní sind
mit etwa 51.000 Angehörigen das größte indigene
Volk Brasiliens. Sie hofften, dass die
Fußball-Weltmeisterschaft und die bevorstehenden
Olympischen Spiele die Aufmerksamkeit auf die Not der indigenen
Gemeinden in Brasilien lenken. Und dass die brasilianische
Regierung endlich notwendige Schutzmaßnahmen
beschließen würde. Doch sie wurden enttäuscht.
Brasilien versuchte in den Sommermonaten 2014 nur, sich als ein
Staat zu präsentieren, der die Rechte der Indianer
groß schreibt. Konkret änderte sich für die
Indigenen jedoch nichts.
Bei den Guaraní ist die Selbstmordrate so hoch wie bei
keinem anderen indigenen Volk des südamerikanischen Landes.
Nach Angaben von Survival International nahmen sich zwischen 1986
und 1997 244 Guaraní das Leben. Allein 72 Suizide meist
junger Leute zwischen 15 und 30 Jahren gab es im Jahr 2013. Es
ist ihre Form eines nahezu aussichtslosen Protests. Diese
Verzweiflungsakte haben die Guaraní und ihre Situation in
den vergangenen Jahren weltweit bekannt werden lassen:
Profitgierige Großgrundbesitzer haben das Land der Indianer
in Beschlag genommen. Deshalb campieren viele Guaraní
neben viel befahrenen Straßen ohne sauberes Wasser, ohne
ausreichend Nahrung, ohne medizinische Versorgung, ohne die
Möglichkeit, Traditionen zu pflegen und Zeremonien
abzuhalten, was ihrem Glauben nach nur auf dem Land ihrer
Vorfahren möglich ist.
Die Verdrängung der Guaraní aus ihren
ursprünglichen Territorien begann bereits kurz nach dem
TripelAllianz-Krieg (1864-1870), in dem Paraguay gegen die
verbündeten Staaten Argentinien, Brasilien und Urugu-ay
kämpfte. Schon damals wurden die Guaraní
rücksichtslos von ihrem Land vertrieben, um es
landwirtschaftlich zu nutzen. Besonders im Bundesstaat Mato
Grosso do Sul prägen heute Monokulturen von unvorstellbarer
Größe das Landschaftsbild. Die Wälder wurden
weitgehend gerodet, um Mate, Soja und Zuckerrohr anzubauen. Ohne
Wald können die Guaraní ihre traditionelle
Lebensweise nicht pflegen. Sie sind keine Nomaden, sondern leben
von der Jagd, vom Fischen und allem, was der Wald ihnen
bietet.
Der Name ist nicht wirklich Programm: "Dichter Wald des Südens" bedeutet Mato Grosso do Sul übersetzt. Doch dieser wurde für die Anlage von Plantagen nahezu vollständig in dem Bundesstaat abgeholzt. Monokulturen, so weit das Auge reicht, prägen nun das Landschaftsbild. Foto: Percurso da Cultura/Flickr BY-SA 2.0.
Immer wieder versuchen Guaraní, sich wieder auf ihrem
traditionellen Land niederzulassen, das jetzt offiziell Farmern
gehört. Die Antwort der Viehzüchter und
Plantagenbesitzer ist in aller Regel skrupellose Gewalt. Nicht
selten schießen sie einfach auf die Guaraní, wenn
sie es wagen, sich auf ihren Flächen zu zeigen. Häufig
steckt die Polizei mit den Farmern unter einer Decke.
Den Guaraní sind nur kleine unzusammenhängende
Territorien geblieben. So drängen sich im Reservat Terra
Indígena Dourados in Mato Grosso do Sul mehr als 12.000
Guaraní auf 35 Quadratkilometern, das entspricht rund 340
Einwohnern pro Quadratkilometer. Viele Guaraní sind dazu
gezwungen, in Dörfern weit entfernt von ihrem traditionellen
Territorium zu leben. Zurzeit liegen zwar mehrere
Gesetzesentwürfe vor, die Gebiete der Guaraní zu
demarkieren - das heißt, die Grenzen offiziell festzulegen
- allerdings zu ihren Ungunsten. Sollten die Gesetze wirksam
werden, werden die Indianer noch mehr Land verlieren. Was wird
ihnen dann noch bleiben?
