In: Home > DOSSIER > Roma in Italien. Der Wind der Intoleranz
Sprache: DEU | ITA
Von Elisabetta Vivaldi
Bozen, Juli 2009
"Dass Italien nicht die Schande der Rassengesetzgebung vergisst": Roma-Kinder bei einer Demo in Italien im Jahr 2008.
Die Ankunft der ersten Roma in Italien liegt bereits
Jahrhunderte zurück. Historikern zufolge kamen die ersten
Roma im Laufe des 15. Jahrhunderts nach Europa, wie auch die
damaligen Chroniken bezeugen. Offizielle Dokumente sprechen von
Gruppen, die mit Frauen und Kindern, Pferden und Wagen durch das
Land zogen, geführt von einem Anführer, vojvoda,
Herzog, Meister oder einem Herren. Einige dieser Gruppen wurden
als "Büßer" oder "Pilger" bezeichnet, sie lebten von
öffentlichen Almosen und privaten Konzessionen.
Eines der ersten Dokumente, das von der Anwesenheit von Roma auf
der italienischen Halbinsel zeugt, ist die Cronica di Bologna aus
dem Jahr 1422 (Liégeois J-P, 1995, S. 15-16). Das Papier
gibt Auskunft über Herzog Andrea, der zusammen mit seinen
Leuten aus Ungarn nach Bologna kam. Von einem ungarischen
Herrscher wurde diese Roma-Gruppe gezwungen, sich zum Christentum
zu bekennen. Wer sich weigerte, wurde getötet. Die neu
Getauften erhielten einen Schutzbrief, um nach Rom zum Vatikan zu
pilgern, bevor sie wieder zurückkommen durften. Dem
Manuskript nach, erlaubte ihnen der Schutzbrief, "überall zu
stehlen, ohne hingerichtet zu werden". In Bologna angekommen,
errichteten die Roma ihr Lager beim Tor von Galiera, während
ihr Anführer vom König beherbergt wurde. Man glaubte,
dass die Frau des Herzogs magische Kräfte habe, dass sie die
Zukunft voraussagen könne und so das Wahre vom Falschen
unterscheiden könne. Aus der Cronicon fratris Hieronymi de
Forlivi geht hervor, dass die Roma schon damals erzählten,
sie kämen ursprünglich aus Indien und, so schreibt der
Autor, sie seien "nicht sehr sittsam, eher wilden Tieren
ähnlich".
Längs ihrer Wanderschafen haben die Roma mit ihrer
Jahrtausende alten Kultur immer wieder die Fantasie jener
angeregt, die sie auf ihrem Weg trafen. Trotzdem sind sie auch
durch alle Epochen hindurch mit allerlei Schimpfwörtern und
Ausdrücken beschrieben worden, die im besten Fall von wenig
Respekt für die Eigenheiten der Roma und völlig
unberechtigten Vorurteilen zeugten.
Roma-Laden an einer Straßenecke in Rom.
Die Roma-Gruppen kamen aus zwei verschiedenen Richtungen nach
Italien, von Norden und von Süden. Deshalb hat das
südliche Romanés, im Gegensatz zum nördlichen,
keinerlei germanische Einflüsse. "Roma", "Sinti",
"Reisende", "Wanderer", "Pilger", "Zigeuner", Zirkusleute,
Wanderkünstler, Herren oder Bettler, Diebe oder Artisten:
Wer sind diese Menschen, von denen die Chroniken der
Vergangenheit sprechen? Obwohl sie selbst ganz einfach bei ihrem
Namen roma (Mensch) genannt werden möchten, verwenden viele
absichtlich oder aus Unwissenheit eine falsche
Terminologie.
Die Schriftsteller der Romantik nannten sie "Kinder des Windes".
Aber welcher Wind trieb sie und treibt sie noch heute durch die
Welt, ohne je Frieden zu fnden? Ein Wind, der die Roma in der
Vergangenheit trieb und der heute zuweilen stärker denn je
bläst, ist sicherlich der Wind der Intoleranz. Mehr als ein
halbes Jahrtausend nachdem die oben genannten Quellen geschrieben
wurden, ist das Wissen über Sinti und Roma bei einem
Großteil der italienischen Bevölkerung noch immer
äußerst beschränkt. Sie werden heute ähnlich
wie in den antiken Dokumenten beschrieben, abfällig
"Zigeuner" genannt und es werden genauso falsche Bilder wie
damals von ihnen kreiert.
Klischees und Vorurteile sind in Italien immer noch verbreitet
und Diskriminierungen von Menschen, einschließlich Kindern,
die als "Roma" kategorisiert werden, sind leider alltäglich.
