Von Simone Orlik
Bozen, 18. Dezember 2003
1994: In Ruanda beginnt ein Völkermord, dem UN-Schätzungen zufolge ca. eine Million Menschen zum Opfer fallen und der Tausende von Kindern tötet oder zu Waisen macht. Fast zehn Jahre danach ist weder das Motiv der Täter noch das Versagen der internationalen Politik zu erklären. Das traumatisierte Ruanda lebt indes mit seiner Vergangenheit so gut es geht - und manche haben den Traum von Einheit und Versöhnung noch nicht aufgegeben.
Irene ist schlank, groß
gewachsen. Die 17-jährige aus Ruanda könnte eine
hübsche junge Frau sein, wäre da nicht eine zehn
Zentimeter lange Narbe, die sich von der Stirn über ihr
linkes Auge bis hin zur Wange zieht und sie an den schlimmsten
Moment in ihrem Leben erinnert. Daran, als ihre Eltern und der
kleine Bruder beim Genozid im April 1994 ihr Leben lassen
mussten, weil sich der Hass der von der Volksgruppe der Hutu
dominierten Armee und extremistischen Milizen gegenüber den
Tutsi entlud. Innerhalb von 100 Tagen verloren 800.000 Tutsi,
aber auch regierungskritische Hutu ihr Leben, während die
internationale Politik das Geschehen stillschweigend
ignorierte.
Irene überlebte das Massaker gemeinsam mit zwei Schwestern
nur knapp. Heute leben sie bei der Cousine Kathy in Chiumwe,
einem kleinen Dorf zehn Kilometer von Kigali, der Hauptstadt
Ruandas, in ärmlichen Verhältnissen. Irene durchlebt
seitdem die Vergangenheit wieder und wieder: Die Familie hatte
sich damals im Haus versteckt, nachdem ein Flugzeug bei der
Landung in Kigali abgeschossen worden war, in dem sich der
ruandische Präsident Habyarimana und dessen burundischer
Amtskollege aufhielten. Der Abschuss gilt als Startschuss des
darauf folgenden Frühjahr systematischen Massakers durch die
Hutu. "Plötzlich waren da Soldaten der Armee. Wir mussten
uns auf dem Dorfplatz versammeln und auf den Boden legen",
erzählt Irene. "Dann begannen uns nahe stehende Nachbarn und
die lokale Miliz ohne Vorwarnung, Menschen um uns herum zu
töten. Sie schlugen sie mit Macheten und Knüppeln in
Stücke, um sie dann qualvoll sterben zu lassen", sagt sie.
"Sie töteten die Erwachsenen, die Alten und die Babys.
Keiner sollte überleben. Darum ging es ihnen." Auch Irene
wurde von einer Machete getroffen und bewusstlos geschlagen, doch
wie durch ein Wunder überlebte sie und floh gemeinsam mit
ihren Schwestern, bevor sie im Süden Ruandas Zuflucht in
einem Auffangzentrum der Kindernothilfe fand. "Für meine
Eltern und meinen kleinen Bruder konnte ich nichts mehr tun. Sie
waren schon tot. Ich sah nur noch Leichen, überall."
Irenes Geschichte ist die von Tausenden.
Schätzungen gehen von 120.000 Mädchen und Jungen aus,
die während der Massenflucht von ihren Eltern getrennt
wurden. Unzählige wurden wie Irene zu Waisen. Ob sie einen
Traum hat? "Dass wir noch einmal die Zeit zurückdrehen
können und dass mein kleiner Bruder auch weiterleben darf."
Die Schuld, überlebt zu haben, sei die schwerste Last, die
sie zu tragen habe.
Neun Jahre nach dem Unvorstellbaren ist Ruanda auf dem Weg in
eine Demokratie und hat im August 2003 gewählt. Vier
Millionen Menschen durften bei den ersten freien Wahlen seit dem
Ende der belgischen Kolonialherrschaft ihre Stimme abgeben. So
wie John, ein Überlebender des Genozid. Er ist 57 und verlor
seine Frau und alle Kinder beim Massaker in Butare. "Ich
wünsche mir, dass diese Wahl ein Neuanfang ist und wir einen
Präsidenten bekommen, der die ethnischen Spannungen zwischen
Hutu und Tutsis endlich überwinden kann", sagt er.
