Bozen, Göttingen, 25. Oktober 2005
Die Ureinwohner der indischen Andamanen- und Nikobaren-Inseln
haben zwar die Tsunami-Katastrophe überlebt, doch nun droht
ihnen durch verfehlte humanitäre Hilfe die Zerstörung
ihrer Kultur. Diesen schweren Vorwurf gegen die indischen
Behörden hat die Gesellschaft für bedrohte Völker
(GfbV) zehn Monate nach der Flutkatastrophe am Dienstag erhoben.
"Aus ehemals selbstbewussten Ureinwohner werden
Almosenempfänger und Slumbewohner gemacht", kritisierte der
GfbV- Asienreferent Ulrich Delius. "Die Ignoranz der indischen
Behörden grenzt an Rassismus." Denn vergeblich würden
die indigenen Völker seit Monaten um Werkzeuge bitten, um
ihre bei der Flut zerstörten traditionell mit Palmwedeln und
Bambus bedeckten Holzhäuser wiederaufzubauen. Stattdessen
seien sie in Wellblechhütten gepfercht worden, die sich
für das Klima nicht eigneten, schlecht gebaut seien und von
den Ureinwohnern abgelehnt würden.
Medien in aller Welt hatten nach der Tsunami-Katastrophe
über die spektakuläre Rettung der meisten der mehr als
30.000 Ureinwohner der Andamanen und Nikobaren berichtet. Der
größte Teil der Urbevölkerung hatte aufgrund
seiner Jahrhunderte alten Kenntnis der Natur die drohende
Flutwelle vorhergesagt und rechtzeitig im Landesinnern Zuflucht
gesucht. Die 572 von Indien verwalteten Inseln waren zum Teil nur
150 Kilometer vom Epizentrum des Seebebens am 26. Dezember 2004
entfernt. Rund 7.500 der 350.000 Bewohner der Inselgruppe starben
bei der Naturkatastrophe. Aufgrund der massiven Einwanderung vom
indischen Festland stellen die Ureinwohner heute nur noch ein
Zehntel der Gesamtbevölkerung des Archipels.
"Himmel und Erde" werde er in Bewegung setzen, um den Andamanen
beim Wiederaufbau zu helfen, hatte Indiens Premierminister
Manmohan Singh am 8. Januar 2005 beteuert. Doch die
humanitäre Hilfe hat mehr Schaden angerichtet als geholfen.
"Es ist ein Skandal", erklärten Vertreter des indischen
Menschenrechts-Netzwerkes gegenüber der GfbV. Die
behelfsmäßigen Wellblechhütten bestünden aus
unzureichenden Materialien, hätten gravierende
Konstruktionsmängel und seien an der falschen Stelle
errichtet worden. In den Hütten sei es glühend
heiß, wenn die Sonne scheine. Während des nun
andauernden Monsuns dringe der Regen in die Räume und die
Menschen müssten im Schlamm leben. Viele der 10.100 neuen
Hütten hätten schon jetzt Rost angesetzt.
"Statt den Ureinwohnern die wenigen erbetenen Hilfsgüter
zur Verfügung zu stellen und sie ansonsten über ihre
Zukunft selbst entscheiden zu lassen, betreiben die indischen
Behörden rücksichtslos ihre Assimilierung", kritisierte
Delius. Viele Ureinwohner seien willkürlich umgesiedelt
worden. Auf Strukturen ihrer traditionellen Gesellschaft, auf
Sitten und Gebräuche würden die Behörden kaum
Rücksicht nehmen. Was der Tsunami nicht geschafft hat,
besiegeln nun die indischen Behörden: Eine Jahrhunderte alte
Kultur droht unterzugehen."