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Türkei in die EU?

Wer Religion oder Wirtschaftsdaten zum Kriterium macht, übergeht den Staatsterror: Die Türkei braucht einen gründlichen politischen Wandel, um EU-reif zu werden

Mateo Taibon

"Kein EU-Beitritt der Türkei". Den Standpunkt vertreten zahlreiche Politiker, vor allem Exponenten rechter Parteien. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker richtet sich derzeit gegen einen EU-Beitritt der Türkei, doch sind Ausgangspunkte und Kriterien grundlegend andere als jene der politischen Parteien, unabhängig davon, ob sie sich für oder gegen den Beitritt aussprechen. Das rechte bis rechtsextreme Lager richtet sich mit beträchtlicher Vehemenz und zum Teil unter Beziehung rassistischer Denkmuster gegen EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die Argumente der Ablehnung sind, neben jene der Wirtschaft, jene der Einwanderung, des Islam sowie, damit verbunden, der Kultur und Mentalität.

Die Türkei sei kein christlicher Staat, wird bemängelt; ein islamischer Staat habe in der EU, eine christliche Wertegemeinschaft, nichts zu suchen. Abgesehen einmal davon, dass die EU keineswegs eine christliche Wertegemeinschaft ist, begibt man sich dadurch auf das viel kritisierte Niveau der fundamentalistischen Exponenten des Islam. Die EU ist kein "Gottesstaat", in dem nur eine Religion Platz hat. Die Religion darf kein Kriterium sein für eine Mitgliedschaft in dieser Staatengemeinschaft. Außerdem schließt man durch diese Argumentation auch die jüdische Religion von Europa aus, deren Beitrag zur Kulturgeschichte immens ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Kreise, die den genannten Standpunkt vertreten, diese Einschränkung als positiv betrachten.

Wer sich aufgrund der Religionsfreiheit als fortschrittlicher wähnt als die Menschen in anderen (vor allem islamischen bzw. islamistischen) Staaten, darf die Religion nicht zum politischen Argument erheben. Das Kriterium der Religion würde zu einem völlig verzerrten Europa führen. Auch Bosnien ist moslemisch. Würde man also Bosnien einen EU-Beitritt verweigern, obwohl der islamische Teil Bosniens deutlich liberaler, sozial fortschrittlicher und vor allem demokratischer ist als der serbische Teil und der kroatische Teil Bosniens? Und würde man Kroatien aufnehmen, obwohl die faschistische Ideologie des Völkermordes sich dort noch der allgemeinen Wertschätzung erfreut? Außerdem waren es in Bosnien die Christen, die die Muslime ermordet haben und nicht umgekehrt - wobei die EU Serbien unterstützt und Bosnien jede politische Hilfe verweigert hat.

Was die Mentalität betrifft und die Lebensweise, so ist beispielsweise Süditalien von Polen weiter entfernt also von der Türkei. Die deutsche Mentalität ist nicht die maßgebende in der EU und nicht ihr politischer Bezugspunkt. Wenn man aber die christlichen Wurzeln der EU zum Argument und zum Kriterium erheben will, dann darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Wurzeln der christlichen Kultur in der heutigen Türkei (sowie Armenien und Syrien) liegen. In Gefahr sind die europäische Kultur und ihre Identität nicht durch den Islam, sondern durch jene Ideologen, die von Kultur nicht die geringste Ahnung haben und kulturelle Erscheinungen nach völkischen Prinzipien filtern.

Die Einwanderung wird das große Problem nicht sein. Die Menschen wandern vor allem aus jenen Ländern aus, in denen es politisch und wirtschaftlich schlecht geht - und daran trägt auch die EU erhebliche Mitschuld. Im übrigen konnten Türken jahrzehntelang nach Deutschland einwandern, weil sie von Wirtschaft und Politik gerufen wurden. Dass die Einwanderung kein Problem ist, hat sich auch durch die EU-Erweiterung 2004 erwiesen. Die apokalyptischen Visionen der ins Land strömenden Massen haben sich als falsch herausgestellt, die Invasion ist ausgeblieben. Die Europäer sind in den vergangenen Jahrhunderten übrigens in die halbe Welt ausgewandert und haben die dort ansässige Bevölkerung bestohlen und verjagt, häufig auch massakriert - und heute will man den Menschen aus Nicht-EU-Staaten um jeden Preis die Einwanderung untersagen.