Der Gewinner der Wahlen ist der alte
Präsident Paul Kagame, der über 90 Prozent der Stimmen
erhielt. Beobachter kritisierten, dass in vielen Wahllokalen
mehrere Mitglieder von Kagames Armee, der Patriotischen Front
Ruandas anwesend waren, obwohl jeweils nur ein Vertreter pro
Kandidat zugelassen war. Doch eigentlich hat Kagame eine solche
Wahlfälschung nicht nötig. Sein klarer Sieg könnte
auch etwas anderes bedeuten: Die Bevölkerung hat ihre
Bereitschaft signalisiert, Kagame bei seinem Traum von Einheit
und Versöhnung zu unterstützen. Kagame ist der Mann,
der 1994 mit seiner Armee die Hauptstadt eroberte und dem
Schlachten ein Ende bereitete. Auch John träumt nur von
einem: dem Frieden. Vor drei Jahren hat er seine zweite Frau
geheiratet, die ihren Mann beim Genozid verloren hat. Gemeinsam
haben sie ein neues Leben begonnen, haben die Chance, ihre
Vergangenheit miteinander zu teilen, über das
Unaussprechliche doch irgendwie zu reden. "Wir haben Angst, dass
Ruanda vor einem neuen Blutrausch steht, Angst, dass eine
politische Polarisierung wieder zu Spannungen führen
könnte. Wir wollen Frieden und ein bisschen Geld, um leben
zu können", sagt John. Mit Kagame könnte so eine
Zukunft vielleicht gelingen.
Doch die Angst ist überall wie ein Gespenst
gegenwärtig. Irene hat Angst vor den Menschen, die ihre
Familie, ihr Leben zerstört haben. Denn das sind Menschen,
die früher ihre Nachbarn waren. Bis heute steht die Welt
ratlos der Frage gegenüber, auf welche Weise die
Organisatoren des Genozids in jedem Dorf einfache
Hutu-Angehörige rekrutierten und für die ethnische
Säuberung gewannen, viele freiwillig. Wie man aus einfachen
Bürgern Bestien formt, die ihre Nachbarn in Stücke
hackten. Manche Tutsi sahen das Unheil kommen.
John Kalenzi, Mitarbeiter des
Kindernothilfe-Partners African Evangelistic Enterprise (AEE)
berichtet: "Wir beobachteten, wie Angehörige der Miliz immer
wieder in unsere Dörfer kamen und die Hutu-Angehörigen
zu Versammlungen zusammenriefen." Sie selbst waren niemals
eingeladen. "Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir: Man plant etwas
gegen uns. Auseinandersetzungen hatte es schon oft genug gegeben,
aber wir konnten uns nicht vorstellen, dass dies solche
Ausmaße annehmen könnte. Nachbarn, die uns vorher
freundlich gegrüßt hatten, kamen plötzlich, um zu
töten." Wahrscheinlich kennt auch Irene die Mörder
ihrer Eltern. Doch zu groß scheint die Angst vor ihnen. Sie
antwortet ausweichend: "Sie haben Masken getragen, ich konnte ihr
Gesicht nicht erkennen." In ihren Augen spiegelt sich panische
Angst.
Die juristische Aufarbeitung des Genozids kommt nur langsam
voran. Derzeit sind noch rund 100.000 mutmaßliche
Täter inhaftiert, die auf ihren Prozess warten. Aufgrund der
Ermordung fast aller Richter wurde bislang nur eine verschwindend
geringe Zahl rechtskräftig verurteilt. Weil das Justizsystem
dafür Jahrzehnte brauchte, hat man im Oktober 2001 unter dem
Motto "Wahrheit heilt" 260.000 Laienrichter gewählt, die in
11.000 traditionellen Dorfgerichten, so genannten
Gacaca-Verfahren, Prozesse gegen die Inhaftierten führen.
Das Verfahren ist unter rechtsstaatlichen Kriterien umstritten,
doch für die Regierung scheint es die einzige Lösung zu
sein, alle Tatverdächtigen anzuhören und die Spannungen
zwischen den Volksgruppen zu beheben.