Weil viele Guaraní ihre traditionelle Lebensweise aufgeben
mussten und sich deshalb auch nicht mehr selbst versorgen
können, müssen sie auf Plantagen arbeiten - zumeist
unter sklavereiähnlichen Bedingungen. Bei minimaler
Bezahlung müssen in bis zu zwölf Stunden täglich
mehrere Tonnen Zuckerrohr geschnitten werden. Dabei kommen die
Arbeiter direkt mit gesundheitsschädlichen Spritzmitteln in
Kontakt, die ausgebracht werden, um das Wachstum des Zuckerrohrs
zu beschleunigen. Die Zuckerrohr verarbeitenden Fabriken bieten
ihren Arbeitern selten Mahlzeiten, Unterkunft oder medizinische
Versorgung an. Ein Plantagenarbeiter hält durchschnittlich
15 Jahre durch. Das brasilianische Gesetz sieht zwar eine
Gefängnisstrafe von zwei bis acht Jahren vor, wenn Fabrik-
und Plantagenbesitzer ihre Angestellten unter unsäglichen
Bedingungen arbeiten lassen. Bisher ist es jedoch noch zu keiner
Verurteilung mit Freiheitsentzug gekommen. Viele kommen mit einer
Geldstrafe davon.
Dies alles mag die Verzweiflung der Guaraní und die hohe
Selbstmordrate erklären. Vor allem für die jüngere
Generation scheint es aussichtslos darauf zu warten, dass ihre
Rechte anerkannt werden. Doch wie lange wird dies noch
weitergehen? Wie viele Guaraní werden sich noch das Leben
nehmen, bis die Regierung endlich handelt? Der
Guaraní-Kaiowá Anastácio Peralta zumindest
ist pessimistisch: "Das Volk der Guaraní war wie ein
Fluss, der langsam in seinen Bahnen floss, als ein riesiger Fels
ins Flussbett geworfen wurde und ihn in alle Richtungen
trieb."
Nach Angaben des Indianermissionsrates (CIMI) und der brasilianischen Gesundheitsstiftung Fundação Nacional de Saúde gibt es etwa 51.000 Guaraní in Brasilien. Allein 40.000 von ihnen leben im Bundesstaat Mato Grosso do Sul; die anderen 11.000 verteilen sich auf die Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná, São Paulo, Rio de Janeiro und Pará. Unter den Guaraní wird zwischen drei Gruppen unterschieden: Kaiowá, Mbyá und Ñandeva. In Mato Grosso do Sul sind vor allem die Guaraní-Kaiowá und die Guaraní-Ñandeva ansässig.
[Zur Autorin] Sabrina Marie Rommerskirchen hat einen BachelorAbschluss in European and International Laws an der Universität Maastricht erworben und spezialisierte sich im Masterstudiengang Globalisation and Law auf Menschenrechte. 2007/2008 verbrachte sie im Rahmen eines Schüleraustausches zwölf Monate in Brasilien. Sie absolvierte außerdem ein Praktikum bei der deutschen Botschaft in Brasília und ist seitdem auch privat häufig nach Brasilien gereist. Während eines Praktikums bei der Gesellschaft für bedrohte Völker(GfbV) hat sich Rommerskirchen mit der Lage der indigenen Bevölkerung in Brasilien auseinandergesetzt.
Der Anbau von Soja, Mais und Baumwolle ist dafür verantwortlich, dass die rund 15.300 Xavante im brasilianischen Bundessstaat Mato Grosso do Sul ihr Land und ihre kulturelle Identität zu verlieren drohen. Paul Jay von Real News Network, einem Internetfernsehsender, der in Baltimore/USA stationiert ist, interviewte im August 2014 dazu Hiparidi Top'Tiro. Der Xavante ist seit 1996 Präsident der indianischen Vereinigung Xavante Warãund gründete 2006 die Mobilisierung der indigenen Völker des Cerrado.
Bis hierhin und nicht weiter! Hiparidi Top'Tiro zeigt die Grenze zwischen dem Gebiet der Xavante und den Sojaplantagen. Foto: Gerry Hadden/PRI.org.
RNN: Warum haben Sie die Mobilisierung der
indigenen Völker des Cerrado gegründet?
Hiparidi Top'Tiro: In Brasilien gibt es sechs
große Ökosysteme: das Amazonasgebiet, das die
größte Bedeutung für die Welt hat, den Cerrado,
die Caatinga, das Pantanal, den Atlantikwald und die Pampa (1).
Vier dieser Gebiete genießen nahezu keinen Schutz von der
brasilianischen Regierung. Die Mobilisierung der indigenen
Völker des Cerradowurde gegründet, um darauf aufmerksam
zu machen, dass auch der Cerrado geschützt werden muss, denn
niemand schenkte ihm Beachtung. Jeder konnte dort nach
Herzenslust und in jedem gewünschten Umfang Soja, Baumwolle
und Mais anbauen. Die Gesetzgebung für den Amazonas ist sehr
viel strenger. So legt die Umweltgesetzgebung Brasiliens fest,
dass zwar 32 Prozent Amazoniens, aber nur 22 Prozent des Cerrado
unberührt bleiben müssen. Wir, die indigenen
Völker des Cerrado, haben uns organisiert, um unsere Kultur
zu erhalten. Wir glauben, dass als Folge einer Entwaldung des
Cerrado mit den Tieren und den Vögeln auch unsere
Spiritualität als indigenes Volk ganz und gar verschwinden
wird.
