Auf Grundlage der Informationen, die der GfbV im Mai 2001 von den beiden Tschetscheninnen Zainap Gaschajewa und Lipkan Basajewa überreicht wurden.
Bozen, Göttingen, Juni 2001
In Tschetschenien wird unter Ausschluss der russischen und internationalen Öffentlichkeit ein blutiger und schmutziger Krieg geführt. Die russische Führung versucht, die Beweise für schwerste Menschenrechtsverletzungen und Genozidverbrechen verschwinden zu lassen. Zeugen von Verbrechen und überlebende Opfer, die über die erlittenen Verbrechen sprechen oder Klagen im Büro des russischen Menschenrechtsbeauftragten für Tschetschenien, Vladimir Kalamanow, oder bei den seit dem 10. Januar 2001 von Russland in Tschetschenien eingesetzten Gerichten bzw. dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einreichen, werden vielfach verfolgt, bedroht oder getötet. Seit der russische Geheimdienst im Frühjahr 2001 das Kommando in Tschetschenien übernahm und die russische Führung mehrere unabhängige Medien mundtot gemacht hat, dringen noch weniger Informationen nach außen.
Die Verbreitung von Informationen über schwerste Menschenrechtsverletzungen der russischen Armee an tschetschenischen Zivilisten ist ein Verhaftungsgrund. Unter Gefahr für Leib und Leben hat Zainap Gaschajewa dennoch Videokassetten, Fotos, Klageschriften für den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg und weiteres schriftliches Material nach Deutschland mitgebracht. Dieser Report beruht auf diesen Informationen sowie auf Interviews mit den beiden Frauen.
Humanitäre Lage
Flüchtlinge in Inguschetien
In Inguschetien leben derzeit etwa 130.000 tschetschenische
Flüchtlinge. Davon befinden sich zwischen 40.000 und 50.000
in großen Zeltlagern. Die übrigen sind zum
größten Teil bei Inguschen untergekommen. Viele leben
darüber hinaus in Eisenbahnwaggons sowie in ehemaligen Kuh-
und Schweineställen. In den Zeltlagern wird seit etwa zwei
Monaten kein warmes Essen mehr verteilt. Tuberkulose und andere
Infektionskrankheiten verbreiten sich schnell. Die medizinische
Versorgung ist vollkommen unzureichend. Nach fast zwei Jahren
Krieg verlangen die Inguschen von den tschetschenischen
Flüchtlingen jetzt Miete. Die russischen Behörden
wollen die Tschetschenen zur Rückkehr nach Tschetschenien
bewegen, z.B. indem sie die Verteilung von Hilfsgütern
behindern. Ende Mai wurden Einheiten des Moskauer OMON
(Spezialeinheiten des Innenministeriums) in Nasran stationiert.
Sie sollen in den Flüchtlingslagern nach "Terroristen" und
Unterstützern der tschetschenischen Kämpfer suchen.
Frau Basajewa befürchtet, dass es nun auch in Inguschetien
zu willkürlichen Verhaftungen kommen könnte.
Einige Flüchtlinge sind inzwischen nach Tschetschenien zurückgekehrt, so auch etwa 100 Familien Anfang Mai 2001 nach Argun. Noch am Tag der Rückkehr kam es dort zu einem Schusswechsel. Mitte Mai wurde die Stadt mehrere Tage lang von der russischen Artillerie beschossen, dann von der Außenwelt abgeriegelt, damit sogenannte Säuberungen durchgeführt werden konnten. Dieses Beispiel zeigt, dass es keine Sicherheitsgarantie für rückkehrwillige Flüchtlinge gibt.
Humanitäre Lage in Tschetschenien
Im Moment leben auf dem Territorium Tschetscheniens etwa 460.000
Menschen, darunter über 150.000 Binnenflüchtlinge. Seit
Herbst 1999 bekommen die Menschen dort nur etwa ein Mal im Jahr
Mehl, Zucker und öl. Landwirtschaft können sie nicht
betreiben, weil ihre Felder vermint sind und sie sich in
ständiger Gefahr befinden, von den russischen Truppen
willkürlich festgenommen zu werden. Vitaminmangel,
Unterernährung der Kinder, Fehlgeburten, Hautkrankheiten,
Tuberkulose und Krankheiten des Magen-Darm-Bereichs treten in
großer Häufigkeit auf. Ab 19 Uhr gilt eine
Ausgangssperre. An den Kontrollposten der russischen Armee wird
danach ohne Vorwarnung geschossen. Krankentransporte werden nicht
durchgelassen, so dass schon viele Menschen gestorben sind, weil
sie medizinisch nicht versorgt wurden. Nur wenige Schulen und
Krankenhäuser haben ihre Arbeit wieder aufgenommen. Ihnen
mangelt es am Notwendigsten, an Wasser, Strom, sicheren
Gebäuden, Möbeln, Medikamenten. Als einzige
Hilfsorganisation versorgt Ärzte ohne Grenzen periodisch die
Krankenhäuser mit Medikamenten.
