Bozen, Göttingen, 14. Juni 2007
Kurdistan und die Kurden
- unter diesem Titel erschien in den 80-er Jahren eine
dreibändige Taschenbuchausgabe der Reihe Pogrom. Auf 900
eindrucksvollen Seiten stellten kurdische Patrioten - Historiker,
Publizisten und Politiker - Situation und Schicksal ihres
viergeteilten Landes, in Syrien, der Türkei, dem Iran und
dem Irak, dar. Kurden kamen damals selten zu Wort. "Die Kurden
haben keine Freunde", hieß es in vielen Leitartikeln und
Berichten über ein weithin noch unbekanntes Land. Das hat
sich grundlegend verändert. In den Staaten Mittel- und
Nordeuropas sind große kurdische Exilgemeinschaften
ansässig geworden.
Allein in Deutschland leben über 800.000 Angehörige
des kurdischen Volkes. Sie bilden dort einen beachtlichen Teil
der ausländischen Zuwanderer. Mit gewissem Recht spricht man
vom fünften Kurdistan in der Bundesrepublik. Die Vielfalt
der kurdischen "Gemeinden", der Vereine, kulturellen
Institutionen und Exilvertretungen kurdischer Parteien macht
dieses "Fünfte Kurdistan" ein Stück weit real. Sie alle
führen, wie auch in anderen europäischen Ländern,
einen ständigen und lebhaften Dialog mit der jeweiligen
nationalen Öffentlichkeit. Und schließlich hat der
Austausch der Informationen über das Internet seit Mitte der
90-er Jahre dafür gesorgt, dass die kurdischen Regionen dem
Europäer heute bekannt, wenn nicht vertraut sind.
Lange Zeit war Kurdistan nur eine ethnische, sprachliche und
geographische Einheit. Eine Region von der Größe
Frankreichs von über 500.000 km2 mit etwa 40 Millionen
Einwohnern, davon 30-35 Millionen Kurden. Etwa 80% der
Bevölkerung sind sunnitische Muslime, eine Minderheit von
mehreren Millionen praktizieren den shiitischen Islam oder sind
Aleviten. Zu den kleineren Religionsgemeinschaften kurdischer
Nationalität gehören die Yeziden sowie die Ahl-e Haqq.
Bis zum Völkermord an Armeniern und Assyrern 1915-18
stellten diese christlichen Völker einen wesentlichen Anteil
der Bevölkerung der kurdischen Regionen. Für die
aramäischsprachigen Assyro-Chaldäer sind große
Teile Kurdistans - ihr Land Obermesopotamien - Heimat seit
Jahrtausenden.
Ohne die Assyro-Chaldäer in der Niniveh-Ebene leben in
allen Teilen Kurdistans heute noch knapp 150.000 Angehörige
dieses aramäischsprachigen Volkes. Neben den Turkmenen gibt
es arabische, türkische, aserbaidschanische und persische
Minderheiten im kurdischen Siedlungsgebiet. Die große
jüdische Minderheit des Irak war nach Pogromen und
öffentlichen Hinrichtungen schon in den 50-er und 60-er
Jahren aus dem Lande gejagt worden oder geflüchtet. Der
legendäre Führer des kurdischen Widerstands Mustafa
Barzani hatte damals jüdische Flüchtlinge gerettet,
indem er sie über die kurdischen Berge in den Iran geleitet
hatte. Eine gegenseitige Sympathie zwischen irakischen Kurden und
Juden ist geblieben.
Linguistische und religiöse Vielfalt zeichnet auch das Volk
der Kurden aus. Sprachwissenschaftler streiten bis heute, ob das
Kurmanci, das Sorani und das Zaza drei verschiedene kurdische
Sprachen oder nur verschiedene Dialekte bilden. Konsequent werden
an Schulen und Universitäten im irakischen Bundesstaat
Kurdistan die beiden ersten, in Irakisch-Kurdistan gesprochenen
kurdischen Dialekte/Sprachen gelehrt.
Kurdistan ist seit drei Jahren nicht mehr nur ein
geographischer Begriff. Zwei Drittel des kurdischen Nordirak
bilden heute den Bundesstaat Kurdistan, eine politische
Entität mit Parlament, Landesregierung,
Ministerpräsident und sogar eigenem Präsidenten.
Kurdische Einheiten der ehemaligen Peschmerga-Widerstandsbewegung
stellen heute die irakische Armee im Bundesstaat Kurdistan.
Während shiitische und sunnitische arabische Bewegungen
einen fürchtbaren Bürgerkrieg gegeneinander
führen, an dem auch islamistische Terroristen aus dem
Ausland beteiligt sind, und die Zivilbevölkerung Tag
für Tag unendliches Leid erfährt, herrscht im
irakischen Kurdistan weithin Frieden. In den arabischen Regionen
des Irak werden Christen, Mandäer und Yeziden verfolgt und
vertrieben.
In Kurdistan hat die Landesregierung bereits 20.000 christliche
Flüchtlinge aufgenommen. Sie baut die von Saddam
zerstörten assyro-chaldäischen Dörfer wieder auf,
hat zahlreiche Schulen in neuaramäischer Sprache
eröffnet und unterstützt die Medien der Christen. In
der Landesregierung sitzen drei christliche Minister neben zwei
der Yeziden und zwei Turkmenen. Auch letztere verfügen
über eigene Schulen und Medien. Besucher, unter ihnen auch
mehrere Delegationen der Gesellschaft für bedrohte
Völker, berichten Erstaunliches. Der Nordirak erlebt einen
beeindruckenden Wirtschaftsaufschwung, Straßen und
Autobahnen werden gebaut, ganze Stadtteile entstehen, mit der
Wiederaufforstung der kahlen Bergregionen wurde begonnen. Vier
Universitäten sind entstanden, an denen Kurdisch gelehrt
wird.