Es begann mit einem zeremoniellen Lauf, den die Vereinigung der
Xavante Warãorganisierte. Danach hat Xavante
Warãdann ihrerseits die Vereinigung der Krahô zu
einem Lauf eingeladen, eine Untergruppe der Timbira.
Allmählich wurden wir immer mehr. Im Cerrado leben auch
Quilombolas (2). Wir haben auch mit ihnen Kontakt aufgenommen.
Wir haben erkannt, je mehr Menschen wir zusammenbringen, indigene
und andere traditionelle Völker, umso besser können wir
auf die Zerstörung des Cerrado und die Notwendigkeit, ihn zu
schützen, aufmerksam machen. Mit jedem gefällten Baum
verlieren indigene Völker einen Teil ihrer Kultur. Die
Xerente zum Beispiel haben ihr ganzes Wissen, alle ihre
Erinnerungen verloren. Sie vergessen ihre Sprache, die Namen von
Pflanzen und Vögeln, die es nicht mehr gibt. Wir mussten uns
auch mit den Quilombolas zusammenschließen, um noch mehr
Verbündete zu gewinnen, damit die brasilianische Regierung
uns endlich zuhören muss. Die große Herausforderung
für uns ist es, für den Cerrado eine Umweltgesetzgebung
zu bekommen, die ebenso bindend ist wie die für Amazonien.
Bislang haben wir erreicht, dass das Umweltministerium ein
Cerrado-Zentrum geschaffen hat. Es ist jedoch nicht mit dem
Zentrum für Amazonien vergleichbar, denn es hat keinen
Etat.
RNN: Welche Auswirkungen hat die industrielle
Agrarwirtschaft auf das alltägliche Leben in Ihrem
Gebiet?
Hiparidi Top'Tiro: Am schlimmsten ist, dass die
Giftstoffe, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden, das
Wasser verseuchen. Außerdem verschwindet dort, wo der
Sojaanbau zunimmt, das Wild, das wir jagen. Die Tiere, Pekaris
und Tapire, suchen außerhalb unseres Reservats nach
Nahrung. Sie fressen in den Feldern Soja und Mais und werden
dick. Wenn das Jagdwild dann auf unser Land zurückkehrt,
sind die Tiere fett und ihr Fleisch ist fett. Das ist nicht gut
für die Gesundheit unserer Kinder. Es ist auch schwieriger
geworden, Rohmaterial für unsere Bogen und Pfeile zu
bekommen. Wir finden es nicht mehr auf unserem Land und
müssen unser Reservat verlassen, um es nahe der angrenzenden
Farmen zu holen. Die Landwirtschaft hat auch Auswirkungen auf
unsere Ehezeremonien. Bei einer Heirat wird nach unserem Brauch
Wildfleisch verschenkt. Die Tiere müssen wir inzwischen auf
Ländereien jagen, die uns nicht mehr gehören. Zudem
wachsen die Früchte nicht mehr so gut wie einst. Wir
müssen jetzt unser mittlerweile zu klein gewordenes Land
verlassen, um genug davon zu sammeln. Wir haben auch Probleme,
alle die Dinge zu bekommen, die wir für unsere Rituale
brauchen. Deshalb können wir unsere Zeremonien nicht mehr so
häufig durchführen, wie es nötig wäre. Auch
Träume sind sehr wichtig für uns. Damit ich zum
Beispiel meinen Namen, Hiparidi, bekommen konnte, musste ihn
zunächst jemand träumen. Wenn es also keinen Cerrado
mehr gibt, weder Tiere noch Vögel, die in unseren
Träumen unsere Namen aus der Welt der Geistwesen bringen
können, fügt das unserer Kultur Schaden zu.
RNN: Wie leben die Menschen jetzt? Wie gestalten
sie ihr Leben?
Hiparidi Top'Tiro: Traditionell und kulturell
sind wir Jäger und Sammler. Gartenbau betreiben wir momentan
nur wenig, da es durch das Eindringen nicht-indigener Menschen in
unser Land viele Konflikte gibt. Alles begann mit dem "Marsch
nach Westen" (3) während der Diktatur unter Getúlio
Var-gas. Der Staat begann unter Vargas damit, unser Land an
Menschen aus dem Süden zu verteilen, an Menschen aus dem
Bundesstaat Paraná. Sie sagten, unser Land sei "leer". Sie
behaupteten, dass es keine Besitzer habe und dass es besiedelt
werden müsse. Die Regierung begann, unsere Leute in kleinen
Reservaten anzusiedeln und unseren alten Leuten Renten zu zahlen,
damit sie nicht mehr den Wunsch verspüren zu jagen und sich
passiv verhalten. So entstanden unsere Probleme. Auch heute jagen
wir immer noch, fangen Fisch und bauen Feldfrüchte an. Wir
ernähren uns immer noch traditionell, wenn auch um einiges
weniger als früher.