In öfentlichen Institutionen und bei einem großen Teil
der Bevölkerung ofenbart sich eine wachsende "Roma-Phobie",
die sich ganz unabhängig von politischen Bekenntnissen und
Bildungsgrad zu verbreiten scheint. Nicht-Roma kennen die Kultur
der Roma zu wenig. Im Gegenteil, sie sind meist nicht von der
Überzeugung abzubringen, dass Roma "Nomaden, unehrlich und
nicht fähig, sich in eine moderne Gesellschaf
einzugliedern"seien (Clough Marinaro in Sigona N.-Monasta L.,
2006, Imperfect Citizenship, S. 5).
Tanzende Roma-Frauen bei einer Demonstration vor dem Kolosseum in Rom.
In Italien kann man die Roma-Bevölkerung in zwei Gruppen
einteilen: Jene, die zu einer alteingesessenen Minderheit
gehören und über die italienische
Staatsbürgerschaft verfügen und jene, die vor relativ
kurzer Zeit aus verschiedenen Gründen eingewandert sind.
Einige sind nach dem Zweiten Weltkrieg nach Italien gekommen als
Opfer des Samudaripen (Genozid, Massenmord) 1),
andere kamen in den 1950er und 1960er Jahren aus wirtschaftlichen
Gründen als Wanderarbeiter oder um sich mit der eigenen
Großfamilie wiederzuvereinigen. In den 1990er Jahren flohen
viele Familien vor dem Krieg in Ex-Jugoslawien, wo sie Opfer
aller Kriegsparteien wurden. In der Hoffnung als politische
Flüchtlinge anerkannt und aufgenommen zu werden,
ließen sie ihr ganzes Hab und Gut hinter sich, auch ihre
Häuser. Erhalten haben sie meist nur einen "befristeten
Schutz". Äußerst selten wurde ihnen wirtschaftlich
oder bei der Integration geholfen. Sie sahen sich zudem
gezwungen, in sogenannten "Nomadenlagern" zu leben, also in
Strukturen ohne grundlegende Dienstleistungen. So hatten die
Neuankömmlinge und ihre in Italien geborenen Kinder und
Enkel von Beginn an keine Chance auf Gleichberechtigung. Ihre
jugoslawischen Pässe wurden in Folge der Gründung der
neuen unabhängigen Republiken für ungültig
erklärt, in den wenigsten Fällen bekamen sie neue. Die
Staatenlosigkeit stürzte ganze Familien ins Nichts: Sie
haben keine Dokumente, um eine Wohnung zu mieten, eine Arbeit zu
finden, ein Einkommen vorweisen zu können, die Kinder
selbständig und ohne Intervention von
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in die Schule zu schicken -
um ein normales Leben zu führen.
Zuletzt kamen viele rumänische Roma nach Italien: Sie sind
zwar Bürger eines EU-Lands, werden aber trotzdem von
öffentlichen Ämtern und in der Öffentlichkeit
diskriminiert und von der Presse angegriffen. Unabhängig von
ihrer geographischen Herkunft, ob sie einer alteingesessenen
Minderheit angehören, ob sie sesshaft oder teilweise
wandernd sind, eines haben alle Roma-Gruppen gemeinsam: Sie sind
Opfer von Intoleranz, denen mit alten und neuen Klischees
begegnet wird, um sie zu diskreditieren. Viel zu of werden
Nationalität mit fehlender Fähigkeit zum
gesellschaftlichen Zusammenleben, Armut und fehlende
Gleichberechtigung mit Kriminalität gleichgesetzt.
Die Mobilität der Roma innerhalb Italiens ist meist Folge
verschiedener Konflikte und Schwierigkeiten, beispielsweise
wirtschaftlicher. Wichtigster Migrationsgrund sind die
Hindernisse des Alltags - gefolgt von der Angst, Opfer von Gewalt
zu werden. Leider haben die jüngsten Ereignisse in Italien
bewiesen, dass diese Angst nicht unberechtigt ist. So kann die
Migration eine zum Überleben notwendige Entscheidung
werden.
Wachsende Roma-Phobie in Italien: Roma-Demonstration gegen den "Wind der Intoleranz".
Seit den 1980er Jahren wurden in Italien viele regionale
Gesetze erlassen, die die "nomadischen Kulturen" schützen
sollten. Allerdings wurde außer Acht gelassen, dass der
Großteil der Roma seit Generationen nicht mehr nomadisiert,
sondern sesshaft ist. Basierend auf dem romantischen Bild der
Roma als "Kinder des Windes" trafen Nicht-Roma eine Reihe
wirkungsloser Entscheidungen. Ihre Vorstellung der Roma ist meist
folkloristisch, nicht der Wirklichkeit entsprechend und auch
nicht frei von alten, unterschwelligen Vorurteilen. Die Roma
durften kaum bei Entscheidungen, die sie betrafen, mitwirken.
