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Eziden

Strategiepapier über die regionale Autonomie Sindschar (Sengal) - Diskussionspapier 2015

Von Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan

Göttingen, Bozen, 12. Mai 2015

In den yezidischen Dörfern bleiben vielfach nur die alten Menschen zurück. Foto: GfbV Archiv. In den yezidischen Dörfern bleiben vielfach nur die alten Menschen zurück. Foto: GfbV Archiv.

Vorwort

Zunächst möchte ich Herrn Prof. Kizilhan zum wohl durchdachten und gut begründeten Vorschlag für eine Territorialautonomie und die selbst bestimmte Entwicklung der Eziden in ihrem angestammten Gebiet Sindschar (heute Territorium des Irak) gratulieren. Eine Territorialautonomie im Verbund mit der Autonomen Region Kurdistan (Irak) mit entsprechender Anpassung der geltenden Verfassung des Bundesstaats Irak scheint in der heutigen Gesamtsituation eine gangbare und angemessene Lösung. Die angedeutete staatsrechtliche Alternative des Sindschar als einer föderalen Einheit im Rahmen der föderalen Struktur des Irak hingegen scheint wenig Sinn zu machen, angesichts der mittelfristig gefährdeten Einheit des Irak und der gesamten bisherigen historischen Entwicklung in diesem Gebiet. In historischer Perspektive scheint weder eine türkische noch eine arabische Oberhoheit über dieses Gebiet in Einklang mit den Lebensinteressen der Eziden, der Kurden und anderer ethnischer und religiöser Minderheiten zu stehen.

Langfristig wird Irakisch-Kurdistan die Unabhängigkeit erreichen, auf welche es legitimen Anspruch hat. Auf diese Situation müssen sich auch die Eziden des Sindschar hinorientieren und eine eigenständige staatliche Organisation im Verbund mit den Kurden anpeilen. Sindschar könnte somit Teil eines multireligiösen und multiethnischen demokratischen Staatswesens "Kurdistan" werden. Die Idee einer multiethnischen, demokratischen Staatlichkeit wird derzeit auch von der Region Rojava (Syrisch-Kurdistan) verfolgt, die im völlig labilen Zustand des Bürgerkriegs in Syrien zunächst auf Abspaltung und Ausübung des Selbstbestimmungsrechts verzichtet hat.

In diesem Sinn können und sollten die Eziden eine engstmögliche strategische und institutionelle Zusammenarbeit mit den Kurden vor allem der Autonomen Region, aber auch in Nordsyrien und in der Türkei anstreben. Zu Recht schreibt Prof. Kizilhan, dass der Autonomieprozess im Nordirak nicht abgeschlossen ist. Es braucht also neue Institutionen und Spielregeln im Rahmen der irakischen Verfassung, aber auch eine territoriale Neuordnung dieser Gebiete im Norden des Irak, die verfassungsrechtlich verankert werden müsste. In diesem Sinn ist es zu begrüßen, dass Prof. Kizilhan eine doppelte Autonomie des Sindschar vorschlägt, wenn ich dies richtig verstehe: einmal Autonomie gegenüber Bagdad, zum zweiten Autonomie als eigene Provinz im Rahmen der Autonomen Region Kurdistan. Zweistufige Territorialautonomie wäre nichts absolut Neues. Sie besteht z.B. im Rahmen von Bundesstaaten wie Indien auf der sub-bundesstaatlichen Ebene in Assam (z.B. Bodoland), Westbengalen (Darjeeling) und Jammu&Kaschmir (in Ladakh und Kargil), bei den Okzitanen des Arantals in der Autonomen Gemeinschaft Katalonien und - eher im kulturellen Sinn - bei den Ladinern Südtirols.

Man könnte auch auf die Sonderrechte der Krimtataren in der früheren Autonomen Region Krim der Ukraine hinweisen, was eher der Organisationsform der Kulturautonomie zuzuordnen ist und deren Zukunft in Russland ungewiss ist. Von vornherein muss diese Einbindung eines Autonomen Gebiets Sindschars in die Autonome Region Kurdistan nicht nur in der irakischen Verfassung, sondern auch im Autonomiestatut Kurdistans zu verankern, mit klarer Abgrenzung der Zuständigkeiten, der Finanzierung, der Regelung der Sicherheit und Verteidigung, der Institutionen und der Grenzziehung. Eine Begutachtung des Strategiepapiers unter verfassungs- und völkerrechtlichem Aspekt sollte noch durch einen unabhängigen Experten erfolgen.

Thomas Benedikter, GfbV-Ehrenmitglied und Autonomieexperte, 20. März 2015.