Doch die angestrebte Aussöhnung durch die
Dorfprozesse wird wieder durch die Angst zunichte gemacht. John
Kalenzi von AEE zieht die Wirksamkeit der Gacaca-Verfahren in
Zweifel: "In den Anhörungen müssen die
Tatverdächtigen als schuldig identifiziert werden. Wer aber
sollte sie verurteilen?" Viele, die aussagen könnten, sind
tot oder haben Ruanda den Rücken gekehrt. "Die anderen
Überlebenden haben Angst vor den Hutu, Angst vor den
Tätern, die ihre Nachbarn waren." Die Überlebenden sind
noch nicht so weit. "Viele befinden sich noch im Stadium der
Aufarbeitung. Und die ist schwierig genug", so Kalenzi. Zum
Beispiel in der eigenen Organisation. In ihr wurden fast alle
Tutsi-Mitarbeiter getötet oder vertrieben. Seitdem arbeiten
mehrheitlich Hutu-Angehörige für die Organisation.
Für die Aufgaben Tutsi-Mitarbeiter zu finden, ist schwer,
viele sind tot. "Das ist eine schwierige Situation, da wir uns
unter anderem um die überlebenden Kinder des
Völkermordskümmern. Hier müssen Einheit und
Versöhnung auf engstem Raum stattfinden. Und das ist
für die Hutu im Kontakt mit den Kindern nicht einfach,
selbst wenn sie sich 1994 nichts zu Schulden haben kommen
lassen", so Kalenzi. Die Mitarbeiter selbst schweigen die
Vergangenheit untereinander tot, um keine Konflikte aufkommen zu
lassen.
Irene lebt heute bei ihrer Cousine Kathy. Die, damals 20 Jahre
alt, hatte ebenfalls ihren Mann und ihre Eltern verloren, und
fand Irene in dem Waisenhaus in Butare. "Ich war selbst noch ein
Kind, aber ich wusste, dass wir nun zusammenhalten müssen",
berichtet sie. Weil aber die Familie nicht einmal das
Nötigste hatte, unterstützt AEE Irene bis heute,
bezahlte Schulgeld und Kleidung. Ihre beiden Schwestern werden
derzeit von Staat unterstützt, weil sie aufgrund ihres
Alters noch Anspruch darauf haben. Wie es weitergehen soll,
weiß Irene nicht. "Ich schaffe meine Prüfungen und ich
werde sicher irgendeinen Beruf lernen, um Kathy das
zurückzugeben, was sie für uns getan hat", sagt sie.
Das scheint ihr eine gute Basis zu sein, auf der man leben kann.
"Dieses Töten hat mein Leben zerstört. Ich werde es nie
mehr vergessen." Ihr Traum ist ein friedliches Ruanda, denn sie
hat keine andere Heimat, kann nirgendwo anders hin. Doch wie
sicher der Frieden für die Zukunft ist, wer weiß das
schon - besonderes Vertrauen in die Regierung hat sie
nicht.
Indes scheint Irene zu ahnen, was die Welt schon
länger beobachtet. Präsident Kagame ist nicht nur der
Versöhner, der Frieden bringt und die Einheit der
Volksgruppen will. Bis heute hat er die Finger im Spiel, wenn es
um die politische Zukunft des großen Nachbarn Kongo geht.
Im Osten Kongos gibt es schwere Kämpfe, obwohl in Kinshasa
über eine Regierung der nationalen Einheit verhandelt wird.
Schuld an den Unruhen sind unter anderem Ruanda und Uganda.
Ruanda hat, so die offizielle Meinung, das Interesse, die
Hutu-Milizen auszuschalten, die für den Genozid
verantwortlich sind und sich im Kongo versteckt halten und nur
auf die passende Gelegenheit warten, um Ruanda wieder zu
bedrohen. Doch beide Länder könnten auch nur an dem
rohstoffreichen Osten Kongos interessiert sein. Beobachter
sprechen davon, dass Uganda die Hutu-Milizen mit Waffen versorgt,
um einen Zustand der Unruhe aufrecht zu erhalten. Fest steht:
Auch wenn es scheinbar eine Demokratie sein möchte - Ruanda
bleibt ein autoritärer Staat, in dem die Opposition
unterdrückt wird und Pressefreiheit nicht existiert.