Menschenrechtliche Situation
Willkürliche Festnahmen und Verschwindenlassen
Am 4. Juni 2001 gab der Menschenrechtsbeauftragte der russischen
Regierung für Tschetschenien, Vladimir Kalamanow, die Zahl
der offiziell vermissten Tschetschenen mit 930 an.
Tatsächlich sind jedoch vermutlich weitaus mehr Menschen
während des laufenden Krieges verschwunden. Sogar Kalamanow
bestätigt, dass insbesondere nach sogenannten
Säuberungen die Zahl der Vermissten sprunghaft ansteigt.
Dabei kommt es regelmäßig zu willkürlichen
Verhaftungen von Zivilisten. Auch beim Passieren der russischen
Kontrollposten laufen Zivilisten Gefahr, festgenommen zu werden.
Frau Gaschajewa schätzt, dass täglich zwischen 20 und
100 Personen von russischen Armeeangehörigen festgenommen
werden.
Seit der russische Geheimdienst FSB das Kommando in Tschetschenien übernommen hat, werden sogenannte "Adress-Säuberungen" (adressnye zacistki) durchgeführt. Dabei werden einzelne Häuser oder Wohnungen ausgewählt und durchsucht. Auch diese Kontrollen sind willkürlich. Seit Monaten werden damit einhergehende Festnahmen damit begründet, das Opfer habe auf Seiten der Tschetschenen gekämpft. Offiziell sollen im Rahmen dieser Säuberungen die Papiere der Betroffenen überprüft werden. Seit Beginn des Krieges gibt es in Tschetschenien jedoch keine Behörde mehr, die gültige Dokumente ausstellen könnte. Darunter leiden besonders junge Männer im wehrfähigen Alter, die sich nicht ausweisen können.
Am 24. Mai 2001 wurde auch der bekannte Menschenrechtler Dik Michailowitsch Altemirow, geb. 1934, in Grosny festgenommen. Während des vorherigen Tschetschenien-Krieges (1994 - 1996) war er Vorsitzender der "Vereinigung öffentlicher politischer Parteien und Organisationen der Tschetschenischen Republik", einer nichtstaatlichen Organisation, die sich mit friedlichen Mitteln für die Beibehaltung des unabhängigen Status von Tschetschenien und für das Ende des bewaffneten Konflikts mit Russland eingesetzt hatte. Dik Altemirow hat auch die Aktivitäten islamisch-fundamentalistischer Gruppen in Tschetschenien kritisiert. Außerdem war er bis 1996 einer der wichtigsten Verhandlungs- und Arbeitspartner von Tom Guldiman, dem Leiter der damaligen OSZE-Mission in Grosny, und hatte mit den renommierten Organisationen Memorial und Human Rights Watch enge Kontakt. Seit dem Beginn des zweiten Krieges tritt er unermüdlich für die Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien ein und mahnt eine friedliche Lösung an. Bis heute ist nicht bekannt, wo sich Herr Altemirow befindet. Die GfbV hat an Bundesaußenminister Joschka Fischer appelliert, seinen Einfluss zu nutzen, um den Aufenthaltsort von Herrn Altemirow in Erfahrung zu bringen und seine Freilassung zu bewirken.
Willkürliche Erschießungen und
Ermordungen
Erschießungen sind häufig vollkommen willkürlich.
So wurden in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2001 drei
Wachmänner der Vorratsräume des Zentralmarktes in
Grosny von russischen Soldaten erschossen, die anschließend
die Alkoholvorräte ausplünderten. Augenzeugen
berichteten, dass allen drei Leichen die Genitalien abgeschnitten
worden waren.
Die Familie Ajdomirow verlor in kurzer Zeit zwei Söhne. Soslan, 22, wurde von russischen Soldaten am 2. Mai 2001 auf dem Marktplatz in Grosny getötet. Am 8. Mai 2001 entführten russische Soldaten auch Aslan, geb. 26, aus dem Krankenhaus in Urus-Martan. Am 7. Mai 2001 wurde der 26-jährige Ramsan Achmadow nachts im Dorf Machkety erschossen. Zuvor war er brutal geschlagen worden. Die Soldaten hatten den Aufenthaltsort tschetschenischer Kämpfer in Erfahrung bringen wollen. Am 13. Mai 2001 wurden Jaragi Chaguew, 54, Marcha Chaguewa, 49, und Majrbek Chaguew, 15, um 22.30 Uhr im Dorf Machkety erschossen. Die Schwiegertochter Toisu, 23, und ihr Kind wurden von den Soldaten verschleppt.