Skizze eines Strategiepapiers über die regionale Autonomie Sindschars (kurdisch Sengal) - Zusammenfassung

Die Situation im Irak ist politisch unübersichtlich, das Land gespalten und die Regierung war bislang nicht in der Lage, den Genozid des IS ("Islamischer Staat") an den Eziden (1) und anderen Gruppen zu stoppen. Die Irak-Krise mit den weiterhin ungelösten Konflikten zwischen den Kurden, Schiiten und Sunniten ist selbst zu einer Katastrophe für die Außenund Sicherheitspolitik im Nahen und Mittleren Osten und der westlichen Welt geworden. Auf Grund der zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Nahen und Mittleren Osten, vor allem in Syrien und im Irak, sind neue Ansätze, auch für den Schutz der Minderheitenreligionen im Irak notwendig.

Die Europäische Union, die USA, die Kurden in Erbil und die Zentralregierung in Bagdad sollten eine umfassende Strategie für die Zeit nach dem Rückzug des IS aus dem Irak entwickeln, unter Berücksichtigung historischer, religiöser und ethnischer Gegebenheiten, wie z. B. der Situation der Eziden in Sindschar (kurdisch Sengal). Diese sollte auf demokratischen Prinzipien basieren. Der Genozid gegen die Eziden und andere Gruppen hat deutlich gemacht, dass eine kohärente und vernünftige Strategie darin bestehen muss, die Staaten im Nahen und Mittleren Osten, die USA, die EU und vor allem die betroffenen Gruppen einzubeziehen und zur Zusammenarbeit auf regionaler und globaler Ebene zu bewegen.

Die Strategie bezüglich der Eziden sollte aus folgenden Bausteinen bestehen: Die Kurdische Regierung in Erbil, die irakische Regierung in Bagdad, die USA und die EU müssen eine weitere humanitäre Katastrophe verhindern und die Flüchtlinge ausreichend versorgen. Diese sollten vor allem dabei unterstützt werden, in ihre vom IS-Terror befreite Gebiete zurückzukehren und die zerstörten Städte und Dörfer sowie die Landwirtschaft wieder aufzubauen.

In einer Übergangsphase sollte das Gebiet Sindschar, falls ein Schutz durch die kurdische Militäreinheit in Erbil nicht möglich ist, zur internationalen Schutzzone werden. Deren Einrichtung würde den gepeinigten Eziden neues Vertrauen geben und sie motivieren, in ihr seit Jahrhunderten angestammtes Siedlungsgebiet zurückzukehren. In dieser Phase ist eine multinationale Task Force unter dem Dach der Vereinten Nationen notwendig.

Die Sindschar-Region ist das Hauptsiedlungsgebiet der Eziden und daher für sie von existenzieller Bedeutung. Vor dem Einmarsch des IS lebten dort mehr als 400.000 Eziden; das ist jeder zweite. Sollten sie in ihre Heimat nicht wieder in Sicherheit und Frieden zurückkehren können, ist mit dem Untergang der Jahrtausende alten kulturellen Erbes des Ezidentums im Nahen Osten zu rechnen.

Die Internationale Gemeinschaft sollte unter Beteiligung der drei Akteure (Kurdische Regionalregierung in Erbil, Irakische Regierung und legitime Vertreter der Eziden) politische und praktische Unterstützung gewähren, um eine Selbstverwaltung im Sinne einer Territorialautonomie in Sindschar zu ermöglichen. Die Entscheidung dafür sollte durch einen Volksentscheid herbeigeführt werden. Das autonome Gebiet Sindschar, das historisch ein Teil der kurdischen Gebiete ist, sollte an die kurdische Regionalregierung in Erbil assoziiert werden. Hier könnte es auch als eine Provinz unter der politischen Kontrolle der Regionalregierung Kurdistans gestellt werden.

Die ezidische Peshmerga-Einheit), der zurzeit mehr als 3000 Kämpferinnen und Kämpfer angehören, wäre als Miliz für das Gebiet Sindschar aufzubauen. Die internationale Gemeinschaft könnte durch ihre Erfahrungen bei der Gestaltung der Autonomieregion, bei der Reform des Rechtssystems und bei Anwendung der irakischen Gesetze ihre Unterstützung anbieten. Vor allem die EU sollte in Zusammenarbeit mit den politischen Akteuren im Irak und Kurdistan den Neuaufbau der Infrastruktur, des Sicherheits-, Gesundheits- und Bildungssystems in Sindschar helfen.

Ezidische Nicht-Regierungs-Organisationen sollten Hilfe erhalten, um eine effektive Basisarbeit für die Demokratisierung, die Einhaltung der Menschenrechte und den Umgang mit zivilen Konflikten in Sindschar zu leisten. Ein solches Sicherheitssystem dürfte weder von den anderen Gruppen im Irak noch von den Nachbarn des Irak als eine Bedrohung wahrgenommen werden. Allerdings müsste eine autonome Sindschar-Region bei kriegerischen Konflikten wie dem IS-Terror im August 2014 in der Lage sein, sich durch geschulte Milizeinheiten zu verteidigen, bis militärische Hilfe aus Erbil oder Bagdad eintrifft. Hätte es eine solche gut ausgebildete Milizeinheit in Sindschar vergangenes Jahr gegeben, wäre es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu einem solchen Genozid gekommen.