Von den 30.000 Studenten sind 54% Frauen. All das wirkt wie ein
Magnet auf die mindestens 30 bis 35 Millionen Kurden, nicht nur
im Irak, sondern auch in den überwiegend kurdischen
Landesteilen der drei Nachbarstaaten Türkei, Syrien und
Iran. Dort wird die kurdischsprachige Bevölkerung weiter
diskriminiert, unterdrückt oder verfolgt In türkischen
Gefängnissen sind bis heute 4.000 kurdische politische
Gefangene inhaftiert. Die Regierung der Türkei macht kaum
Anstalten, die zwei Millionen während des türkisch-
kurdischen Bürgerkriegs vertriebenen kurdischen Dorrbewohner
in ihre Heimatorte zurückzuführen und diese wieder
aufzubauen. De facto darf die kurdische Sprache weder in Schulen
noch bei Behörden gebraucht werden. Die drei kurdischen
Siedlungsgebiete Syriens genießen keinerlei lokale oder
regionale Selbstverwaltung. Kurdische Ortsnamen dürfen nicht
verwendet werden. Rund 300.000 Kurden haben bis heute ihre
syrische Staatsbürgerschaft nicht wiederbekommen.
Auch Irans Kurden fordern die Gleichberechtigung ihrer Sprache
und den föderalistischen Aufbau des Landes, wie die
große Mehrheit der Iraner, aber auch Rechtsstaat und
Demokratie. Zwar sehnen sich viele Kurden nach einem gemeinsamen
Staat. Doch hat die Annektierung, Okkupation und fast 90 Jahre
währende Repression durch den arabischen, persischen und
türkischen Nationalismus die kurdischen Regionen auch
voneinander entfremdet. Von der arabischen Zeitung "AI Hayat" am
24. März 2007 gefragt, ob er den Traum nach einer
gemeinsamen Nation noch immer aufrecht erhalte, erklärte
Kurdistans Präsident Masud Barzani: "Ich betrachte das als
legitimes Recht, weil die Kurden eine Nation bilden, die sich von
anderen Nationen unterscheidet. Für sie ist das nicht
weniger wichtig als für andere Nationen auch. Deshalb ist es
legitim, eine eigene unabhängige Nation zu sein. Das
betrachte ich nicht als Traum. Es wird kommen, aber ich
weiß nicht, wann es kommen wird." Nichts desto weniger
machen sowohl Barzani als auch Iraks kurdischer Präsident
Jalal Talabani eine realistische Politik und fordern nicht mehr
als diesen Bundesstaat Kurdistan in einem föderalistischen
Irak.
Es sind offensichtlich Mehrheiten in vier kleineren angrenzenden
irakischen Regionen, die den Anschluss an den Bundesstaat
Kurdistans verlangen. Dazu gehören das Hauptsiedlungsgebiet
der Yeziden, Sinjar nördlich von Mossul, die Niniveh-Ebene
mit assyro-chaldäischer, yezidischer und
Shabak-Bevölkerung, die Provinz Kirkuk mit kurdischer
Mehrheit, aber auch Teile der Turkmenen und die
Assyro-Chaldäer wünschen dort diesen Anschluss - und
auch das kleine mehrheitlich shiitisch-kurdische Territorium im
Süden um Kanaquin und Mandali. Würden diese
Vereinigungen Wirklichkeit, müssten die- se Regionen im
irakischen Kurdistan eine Subautonomie erhalten.
Unvergessen ist bei den Einwohnern Irakisch-Kurdistans der
Völkermord Saddam Husseins, dem seit 1968 mehrere
hunderttausend Kurden und mit ihnen Assyro-Chaldäer,
Turkmenen und Yeziden zum Opfer gefallen sind. 8.200 Knaben und
Männer des Barzani-Stammes wurden 1983 deportiert und
ermordet Während der "Anfal-Offensive" (1987/88)- zum Teil
mit dem Giftgas, dessen Produktion europäische und deutsche
Firmen ermöglicht hatten - wurden vor allem in der Provinz
Kirkuk etwa 180.000 Menschen vernichtet. Dem Giftgas-Angriff auf
die Stadt Halabja (1988) fielen 5.000 Kurden zum Opfer.
Dieser Genozid ist jetzt Geschichte. Für die
traumatisierten Menschen, die ihn überlebten, aber immer
noch Gegenwart. Umso schlimmer, dass die Bedrohungen nicht
gewichen sind. Die Türkei, die 99% ihrer Christen aus dem
Lande jagte, ihre 15 Millionen Kurden weiter unterdrückt und
fast 40% des benachbarten EU-Staates Zypern besetzt hält,
bedroht das irakische Kurdistan offen mit militärischer
Intervention. Syrien und der Iran, die anderen
Teilungsmächte, haben nicht aufgehört, eine feindliche
Haltung einzunehmen.
Aus pogrom-bedrohte Völker 242 (3/2007)