Seit Ende März 2001 mehren sich die Anhaltspunkte, dass männliche Leichen für den Organhandel missbraucht werden könnten. Es tauchten Fotos mehrerer Leichen auf, die einen anatomischen Schnitt vom Hals bis zum Unterleib aufweisen. Die Mutter eines der Opfer hat beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg eine entsprechende Klage eingereicht. Ihr Sohn, Aslan Chamsajew (Name von der Redaktion geändert) geb. 1982, wurde am 12. März 2001 um fünf Uhr früh bei einer sogenannten Säuberung festgenommen. Am 23. März wurde sein Leichnam gefunden und einen Tag später in Argun beerdigt. Der Vater eines weiteren Toten, ein Chirurg, bestätigte Frau Basajewa zu Folge, es seien Organe aus dem Körper seines Sohnes entnommen worden. Aus Angst vor der Verfolgung durch die russischen Behörden will er ungenannt bleiben. Im Namen der Angehörigen und im Namen von Zainap Gaschajewa und Lipkan Basajewa fordert die GfbV Aufklärung darüber, ob die russischen Soldaten tatsächlich mit den Organen ihrer Opfer Handel treiben.
Kinder als Opfer russischer Gewalt
Berichte über Gewalt gegen tschetschenische Kinder nehmen
zu. Am 4. Mai 2001 z.B. wurde die 11jährige Zalina vom Dach
der Kommandantur in Gudermes aus beschossen. Dort hatten sich
mehrere Frauen versammelt, die einen Abtransport ihrer in der
Kommandantur festgehaltenen Männer mit einem
Militärhubschrauber verhindern wollten. "Als ich rannte,
wurde ich angeschossen", berichtete Zalina. "Ich fiel hin, konnte
mich aber wieder aufrappeln und rannte weiter. Ein zweiter Schuss
traf mich. Ich war ganz alleine, sie haben gesehen, dass ich ein
kleines Mädchen bin." Ihre Großmutter ergänzt:
"Die Soldaten waren nicht weiter als 15 bis 20 Meter von dem Kind
entfernt. Der erste Schuss traf sie in die Schulter und sie fiel
hin. Als es ein bisschen ruhiger wurde, ist sie wieder
aufgestanden und weiter gerannt, da traf sie ein Schuss in das
Bein. Sie waren ganz nah bei ihr und haben sehr gut gesehen, dass
sie auf ein Kind schossen."
Am 6. Mai 2001 spielten Chamsat Soltachanov, 10, Ramsan Bekmurzajew, 9, und Dschabrailom Mansur, 2, auf einem Hof in der Nähe ihres Hauses in Grosny, als aus einem vorbeifahrenden russischen Militärfahrzeug auf sie geschossen wurde. Alle drei wurden von mehreren Schüssen getroffen und schwer verletzt. Am 9. Mai 2001 wurde Magomed Achmed, 6, in der Nähe des Dorfes Kerla-Jurt von Soldaten aus einem Militärfahrzeug beschossen und von mehreren Kugeln getroffen, als er gerade auf dem Weg zu den Nachbarn war .
Folter und Vergewaltigung
Nach Aussagen von Frau Gaschajewa gibt es auf tschetschenischem
Territorium derzeit 23 Filtrationslager. Hier wird systematisch
gefoltert. Insbesondere junge Männer, die von
Angehörigen der russischen Armee verschleppt wurden, werden
gefangen gehalten, systematisch erniedrigt und missbraucht. Das
Opfer wird dabei brutal auf die Genitalien geschlagen. Wenn die
Männer das Filtrationslager überleben, müssen sie
häufig Monate lang in Krankenhäusern wegen der
Verletzung innerer Organe und anderer Folgen der Folter behandelt
werden. In den Filtrationslagern wird auch mit Elektroschocks,
Kälte, Hitze und Wasser gefoltert.
Nach Aussagen von Frau Gaschajewa verfügt jeder russische Kontrollposten in Tschetschenien über ein eigenes System von Erdgruben, in denen Gefangene festgehalten und gefoltert werden. Frau Basajewa berichtet von einer Mutter, die auf der Suche nach ihrem Sohn einen Soldaten fand, der sie gegen Bestechung nach Tangi-Tschu führte. Dort zeigte er ihr ein System von 17 Erdgruben, in denen jeweils zwischen vier und 10 Personen gefangen gehalten wurden. Die meisten dieser Erdgruben waren mit Holzbalken abgedeckt. Der Soldat öffnete die Gruben und forderte die Frau auf nachzuschauen, ob sie ihren Sohn finden könne. Sie berichtete Frau Basajewa von entsetzlicher Folter und systematischer Misshandlung der Gefangenen, unter denen sich auch einzelne Frauen befunden hätten. Diese Gefangenen können von ihren Angehörigen freigekauft werden. So entsteht ein blühender Handel mit Lebenden und mit Toten.
Gemeinsame Forderungen und Empfehlungen der GfbV sowie von
Zainap Gaschajewa und Lipkan Basajewa
Forderungen an die Bundesregierung
Forderungen an den Europarat
Forderungen an die OSZE