Kurz vor Beginn der
Afghanistan-Folgekonferenz in Bonn am kommenden Montag hat
die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) eine
enttäuschende Bilanz über die Umsetzung des vor
einem Jahr unterzeichneten Petersberger Abkommens gezogen.
Chancen für eine umfassende Demokratisierung und
für einen gerechten Ausgleich zwischen den ethnischen
Gruppen in dem Vielvölkerstaat seien nicht genutzt
worden, heißt es in einem achtseitigen Memorandum der
GfbV zur Menschenrechtssituation in Afghanistan, das am
Freitag veröffentlicht wurde. Die zunehmend auch in
den Drogenhandel verstrickten so genannten Warlords
hätten so an Einfluss gewonnen, dass die Sicherheit
außerhalb Kabuls nicht mehr gewährleistet sei
und maßgebliche Fortschritte beim Wiederaufbau mehr
als zweifelhaft seien. Die Warlords terrorisierten mit
ihrer Willkürherrschaft die Bevölkerung und
genössen weitgehend Straflosigkeit. Vertreibungen und
Übergriffe gegen Paschtunen, die pauschal der
Unterstützung der Taliban beschuldigt würden,
beeinträchtigten das Zusammenleben der Völker
Afghanistans.
Der
Anti-Terrorkoalition warf die GfbV eine "äußerst
bedenkliche Doppelmoral" vor: "Die Koalition verurteilt die
Menschen verachtende Politik des gestürzten
Taliban-Regimes, während sie schwere
Menschenrechtsverletzungen ihrer heutigen Verbündeten
der siegreichen Nordallianz ignoriert", kritisierte der
GfbV-Asienexperte Ulrich Delius.
Die Warlords seien bis Ende Oktober 2002 auch von der
US-Armee mit Waffen aus Beständen der Taliban und der
Terrorgruppe El-Kaida ausgerüstet worden. Immer wieder
aufflammende Kämpfe zwischen Warlords, die offiziell
vorgeben, die afghanische Regierung zu unterstützen,
gefährdeten die Rückkehr der Flüchtlinge.
Eine geographische Ausweitung des Mandats der
Internationalen Schutztruppe (ISAF) über Kabul hinaus
sei daher dringend erforderlich.
Die Zusammenarbeit mit den Warlords sei nicht nur aus menschenrechtlicher Perspektive äußerst fragwürdig, heißt es in dem Memorandum. Schon einmal hätten diese Kriegsfürsten das Land nach dem Abzug der sowjetischen Armee 1989 in den Ruin gestürzt. Die Warlords sind nicht am Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates interessiert. "Sie wollen nur ihre Partikularinteressen sichern und ihre persönliche Macht ausbauen", sagte Delius. Ihre katastrophale Schreckensherrschaft habe zur Machtergreifung der Taliban geführt. Dies sei anfangs von vielen Afghanen mit Sympathie aufgenommen worden, weil die Taliban dafür gesorgt hätten, dass wieder ein Minimum an staatlicher Ordnung und Autorität entstanden sei.
Ausdrücklich warnte die GfbV davor, den Erfolg des Wiederaufbaues nur anhand der Höhe der von internationalen Geldgebern in Aussicht gestellten oder bereits geleisteten Zuwendungen zu messen. Die Gelder würden die Betroffenen aufgrund von Misswirtschaft, Korruption und hoher Personal- und Sachaufwendungen internationaler Nichtregierungsorganisationen oft nicht erreichen.
Siehe Interview mit M. Pohly, erscheint in der Zeitschrift "pogrom/bedrohte Völker" der Gesellschaft für bedrohte Völker-international (Nr. 215 - 5/2002).