Quilombolas sind Nachkommen entflohener afrikanischer Sklaven. Hiparidi Top'Tiro suchte auch mit dieser Gemeinschaft den Schulterschluss, um mit gebündelten Kräften die Zerstörung des Ökosystems Cerrado aufzuhalten. Foto: Amanda Oliviera/Flickr BY-NC-SA 2.0.
RNN: Was sagen Sie Menschen, die diese
großen landwirtschaftlichen Betriebe für die
Ernährung der Bevölkerung innerhalb und außerhalb
Brasiliens für notwendig halten?
Hiparidi Top'Tiro: Ich glaube, dass der globale
Kapitalismus die indigenen Völker nicht zerstören muss.
Sie können in dieser Welt durchaus koexistieren. Wir aber
sind darauf angewiesen, unsere Kultur aufrechtzuerhalten und wir
haben dieselben Rechte wie die anderen Bürger. Die
sogenannte Agroindustrie muss zur Verantwortung gezogen werden.
Sie müssen nicht unser Land rauben, unsere Kultur und unser
Leben zerstören, um zu produzieren. Sie müssen
anerkennen, dass andere Menschen auch Staatsbürger sind, die
Rechte haben.
RNN: Gibt es denn auch in Ihrem Volk Menschen,
die denken, dass die industrielle Landwirtschaft vielleicht gar
nicht so schlecht ist, weil man damit Geld verdienen kann?
Hiparidi Top'Tiro: Es ist eine Illusion zu
glauben, dass alle Dinge aus der modernen Welt das Leben leichter
machen, dass die Menschen mehr Zeit und Muße haben,
über das Leben nachzudenken, weil es industriell gefertigte
Nahrung gibt. Einige von uns glauben das und wir haben deshalb
interne Konflikte. Die Mehrheit von uns vertritt jedoch die
Meinung, dass es besser für uns ist, unsere Nahrung selbst
zu produzieren. Jeder, der das Essen, das von außerhalb
unseres Reservates kommt, mag, kann ja in die Stadt gehen und
selbst sehen, wie das Leben dort wirklich ist.
RNN: Welche Politik sollte die brasilianische
Regierung verfolgen?
Hiparidi Top'Tiro: Wir verlangen, dass die
Regierung die indigenen Völker und unsere Rechte als
Staatsbürger respektiert. Wir haben ja Garantien für
die indigenen Rechte in der Verfassung von 1988 errungen.
Zweitens wollen wir, dass die politischen Vertreter wirksamere
Programme ins Leben ruft, um unsere Kulturen abzusichern, und
ganz besonders, um unser Land zu demarkieren. Außerdem
wollen wir, dass die Regierung Umweltgesetze verabschiedet, die
alle Ökosysteme des Landes gleichwertig schützen. Auch
wenn der Amazonas die "Lunge der Welt" ist, müssen alle
Ökosysteme gleichbehandelt werden. Wir möchten
außerdem, dass die Brasilianer und die brasilianische
Regierung wissen und stolz darauf sind, dass es 220
eigenständige indigene Völker in Brasilien gibt, und
dass von ihnen 180 unterschiedliche Sprachen gesprochen werden.
Wo sonst in der Welt gibt es solch einen Reichtum, solch eine
Vielfalt?
RNN: Sie fordern die Regierung ebenfalls auf,
auf den Bau von sechs großen Wasserkraftwerken zu
verzichten und den Schiffsfrachtverkehr auf den großen
Flüssen einzustellen. Das bedeutet ja dann, dass sich das
Agrobusiness, das die Energie der Kraftwerke und die Flüsse
als Wasserstraßen nutzt, einschränken
müsste.
Hiparidi Top'Tiro: So sagt es die brasilianische
Regierung. In der Tat hat man in der Ära Lula (4) behauptet,
dass indigene Völker ein Hindernis für die nationale
Entwicklung seien. Die gegenwärtige PT-Regierung der
Arbeiterpartei PT ["Partido dos Trabalhadores", d. Ü.] sagt
das auch, aber wir glauben nicht, dass das stimmt. Wir sagen,
dass wir Rechte haben als Bürger und als indigene
Völker. Unsere Rechte werden in mehreren Gesetzen und in
Artikel 231 der Verfassung von 1988 abgesichert. Der Staat kann
uns nicht einfach verschlingen, und das nur für die
Entwicklung. Ganz besonders wenn diese Entwicklung nicht für
alle ist, sondern nur für eine Minderheit. Wir sind auch
noch hier. Und es gibt viele von uns, die ebenfalls profitieren
sollten: indigene Völker, die Gemeinschaften der ehemaligen
Sklaven, die Bewegungen der AfroBrasilianer, Landlose. Ich
weiß, dass in unserem Land die Minderheit, die nur Geld
machen will, schlecht über uns redet. Wir stimmen dem, was
sie sagen, nicht zu. Es wäre hilfreich, wenn Menschen in
anderen Ländern wie hier in den USA von unserem Kampf
erfahren und unsere Projekte unterstützen würden, mit
denen wir den Cerrado und seine Bewohner verteidigen.