Aus der Türkei, das ist der entscheidende Punkt, erwartet man weniger reguläre Einwanderer als vielmehr illegale Flüchtlinge; nach dem Grund für ihre Flucht wird aber nicht gefragt. Häufig sind es Kurden, die ihr gesamtes Vermögen gegen einen Platz auf einer Fähre eintauschen. Laut offiziellen Angaben hat die türkische Armee 3.428 kurdische Dörfer zerstört, die Bevölkerung wurde ermordet oder vertrieben. Die Zahl der Opfer des türkisch-kurdischen Krieges beläuft sich auf 40.000; 2,5 Millionen vertriebene Kurden leben in den Slums der türkischen Metropolen in menschenunwürdigen Verhältnissen und warten - und das ist ihr gutes Recht - auf eine Gelegenheit, ihrer Hölle zu entkommen. Die europäische Politik, an wirtschaftlichen Kontakten und an der guten Laune des NATO-Mitgliedes Türkei interessiert, hat sich gegenüber den Verbrechen der türkischen Regime bestenfalls zurückhaltend geäußert - und weiter Waffen geliefert. Nicht, dass die verfolgten Menschen nach Europa wollen, ist die Schande und das Problem, sondern dass die EU-Staaten aus Profitgründen zu Mord, Folter, Vergewaltigung, Verminung von landwirtschaftlichen Flächen, Vergiftung von Trinkwasser und politischer Justiz in der Türkei schweigt.

Häufig zum Kriterium erhoben werden auch die Wirtschaftsdaten der beitrittwilligen Türkei. Sind Inflation, Wirtschaftswachstum und Bruttosozialprodukt wichtiger als die 2,5 Millionen vertriebenen Kurden, wichtiger als die 3.500 politischen Gefangenen? Weil sie öffentlich Kurdisch gesprochen hatte, war Leyla Zana jahrelang im Gefängnis. Als sie endlich in diesem Frühjahr freigelassen wurde, kam gleich die nächste Anklage. Zana war das berühmteste, aber nicht das einzige Opfer türkischer Militärjustiz: Die Zahl der kurdischen politischen Gefangenen beläuft sich auf ca. 3.500; sie werden meist zu einer äußerst rigiden Form der Einzelhaft verurteilt, die Besuche von Verwandten stark einschränken. Das Justizministerium musste zugeben, dass die Türkei in den bisher 392 Verfahren, die aufgrund von Folter vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof angestrengt wurden, Entschädigungen in Höhe von 4,3 Millionen Euro zahlen musste: Folter gehört zu den gängigen Methoden.

Auch die christlichen Minderheiten sind unterdrückt. Erstmals ist es in der Türkei nun begrenzt möglich, Kirchen zu restaurieren. Doch der Völkermord an den Armeniern wird immer noch als Heldentat hingestellt, da die Armenier eine Gefahr für die Türkei gewesen seien und immer noch seien. In der offiziellen Geschichtsschreibung und Staatsideologie wird auch weiterhin die Verherrlichung und Mythisierung der großen Völkermorde betrieben (an den Armeniern, an den Pontos-Griechen, an den Assyrern).

Die Türkei ist kein Rechtsstaat, sondern ein Regime - das sollte Sorgen bereiten, dagegen sollte man die Stimme erheben, nicht dagegen, dass der Großteil der Bürger dieses Landes einer anderen Religionsgemeinschaft angehören und eine andere Lebensweise und Mentalität haben oder die Inflation zu hoch sei. Genau diese schwerwiegenden Mängel lassen wiederum die Befürworter eines EU-Beitritts außer acht. Die Türkei rasch in die EU: Bush und Schröder treiben diese Option gewissenlos voran und wollen Skepsis und Kritik gar nicht zur Kenntnis nehmen. Doch ein halbtotalitärer Staat darf keinen Platz in der EU haben. Gerade die moslemisch ausgerichtete Regierung Erdogan hat mit der Anpassung der Gesetze begonnen - der Weg ist aber noch sehr weit. Der Islam ist kein Problem - wenigstens dann nicht, wenn man nach Menschenrechten urteilt und nicht nach Ideologien. Die Türkei braucht Menschenrechte. Es sind die Menschenrechte, die einen Staat zum "zivilisierten" Staat machen, nicht die Religion.

Mateo Taibon, aus Kulturelemente.


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/3dossier/kurdi/yezid-de.html | www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurtur-de.html | www.gfbv.it/3dossier/kurdi/orianikur.html | www.gfbv.it/2c-stampa/04-1/040223de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-2/020823de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-2/020611de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/01-3/011116de.html | www.gfbv.it/3dossier/armeni/010720armeni.html

* www: www.yezidi.net | www.kurden.de | www.komkar.org | www.ihd.org.tr/eindex.html

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