Ethnische Spannung contra Versöhnung und Einheit: Wie das
Kapitel auch immer enden mag - den Menschen Ruandas bleibt nicht
viel Zeit. Denn schon steht die nächste Tragödie vor
der Türe, die Hutu wie Tutsi gemeinschaftlich trifft:
HIV/Aids hat auch vor dem ostafrikanischen Land nicht halt
gemacht. Systematische Vergewaltigungen haben erheblich zu einem
Anstieg der Infizierten-Rate beigetragen. Und wieder trifft es
besonders die Kinder. Experten vermuten heute bereits über
60.000 Kinderfamilien augrund von Bürgerkrieg und HIV/Aids.
Tendenz steigend. Unicef-Studien zufolge leben darin über
300.000 Mädchen und Jungen unter 18 Jahren, viele in
absoluter Armut. Dreiviertel der Haushalte werden von
Mädchen geführt. Für sie ist die Situation
besonders kritisch. Ohne den Schutz von Erwachsenen leben sie
ständig in Angst, vergewaltigt oder zur Prostitution
gezwungen zu werden. Viele haben Angst, das elterliche Erbe durch
Bekannte oder Nachbarn zu verlieren, weil sie in der Regel nicht
erbberechtigt sind. Die 14-jährige Josephine aus Butare ist
eine von ihnen. Der Vater, ein Hutu, flüchtete während
des Genozid und versteckt sich heute vermutlich im Kongo. Ihre
Mutter verlor sie vor zwei Jahren an Aids. Dann zogen ihre
jüngeren Brüder zu entfernten Verwandten. Seitdem wohnt
sie in dem kleinen Lehmhäuschen inmitten einer
Bananenplantage alleine. "Erst das Massaker, jetzt Aids. In
Ruanda sind wir Jüngeren immer mehr auf uns alleine
gestellt", sagt Josephine. Es sei schwer, sich durchs Leben zu
schlagen, wenn man nichts zu essen habe, kein Einkommen, um das
Nötigste zu kaufen, und niemandem, der einem helfen
könnte. "Wo ist die Antwort der Regierung darauf?"
Nichtstaatliche Organisationen wie die
Kindernothilfe haben die prekäre Situation der Kinder
erkannt. In Butare unterstützt AEE die Gründung von
Selbsthilfegruppen, in denen sich Menschen mit ähnlichem
Hintergrund zusammentun. Auch Josephine trifft sich zweimal pro
Woche mit zwölf anderen Jungen und Mädchen, wo sie
über Probleme reden und füreinander Lösungen
suchen. "Wenn es keine Eltern mehr gibt, an die wir uns wenden
können, dann müssen wir eben füreinander
verantwortlich sein", erklärt sie. Kürzlich haben sie
mit einer Bienenzucht begonnen. Den Honig können die Kinder
demnächst auf dem lokalen Markt verkaufen, um ein kleines
Einkommen zu generieren. Überraschend ist: In der Gruppe
stehen Hutu- und Tutsi-Kinder gleichermaßen
füreinander ein. Olivier, ein Tutsi-Junge sagt: "Meine
Eltern starben beim Völkermord, meine Freunde sind auch tot.
Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, sie nicht wieder
lebendig machen. Jetzt haben wir mit Aids ein neues, schlimmes
Problem. Wir können nur gewinnen, wenn wir das Problem
zusammen anpacken. Was also sollte mir der Hass bringen?"
Einheit und Versöhnung herrscht, wo Kagame sie vielleicht
nicht vermutet. Er regiert indes, ohne sich der neuen Probleme im
Land bewusst zu sein, versteckt sein Gesicht hinter der Rolle des
Versöhners. Lange profitierte er von dem Schuldbewusstsein
der Vereinten Nationen und der internationalen Politik, die dem
Völkermord in Ruanda tatenlos zusahen, obwohl sie ihn
vielleicht hätten verhindern können. Doch langsam
kehren sich schon einige Länder von Ruanda ab, je mehr unter
dem Schein des Versöhners der Kriegsherr zu Tage kommt. Doch
überraschend hat er jetzt wieder einen Schritt in Richtung
Einheit getan, indem der politisch unabhängige Bernard
Masuka zum Ministerpräsident ernannt wurde. Er ist Hutu und
könnte er ein weiteres Zeichen der Versöhnung zwischen
den Bevölkerungsgruppen setzen. Damit der Traum von einem
friedlichen Ruanda wahr wird.
PROJEKTINFOS UND PATENSCHAFTEN |
Simone Orlik, Redakteurin bei der Kindernothilfe, Duisburg, e-mail: simone.orlik@knh.de. Aus "pogrom / bedrohte Völker" (Nr. 221 - 5/2003).