Übersetzt aus dem Englischen von Yvonne Bangert. Das Interview finden Sie als Videoaufzeichnung auf Portugiesisch mit englischen Untertiteln unter: www.intercontinentalcry.org/protecting-amazon-includes-defending-indigenous-rights
[Noten]
(1) Anm. d. Red.: Der Cerrado ist eine Savannenlandschaft in
Zentralbrasilien. Die Caatinga ist eines der größten
Trockenwaldgebiete in Südamerika und das Pantanal eines der
größten Binnenfeuchtgebiete der Erde.
(2) Anm. d. Red.: Quilombolas sind Nachkommen entflohener
afrikanischer Sklaven, die eine eigene Kultur entwickelt
haben.
(3) Anm. d. Red. Mit dem "Marsch nach Westen" kündigte
Präsident Getúlio Vargas 1938 an, große Gebiete
im Landesinneren für die Landwirtschaft erschließen zu
wollen. Getúlio Vargas regierte Brasilien als Diktator von
1930 bis 1945 sowie als gewählter Präsident von 1950
bis 1954.
(4) Anm. d. Red.: Luiz Inácio Lula da Silva war von 2003
bis 2011 Präsident Brasiliens.
Von Mascha Brammer
Der Fluss Niger ist eines der bedeutendsten und landwirtschaftlich genutzten Lebensadern Afrikas. Malis Landwirtschaft konzentriert sich vor allem an dem Strom. Doch nur fünf Prozent des westafrikanischen Landes ist überhaupt für Ackerbau und Viehzucht nutzbar, denn 60 Prozent der Landesfläche liegt in der Sahara im Norden von Mali. Der Süden befindet sich in der tropischen Zone. Die Wirtschaft wird vorwiegend von Kleinbauern und Viehzüchtern getragen, 70 Prozent der Bevölkerung arbeitet in diesem Bereich.
Markttag in Mali. Foto: Alexbip/Flickr BY-NC-ND 2.0.
Der Wettkampf um die kleine, kostbare Fläche des
Nigerbinnendeltas zwischen den klimatischen Extremen hat
begonnen: Versteppung, Wüstenbildung und der Bau von Minen,
Bewässerungsanlagen und Dämmen, die das natürliche
Bewässerungssystem zerstören, verringern den Anteil
landwirtschaftlicher Nutzflächen immens. Die
Ernährungssicherheit in Mali kann kaum noch
gewährleistet werden. Zudem werden immer mehr
Grundstücke an ausländische Investoren
verpachtet.
Dieser Landraub zerstört in hohem Maß funktionierende
Dorfgemeinschaften der Kleinbauern. Auch die Tuareg im Norden des
Landes tragen mit ihrer Viehwirtschaft zur
Ernährungssicherheit der eigenen Bevölkerungsgruppe
bei. Zudem sind mittlerweile viele Klans sesshaft geworden und
betreiben Bewässerungswirtschaft. Das Land gehört
offiziell dem Staat, allerdings wird es traditionell innerhalb
der Dörfer und Familien weitervererbt und als Gemeingut
angesehen. Diese Tradition hat Mali 2006 gesetzlich
geschützt und Land kann aufgrund eines staatlichen
Interesses gegen eine Entschädigungszahlung enteignet
werden. Allerdings wird in vielen Fällen nicht
gezahlt.
Die staatliche Behörde "Office du Niger" ist ein "wichtiger"
Akteur, der den Landraub in Mali "fördert". Office du Niger
wurde bereits 1932 mit dem Ziel gegründet,
landwirtschaftliche Nutzflächen im südwestlichen
NigerBinnendelta zwischen der Stadt Ségou und der
mauretanischen Grenze zu verwalten. Seit 1994 untersteht sie dem
Ministerium für Landwirtschaft und seit 2009 direkt einem
Staatssekretär des Premierministers. Die Behörde
verpachtet Land an Kleinbauern, verkauft Wasser, verwaltet die
Reisproduktion und stellt so die Ernährung der Malier
sicher. Viele Kleinbauern klagen, dass die Arbeit des Office du
Niger nicht transparent sei. Die Rechte der Kleinbauern und
Viehzüchter werden zudem kaum beachtet. Manchen wird sogar
vorgeworfen, sich illegal auf dem Land angesiedelt zu haben,
nachdem Investoren Interesse an ihren Ländereien bekundet
haben.