Während also das Nomadentum sesshafter Gemeinschafen
institutionalisiert wurde, suchten und suchen die meisten Roma in
Italien eine Wohnung, Arbeit, Gleichberechtigung und Respekt
für ihr Kulturgut.
In den letzten Jahren hat sich die Lage der Sinti und Roma in
Italien spürbar verschlechtert. Vor allem während der
Wahlkampagnen und in wichtigen Momenten des politischen und
sozialen Lebens des Landes, hören wir immer mehr
rassistische Hasstiraden. Es scheint, als würden Politiker,
Journalisten und andere einflussreiche Persönlichkeiten die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die
Grundrechtecharta der Europäischen Union sowie die eigene
italienische Verfassung vollkommen ignorieren. Um das Volk
für sich einzunehmen, versuchen sie alte, tief gelegene
Ängste in der Gesellschaf heraufzubeschwören,
Geschichten, mit denen früher Kinder erschreckt wurden, neu
zu verkaufen, ohne sich dabei um den negativen und
äußerst gefährlichen Einfluss ihrer Aussagen auf
die Menschen zu kümmern.
Gruselgeschichten wie "Pass auf, sonst nehmen dich die Zigeuner
mit" oder "Zigeuner sind schlau und böse, auch die Kinder,
und sie malen komische Zeichen an die Wände derjenigen
Häuser, die ausgeraubt werden sollen" werden
weitererzählt und liefern alten Vorurteilen wie das der
Kinder stehlenden Zigeunerin, des Zigeuners als gemeinen Dieb,
der skrupellos tötet oder der Zigeuner-Eltern, die die
eigenen Kinder aus Profitgier ausnützen, neue Nahrung.
Damit einhergehend verbreiten die konservative, nostalgische
Rechte in Italien und die xenophobe und separatistische Liga Nord
2) auch die alte Überzeugung, "Zigeuner
seien ein asoziales Volk, eine Gefahr für die
öffentliche Ordnung".
Die in Italien lebenden Roma durchleben gerade eine der
schlimmsten Phasen ihrer Geschichte: Im Mai 2008 riefen die
Regionen Campania, Lazio und Lombardei den "Notstand der Nomaden"
ausgerufen, der eigentlich bis März 2009 dauern sollte, aber
mit dem "Notstand der Sicherheit" verlängert und auf andere
Regionen erweitert wurde. Damit erhielten die zuständigen
Präfekten und öffentliche Amtsträger besondere
Machtbefugnisse. Laut Gesetz 225/92 sollen sie so im Fall von
Naturkatastrophen die Zivilbevölkerung besser
schützen.
Ethnische Gruppen wie die Roma werden in dem Gesetz jedoch nicht
erwähnt. Lediglich drei Verfügungen des Ministerrats
legen gesetzlich fest, dass die Präfekten
"außerordentliche Kommissare" sind. Demnach unterstehen sie
nur dem Innenminister und haben die Aufgabe, in ihrer jeweiligen
Region einzuschreiten, um den Notstand der "Nomadenlager" durch
Beobachtung, Identitätsaufnahme und Abschiebung "illegaler
Einwohner" zu lösen. Wie viele Agenturen und Organisationen
bestätigen, wurde daraufhin die Identität von Roma in
den Lagern, einschließlich der Minderjährigen
festgestellt. Es wurden Fingerabdrücke genommen, Fotos
gemacht und private Daten gesammelt 3).
Im Mai 2008 wurden Roma im Raum Ponticelli (Neapel) von einem
mit Stöcken und Steinen bewaffneten Mob angegriffen. Das
Lager, in dem rumänische Roma lebten, wurde umzingelt und in
Brand gesteckt. Glücklicherweise gab es keine Verletzten,
doch die Bewohner des Lagers mussten fliehen und ihr Hab und Gut
zurücklassen. Das Lager von Ponticelli wurde daraufhin noch
drei weitere Male in Brand gesetzt, um zu verhindern, dass seine
Bewohner zurückkehren. Die Verantwortlichen des Angriffs
wurden nicht ausfindig gemacht. Das Motiv für den
Übergriff dürfe wohl in der Intoleranz der lokalen
Bevölkerung liegen. Vielleicht gab es auch weitere Motive,
interessante Vermutungen gab es zur Genüge. Sie wurden
jedoch nie von Ermittlungen bestätigt oder widerlegt. Bei
der Befragung der Bewohner Ponticellis ganz in der Nähe des
Lagers war beispielsweise vielfach in neapolitanischem Dialekt zu
hören, dass man mit der "Strafexpedition gegen die Roma das
Recht der Bürger auf Eigenjustiz gegen die Kinder
entführenden Zigeuner festsetzen" wollte.
