Offener Brief an Außenminister Joschka Fischer
Bozen, Göttingen, Berlin, 9. September 2003
Sehr geehrter Herr Minister,
übermorgen gedenken wir zum zweiten Mal der über 3.000
Toten des furchtbaren Terroranschlages auf das World Trade
Center. Die internationale Allianz gegen den Terror, der auch
Deutschland angehört, hat geschworen, alles zu unternehmen,
damit derartige Verbrechen sich nicht wiederholen. Deshalb haben
Sie noch im April 2002 vor der UN-Menschenrechtskommission
deutlich erklärt, dass es keinen "Anti-Terror-Rabatt bei
Menschenrechtsverletzungen" geben werde.
Denn in der Vergangenheit hat leider auch die westliche
Gemeinschaft nicht nur in Afghanistan und im Irak mitgeholfen,
terroristische Regimes aufzubauen und am Leben zu erhalten. Die
Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat wie andere
Menschenrechtsbewegungen auf eine Umkehr gehofft und darauf
gesetzt.
Enttäuscht nehmen wir zur Kenntnis, dass Sie immer
freundschaftlicher und enger mit Regierungen zusammenarbeiten,
die Terror verbreiten:
Sie halten sich mit Kritik zurück, obwohl seit 1998 weitere
80.000 Tschetschenen Wladimir Putins Kriegsführung zum Opfer
gefallen sind. Allein in diesem Jahr sind nach offiziellen
Angaben aus Moskau 267 Tschetschenen spurlos verschwunden. An der
gegenwärtigen "Wahlgroteske" dürfen 86.000 russische
Soldaten teilnehmen, 200.000 der 540.000 eingetragenen
tschetschenischen Wähler sind frei erfunden.
Chinas kommunistisches Regime hat gerade die endgültige
Zerschlagung der Falun Gong-Meditationsgemeinschaft
angekündigt. Wissen Sie, welche Ungeheuerlichkeiten dort vor
sich gehen? 100.000 Falun Gong- Mitglieder befinden sich in
Arbeitslagern. 773 wurden zu Tode gefoltert oder umgebracht, die
Dunkelziffer beträgt 2.000.
Während die Bundesregierung die Unterstützung des
Bundeswehreinsatzes in Afghanistan durch zentralasiatische
Staaten feiert, werden in Usbekistan, Kasachstan, Kirgisien und
Tadschikistan gläubige Muslime, aber auch Menschen- und
Bürgerrechtler mit polizeistaatlichen Methoden
überwacht und verfolgt. Ausgerechnet diese Länder haben
sich gemeinsam mit Russland und China in der Shanghai Cooperation
Organisation zu einem "Anti-Terror-Bündnis"
zusammengeschlossen.
Im Sommer war der pakistanische Präsident Pervez Musharraf
willkommener Staatsgast in Berlin. Vertreter der 3,8 Millionen
Christen, 3,5 Millionen Ahmadiya und 23,4 Millionen Schiiten
werfen ihm vor, die religiösen Minderheiten nicht vor dem
Terror radikaler Muslime zu schützen. Mehr als 300
schiitische Muslime kamen seit dem 11.9.2001 durch
Bombenanschläge und Massaker zu Tode. Zuletzt starben 53
Schiiten bei einem Angriff auf eine vollbesetzte Moschee am 4.
Juli 2003. Am 5. Juli wurde ein katholischer Priester in dem Ort
Renala Khord von Unbekannten erschossen, nachdem er sich für
die Rückgabe einer katholischen Schule an die Kirche
eingesetzt hatte. Am 21. Juli zündeten radikale Muslime das
Haus eines Christen in Kasur an.