Die Regierung und mit ihr auch die staatlichen Institutionen sind
zunehmend investitionsfreundlicher geworden, seitdem
wirtschaftliche Liberalisierungsmaßnahmen umgesetzt worden
sind, die die Weltbank in den 1980er Jahren bereits gefordert
hat. Das Investitionsklima für ausländische Geldgeber
hat sich erheblich verbessert. Doch wirkt sich das zu Ungunsten
der Kleinbauern aus: Anstatt der vorhandenen Vielfalt der
Gemüse- und Getreidesorten, die bei Ernteausfällen sehr
hilfreich ist, soll nun mehr Reis produziert werden. Aufgrund
vieler Hungersnöte seit 2008 hat der malische
Premierminister Modibo Sidibé die "Reisinitiative"
gegründet, die den Export von Reis verhindert, aber den
Import von ausländischem Reis ermöglicht. Der Preis ist
infolge dessen so stark gesunken, dass viele Kleinbauern, die
Reis anbauen, das nötige Wasser nicht mehr bezahlen
können. Zum einen soll der Reis der
Ernährungssicherheit der malischen Bevölkerung dienen,
die stark wächst, zum anderen aber auch die
Ernährungssicherheit der Staaten sicherstellen, die als
Investoren auftreten. Der Exportstopp von Reis wurde 2010 wieder
ausgesetzt.
Problematisch ist aber auch, dass sich das Siedlungsgebiet der
Tuareg mit dem Land überschneidet, das das Office du Niger
verwaltet. Die Tuareg werden benachteiligt und ebenso wie andere
Kleinbauern auch von ihrem Land vertrieben, so dass
landwirtschaftliche Großprojekte und der Abbau von
Rohstoffen wie Uran realisiert werden können. Aufgrund der
Vertreibungen und der Unzufriedenheit mit der malischen Regierung
schließen sich die Tuareg fundamentalistischen Gruppen wie
Al Qaida an.
Das Projekt "Malibya" ist der bisher größte bekannte
Vertrag, den das Office du Niger 2008 mit dem "Libya Africa
Investment Portfolio" (LAP), einer libyschen
Investmentgesellschaft, geschlossen hat. LAP kann 50 Jahre lang
100.000 Hektar Land, auf dem Hybridreis und Tomaten angebaut
sowie Vieh gehalten werden soll, Wasser unbegrenzt für
jährliche fünf US-Dollar/Hektar nutzen. Zudem soll ein
40 Kilometer langer Kanal entstehen sowie eine ebenso lange
Straße.
Gerade solche Infrastrukturprojekte sind eines der zentralen
Argumente für die Verpachtung von Landflächen. Der
malische Bauernverband Sexagon ist gegen das Projekt Malibya, da
er befürchtet, dass der Reis vor allem für den Export
angebaut werde und vertriebene Kleinbauern ihre Familien nicht
mehr ernähren können. Die Bauern wurden in das Projekt
nicht miteinbezogen. Weder haben sie eine
Entschädigungszahlung erhalten noch wissen sie, ob sie als
Hilfskräfte auf den Flächen arbeiten dürfen, die
sie zuvor selbst bewirtschaftet haben. Bisher sind 150 Familien
von den Infrastrukturarbeiten betroffen.
Das Office du Niger hat offiziell 540.000 Hektar Land verpachtet
und vor allem mit chinesischen, US-amerikanischen,
französischen und britischen Investoren Verträge
geschlossen. Nach inoffiziellen Angaben sind aber
Landverpachtungen im Ausmaß von bis zu 820.000 Hektar
geplant. Viele Fragen bleiben offen: Wer profitiert wirklich von
diesen Landverträgen?
Welche Auswirkungen hat der unbegrenzte Zugriff auf Wasser
für das Flusssystem des Niger? Mit welchen Folgen
müssen die vorherigen Landbesitzer leben? Wird die
Ernährungssicherheit infolge solcher Landverträge
wirklich sichergestellt? Zudem ist rechtlich nicht geregelt, wem
das Land überhaupt gehört: dem Staat oder den Bauern?
Die Kleinbauern pochen auf eine angemessene Entschädigung,
die ihnen oft nicht gewährleistet wird. Nicht nur Land,
sondern auch Wasser wird in Mali geraubt. Das Nigerbinnendelta
ist ab Juli auf die Wasserhöchststände des Flusses
angewiesen. Stromaufwärts können Konzerne "dank" des
Projektes Malibya das ganze Jahr über unbegrenzt Wasser
verbrauchen, nur eingeschränkt durch eine staatliche
Regelung, von Januar bis Mai keine Pflanzen anzubauen, die viel
Wasser benötigen. Dieser "Diebstahl" hat gravierende
Auswirkungen auf den Fluss und seine Anwohner, denen das
Lebenselixier für die Bewässerung ihrer Flächen
nicht im ausreichenden Maß zur Verfügung steht.