Vor diesem Übergriff hatte es bereits Brandstiftungen in den
Roma-Lagern von Catania, Mailand, Rom und in anderen
italienischen Städten gegeben. Beim "Feuer von Livorno"
starben 2007 vier Roma-Kinder im Feuer. Die Eltern wurden wegen
"Verwahrlosung von Minderjährigen" verhaftet. Die NGO
"EveryOne" verbreitete diese Nachricht und sammelte
Unterschriften, um eine Haftentlassung der Eltern sowie
ordentliche Ermittlungen zu bewirken: Denn es gab mehrere
Hinweise, dass das Feuer nicht durch ein Unglück, sondern
einen Molotow-Cocktail ausgelöst worden war, der von
Fanatikern in das Lager geworfen worden war. Der Fall der
16jährigen rumänischen Roma Angelica, die im Mai 2009
beschuldigt wurde, eine Kindesentführung versucht zu haben,
ist der traurige Höhepunkt einer Kette von Ereignissen
4).
Selbst Mutter wurde Angelica zur unfreiwilligen Hauptfigur eines
vielsagenden Falls. Nur wenige Monate nach der
Veröffentlichung einer Studie 5), die
belegt, dass Roma in Italien niemals ein Kind entführt
haben, italienische Richter jedoch in solchen Fällen sehr
unterschiedliche Kriterien anwenden, wurde die junge Roma mit
einer beispiellosen Strafe belegt. Am 11. Januar 2009 wurde sie
zu drei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt - für ein
Delikt, dessen Mindeststrafe acht Monate Haft vorsieht.
Die vielen Appelle von Menschenrechtlern, das Engagement der
ungarischen Roma-Europarlamentarierin Viktória
Mohácsi und des Präsidenten der Romani-Union und
spanischen ex-Europarlamentariers Juan de Dios Ramirez Heredia,
der angeboten hatte, "in die Amtstracht zu steigen, um Angelica
zu verteidigen", haben nichts genutzt. Sie lehnte alle
Begünstigungen, die sie durch ein Schuldbekenntnis in
Anspruch hätte nehmen können ab und bestand auf ihrer
Unschuld. Angelicas Fall wirf vielerlei Fragen auf. Zurzeit kann
man eigentlich nur hoffen, dass all diese Fälle, in denen
Sinti und Roma auf Grund ihrer ethnischen Angehörigkeit
angegriffen wurden, nicht vergessen und vernachlässigt
werden.
Übersetzung: Sabrina Bussani.
Anmerkungen:
1) Zum Begriff "Samudaripen" siehe Hancock, I.: Te Patrin Web
Journal. Zum Terminus "Porrajmos": http://www.geocities.com/~patrin/holcaust.htm
2) Rassistische Ansprache von Giancarlo Gentilini gegen Roma
(einschließlich Kinder) und anderen Minderheiten
während des "Festes der Völker" in Venedig am 14.
September 2008: www.youtube.com/watch?v=_WCZNQJkV3E
3) Ein Netz verschiedener Organisationen erarbeitete den
detaillierten Bericht "Security á la Italiana.
Fingerprinting, Extreme Violence and Harrassment of Roma in
Italy":
www.soros.org/initiatives/brussels/articles_publications/publications/fingerprinting_20080715
4)
www.everyonegroup.com/EveryOne/MainPage/Entries/2008/5/18_Anti-gypsy_sentiments_out_of_control_in_Italy._The_truth_about_the_kidnapping_in_Naples.html
5) Informationen über die Studie: S. Bontempelli, "I Rom
rubano i bambini? Uno studio dimostra che non è vero"
(November 12, 2008):
http://sergiobontempelli.wordpress.com/2008/11/12/zingararapitrice/.
Aus pogrom-bedrohte Völker 254 (3/2009)
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/sinti-rom/rom-ita-de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2008/080711de.html
| www.gfbv.it/3dossier/sinti-rom/thrakien.html
| www.gfbv.it/3dossier/sinti-rom/de/rom-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/errc-dt.html
| www.gfbv.it/3dossier/rom-dt.html |
www.gfbv.it/3dossier/sinti-rom/20041026-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/linkgfbv.html#rom
in www:
www.guardian.co.uk/lifeandstyle/2008/aug/17/familyandrelationships.roma
| www.ric.org.yu | www.greekhelsinki.gr | www.errc.org | www.kv-roma.at | www.osce.org/odihr/18148.html
|
www.coe.int/t/e/human_rights/esc/4_Collective_complaints/List_of_collective_complaints/