Gleichzeitig muss die wirtschaftliche Situation in Zusammenarbeit mit Kurdistan aufgebaut und entwickelt werden, damit die Bevölkerung langfristig in der Lage ist, sich ausreichend zu versorgen. Die Reichtümer der Region sollten im Interesse der Bevölkerung eingesetzt werden. In den ersten Jahren wird finanzielle Hilfe durch die internationale Gemeinschaft, Erbil und Bagdad unabdingbar sein. Unterstützungsleistungen an regionale Partner sollten an Fortschritt bei der Demokratisierung und der Achtung der Menschenrechte geknüpft werden.

Eine internationale Konferenz mit der Europäischen Union, den USA, mit Russland, der Türkei, Irak, Iran und Syrien könnte ein erster Schritt sein, die Gefahr möglicher Konflikte einzudämmen und so schrittweise die Autonomie für die Sindschar-Region einzuleiten.

Einleitung

Der Konflikt um die Eziden ist mehr als tausend Jahre alt; ihre Geschichte wird auf mehr als 4000 Jahre geschätzt. Durch die Islamisierung der kurdischen Gebiete im Irak, Iran, Syrien und der Türkei seit 637 hat eine unglaubliche Odyssee der Verfolgung und Zwangsislamisierung der Kurden bis heute stattgefunden. Seit mehr als 800 Jahren wird in der Literatur von Eziden berichtet, die sich selbst Eziden nennen, was so viel wie "von Gott erschaffen" bedeutet. Die Eziden missionieren nicht, und Ezide wird man nur durch Geburt. Sie glauben an Gott und sieben Engel, beziehen Elemente des Mithraismus mit ein und gehören historisch zu den iranischen Religionen, wie die alte Religion der Iraner, der Zarathrismus.

Die Eziden versuchen heute, verteilt im Irak, der Türkei und in Syrien, zu überleben. Sie waren immer Opfer zahlreicher Massaker durch das Osmanische und Persische Reich. Zahlreiche Fatwas "erlaubten" ihren Tod, Plünderung, Verschleppung und ihre Zwangsislamisierung, da sie nicht als Religion anerkannt wurden.

In der Türkei gibt es heute nicht mehr als 500 Eziden. Etwa 30.000 sind seit den 70er-Jahren aus der Türkei nach Deutschland migriert. Bereits während des Zusammenbruchs des osmanischen Reiches flohen viele Eziden mit den Armeniern in das heutige Armenien und lebten anschließend in den Kaukasusgebieten der ehemaligen Sowjetunion. Die Eziden in Syrien haben wie die Christen durch den Bürgerkrieg dort zahlreiche Opfer zu beklagen und versuchen, das Land zu verlassen. Nur im Nordirak leben noch ca. 800.000 bis 1 000 000 Eziden in dem Gebiet Sindschar, in dem sich auch viele ihrer religiösen Heiligtümer befinden. In Deutschland leben ca. 100.000 Eziden und weitere 150.000 Eziden in den weiteren europäischen Ländern, in den USA und Australien.

Auch nach der Saddam-Ära 2003, insbesondere seit 2007, wurden im Irak Hunderte Eziden durch terroristische Gruppen ermordet. Bis heute erleben sie immer wieder Ausgrenzungen und Repressalien durch die muslimische Mehrheit. Seit dem Angriff des Islamischen Staates (IS) Anfang August 2014 wurden mehr als 7000 Eziden getötet, Tausende von Familien als Geiseln in ihren Dörfern gehalten und im Falle einer Nichtkonvertierung zum Islam ermordet.

Mehr als 3000 junge Mädchen wurden verschleppt, vergewaltigt und auf arabischen Märkten verkauft, versklavt und getötet. Mehr als 20 000 Eziden sind nach Syrien, 30 000 in die Türkei und 300 000 in die kurdische Region geflüchtet. Die Eziden wurden und werden systematisch verfolgt und ermordet. Aus ihrer Sicht ist es ein Genozid, das sich nun zum 73. Mal in ihrer Geschichte wiederholt.

(1) In der Literatur werden die Eziden auch als "Yeziden", "Yazidi" oder "Jesiden" bezeichnet. Wir haben uns für die Schreibeweise "Eziden"entschieden, da die Eziden sich so bezeichnen.

Der kompletter Report: www.gfbv.it/3dossier/kurdi/ezid.pdf