Von Konstantin Udert
Am Morgen des 19. Mai 2014 erhielt Tony Nassar einen Anruf mit der schockierenden Nachricht, dass etwa ein Viertel des Landes seiner Familie zerstört worden sei. Israelische Bulldozer hätten 1.500 Aprikosen- und Apfelbäume gerodet, in eine Grube geschoben und die zehn Hektar großen Terrassenfelder, auf denen die Bäume gepflanzt waren, planiert.
Tent of Nation. Foto: Konstantin Udert.
Der stellvertretende Schulleiter aus Bethlehem/Westjordanland
machte sich unverzüglich auf den Weg, um gemeinsam mit
Familienmitgliedern und internationalen Beobachtern den Schaden
zu begutachten. Sie trauten ihren Augen nicht, als sie ihr
eigenes Land nicht wiedererkannten: Dort, wo nach
jahrzehntelanger Arbeit der Nassars die Fruchtbäume
geblüht hatten, sahen sie auf braune Erde, Geröll und
Kettenspuren. Trauer, Wut und Frustration überkamen alle
Anwesenden. Tony Nassar fasste sich jedoch als Erster und
verkündete: "Wenn sie unsere Bäume fällen, werden
wir neue Bäume pflanzen. Sie haben Bulldozer, aber wir haben
den Glauben und die Hoffnung auf einen gerechten Frieden."
Augenzeugen erzählten, dass sie um etwa sieben Uhr gesehen
hätten, wie israelische Militärfahrzeuge die
Zufahrtsstraße zum Grundstück der Nassars blockierten.
Anschließend seien drei Bulldozer gekommen und hätten
innerhalb von zwei Stunden die fast erntereifen Bäume
gefällt und vergraben. Doch woher nimmt Tony Nassar seine
Zuversicht? Und warum vernichtet jemand 1.500 erntereife
Bäume? Die Antworten auf diese sich aufdrängenden
Fragen spiegeln einige Aspekte des
israelisch-palästinensischen Konflikts geradezu exemplarisch
wieder.
Die Antwort auf die erste Frage nimmt im Jahr 1916 ihren Anfang,
als Daher Nassar das 42 Hektar große, auf einem Hügel
südlich von Bethlehem gelegene Grundstück erwarb.
Damals zählte das Wort mehr als Dokumente, trotzdem
ließ Tonys Großvater sein Besitzrecht in das damals
ottomanische Grundbuch eintragen. Auch während der
britischen Mandatszeit und der anschließenden jordanischen
Besatzung ließ er sich von den jeweiligen Besatzern den
Grundbucheintrag offiziell bestätigen, der später auch
von der israelischen Regierung anerkannt wurde. So kann die
Familie Nassar heute lückenlos beweisen, dass "Dahers
Weinberg" ihr seit 1916 gehört. Dies ist ein großes
Glück, denn sämtliche Nachbarn wurden bereits vor
Jahrzehnten wegen fehlender Dokumente enteignet. Doch warum roden
nun israelische Bulldozer 1.500 erntereife Bäume? Das
Grundstück der Familie Nassar ist sehr begehrt.
Es ist seit den 1970er Jahren umringt von israelischen
Siedlungen1, die auf das Grundstück der Nassars ausgeweitet
werden sollen2. Seit 1991 befindet sich die Familie in laufenden
Gerichtsverfahren, da ihr Land vom israelischen Militär
wiederkehrend zu "Staatsland" deklariert wird, wogegen sie jedes
Mal Einspruch einlegt. Tony und seine Familie haben in diesem
Rechtsstreit bereits mehr als 100.000 Euro verloren. Ihnen wurde
sogar ein Blankoscheck angeboten, um das Land zu verkaufen. Doch
es geht den Nassars nicht um Geld: Das Land ist das Erbe ihrer
Vorfahren, ihre Zukunft und die Hoffnung auf gerechten
Frieden.
Die Erklärung, Privateigentum sei "Staatsland" oder
"Militärgebiet", ist das gängige Verfahren, mit dem
auch die Nachbarn der Nassars enteignet worden sind., Sie konnten
vor Gericht keine Gegenbeweise vorlegen oder wurden durch die
hohen Anwaltskosten zur Aufgabe gezwungen. Ihr Land wurde
anschließend vom israelischen Staat an die Siedler verkauft
und diente somit der völkerrechtlich illegalen
Siedlungserweiterung.
Ein Mitglied der Familie Nassar. Foto: Melody Nelson/Flickr BY-NC-SA 2.0.
Die Nassars sind der israelischen Regierung ein Dorn im Auge,
da sie die Landnahme zur Siedlungsexpansion bisher legal
verhindern können. Doch nicht nur das ärgert Israel.
Die Nassars haben auf ihrem Grund und Boden das Projekt Tent of
Nations ("Zelt der Völker") ins Leben gerufen - einen Hort
des gewaltfreien Widerstands gegen die israelische Besatzung im
Westjordanland. Seit dem Jahr 2000 ist das von Tonys Bruder,
Daoud Nassar, geleitete Tent of Nations Treffpunkt für
interkulturelle und interreligiöse Dialogveranstaltungen. Es
bietet zudem Bildungsangebote für palästinensische
Frauen und Jugendliche an. Das dort gelebte Motto "Wir weigern
uns, Feinde zu sein" inspiriert seitdem zahlreiche Besucher.
Somit ist "Dahers Weinberg" nicht nur für die Nassars ein
bedeutungsvoller Ort. Besonders für die Palästinenser
aus der Umgebung erfüllt das Tent of Nations wichtige
Funktionen:
- Für Kinder und Jugendliche aus Bethlehem ist das
Gelände des Tent of Nations der einzige Ort, an dem sie
etwas über die Natur und Umweltschutz lernen können, da
fast alle unbebauten Flächen des Westjordanlands von Israel
kontrolliert werden.
- Unterhalb des Grundstücks des Tent of Nations liegt das
palästinensische Dorf Nahalin mit rund 7.000 Einwohnern.
Falls die umliegenden israelischen Siedlungen verbunden werden
würden und das Tent of Nations deshalb verschwinden
würde, dürften sich die Repressionen des israelischen
Militärs gegen die Einwohner Nahalins
erfahrungsgemäß weiter verstärken und einen
geregelten Alltag unmöglich machen.
Noch stärker als die Einwohner Nahalins werden im Moment
jedoch die Nassars drangsaliert. Abgesehen von der
wiederkehrenden Deklarierung ihres Grundstücks als
"Staatsland" erhielten sie Abrissbefehle für Zelte,
Komposttoiletten, Tierställe, die Solaranlage und
Wasserzisternen sowie die Anweisung, die in Stein gehauenen
Höhlen zu zerstören. Die Zelte und Höhlen wurden
errichtet, da feste Strukturen, wie Häuser etwa, ohne die
Angabe von Gründen nicht genehmigt wurden. Die Nassars
bauten zudem eine Solaranlage, Wasserzisternen und
Komposttoiletten, da sich das Gelände zunehmend zu einer
Selbstversorger-Farm entwickeln soll - die israelische Regierung
verweigert nach wie vor einen Strom- und Wasseranschluss. Und so
hat das Tent of Nations eine weitere wichtige Funktion:
Internationale Gäste erleben hier selbst, welchen
Repressionen die palästinensische Zivilbevölkerung
mitunter ausgesetzt ist. Übereinstimmend beschreiben sie,
vor allem die einheimischen Besucher, die friedliche und aktive
Reaktion der Familie Nassar als "inspirierend",
"ermutigend".
Die zahlreichen Drangsalierungen, die zuletzt in der illegalen
Zerstörung der Fruchtbäume als ein wirtschaftliches
Standbein des Tent of Nations gipfelten, und die feindselige und
demoralisierende Vernichtung jahrzehntelanger Arbeit haben eine
simple und traurige Botschaft: "Verschwindet!" Mit der Arbeit der
Nassars und ihrer Mission haben sich weltweit zahlreiche
Menschen, Kirchen und Vereine solidarisiert. Sie
unterstützen mit Spenden, durch ihren Arbeitseinsatz vor Ort
und durch Lobbyarbeit den Erhalt und Ausbau des Tent of Nations
auf "Dahers Weinberg". Damit können die Nassars der
israelischen Besatzung eine starke Botschaft entgegensetzen: "Wir
weigern uns, Feinde zu sein" und "Wir werden bleiben!"
"Unsere Mission ist, mit dem Tent of Nations Brücken
zwischen Menschen zu bauen und zwischen Menschen und der Erde.
Wir vereinen mit dem Tent of Nations Menschen verschiedener
Kulturen, um Brücken der Verständigung, der
Versöhnung und des Friedens zu bauen."
[Weitere Informationen] www.tentofnations.org, www.facebook.com/tentofnations
[Zum Autor] Konstantin Udert hat 2014 für drei Monate die bedrohte Völker - pogrom-Redaktion als Praktikant unterstützt. Er ist persönlich mit der Familie Nassar bekannt. Im Wintersemester 2014 wird er Politikwissenschaften in Berlin studieren. Er engagiert sich ehrenamtlich für Brass for Peace e.V.. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, "Interesse und Verständnis für die Situation im Heiligen Land bei den Bläserinnen und Bläsern der Posaunenchorbewegung in der evangelischen Kirche in Deutschland" zu wecken, Kontakte zwischen palästinensischen und deutschen Blechbläsern zu ermöglichen und zu fördern. Konstantin Udert ist Mitglied in der Amnesty-Hochschulgruppe Hannover.
Pogrom-bedrohte Völker 283 (4/2014)
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/media2013-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/crescita2012-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/woman2011-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/brasil-belo.html
| www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/global-sozial.html
| www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/global.html |
www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/dekade.html
in www: www.mapuexpress.org