Von Margret Bergmann
Bozen, 14. Juni 2005
Ich war schon sehr gespannt, was mich in diesem
Land erwarten würde, das ich in meinen Märchen immer
als Paradies, wenngleich verloren gegangenes, geschildert habe.
Würde ich einen dieser traumhaften Paläste noch sehen,
mit den bunten Fensterscheiben, den Türmchen und Zinnen,
würde ich durch die engen Straßen und über die
weiten Plätze der Städte lustwandeln können,
würden die Kuppeln der Moscheen blaugrün schillern, so
wie ich es in mir, in meinen Märchenwelten, gesehen hatte?
Und die Landschaft, würde wenigstens sie ihr Versprechen
halten, von Bächen und Flüssen, von Wiesen und endlosen
Steppen, von hohen, schneebedeckten Bergen, würde ich die
Wüste sehen, die Nomadenzelte? Wie würden mir die
Menschen begegnen?
Am 21. Mai hoben wir in München ab und flogen über
Dubai nach Kabul. Nach einer Nacht im Haus unserer Freundin, der
großen, tapferen Frau und Begründerin der
Hilfsorganisation Shuhada, Frau Dr. Sima Samar, verließen
wir noch vor dem Krähen des Hahns die Stadt, fuhren eine
kurze Strecke auf asphaltierter Straße, und dann querten
wir hinein ins weite Hochland von Hazarajat, in die Heimat von
Frau Dr. Samar, den Teil Afghanistans, in dem die Nachkommen
Dschingis Khans sich niedergelassen haben, wo einem Kinder mit
von der Kälte geröteten Pausbacken und Schlitzaugen
begegnen und Erwachsene mit von Wind und Kälte gegerbter
lederner Haut. Die Bauernhöfe alle aus Lehm, zum Teil
während der langen Kriegs- und Flüchtlingszeiten von
Regen und Wind abgetragen, dabei, sich wieder der Erde
anzuschmiegen, aus der sie einst geformt worden waren, und
daneben die neuen Häuser der Zurückgekehrten.
Felder werden gerodet, gepflügt, Roggen
wird ausgesät, in waalartigen Kanälen wird Wasser auf
die Felder geleitet. Schnellwüchsige Pappeln werden
gepflanzt, die Stämme dienen als Stützen und Balken
beim Hausbau. Ja, wir haben Glück. Nach den schweren
Schneefällen des letzten Winters fließen die
Bächlein, manche Flüsse bringen mehr Wasser als sie
führen können, die Berge sind wie von zartgrünem
Samt überzogen, die Wiesen stehen saftig, die Bäume
setzen Blätter und Blüten an. Eine hoffnungsvolle Zeit,
besonders für Hirten und Bauern, die bis hoch oben auf die
Berge, weit über die Baumgrenze hinaus, noch Felder
bereitgestellt haben zur Aussaat. Wenn das Wetter nur weiterhin
günstig bleibt und Regen bringt!
Ins Hazarajat führen keine Straßen, nur Trampelpfade,
von Lastwägen gezogene Fahrspuren, die nach dem Regen zu
Schlammwannen werden, sich in trockenen Zeiten jedoch in
Staubschüsseln verwandeln. Nur im Vierradantrieb geht es
voran - und auch das nicht immer -, unsere Fahrzeuge klettern
Forellen oder Lachsen gleich Katarakte hinauf, wir erklimmen
über 4000 m hohe Pässe, wir pflügen unseren Weg
durch moorigen Sumpf - und dann kommen wir endlich doch an unsere
Ziele. Denn das ist Sinn und Zweck unserer Reise: die Projekte
von Shuhada zu besichtigen, uns zu erkundigen, wie es in den
Hospitälern, den Schulen weitergeht, zu erfahren, ob
Fortschritte gemacht wurden, Medikamente zu bringen, von
notwendigen neuen Projekten zu hören. Diese tragen wir dann
heim, in der Hoffnung, nein, in der Zuversicht, hier im Lande
offene, hilfsbereite Herzen zu finden.
Im hintersten Lal und Sare Jangle, wo der
Winter acht Monate dauert und die Orte wie Maulwurfhügel
unterm Schnee begraben liegen, hier halten Shuhada-Ärzte
durch, hier versorgen sie nach besten Möglichkeiten die
Kranken, hier werden Kinder geboren, hier besuchen sie,
stundenlange Märsche in Kauf nehmend, Kranke zuhause. 800
Menschen sind in dieser abgeschiedenen Gegend im letzten Winter
erfroren! Auch wir frieren erbärmlich: jeden Tag eine
Kleiderschicht mehr am Körper, jeden Tag ein bisschen
weniger Abwaschen, was soll's auch, man schwitzt nicht in dieser
Kälte, wo im Juni noch Schnee und Graupel fällt.
In Jaghori eine größere Klinik. Da sitzt eine junge
Frau in der Artpraxis. Fünf Stunden lang ist sie auf dem
Eselsrücken hergeritten, um einen Arzt zu sehen.
Verängstigt-hoffnungsvoll schaut sie uns an. Oder der arme
Alte (wie alt wohl?), der mir mit schmerzverzerrtem Gesicht beide
Hände entgegenstreckt, und meine Hand küsst, als ich
die seinen nehme und drücke. Ach, was könnte ich nur
tun für dich? Und die Kinder, die so lange "rotzen" und
husten, bis sie gelernt haben, den Schleim zurückzuziehen
und auszuspucken. Wie viele Krankheitskeime wüten bis dahin
in ihren Körpern! Nur die Kräftigsten überleben
die ersten Jahre.
Herzerwärmend die Freundlichkeit, mit der wir überall
empfangen werden, die Dankbarkeit! Dankbar für den Besuch,
für die Medikamente, für die Geschenke. Dankbar
für ein Paar Schuhe, die ich entbehren kann, dankbar
für den Armreif, den ich einer Frau ums Handgelenk lege,
dankbar für jedes Lächeln, für jede Geste der
Zuwendung und für jeden offenen Blick, der aus dem Herzen
kommt. Wie oft bin ich gegen sogenannte Gesellschaftsregeln
verstoßen, weil ich einfach tun musste, was mir das Herz,
nicht die Gesellschaftsregel, die Vorschrift, gebot. Endlich der
Tag, an dem ich "meine" Schule besuchen darf! Meine Schule, weil
ich sie durch mein Märchenerzählen und durch den
Erlös meines Buchs "He du, großer Komet!" finanzieren
kann. 760 Mädchen und junge Frauen besuchen die Schule, die
nach 12 Jahren Unterricht mit der Reifeprüfung endet und den
jungen Frauen die Türen zur Universität
aufschließt.
Eine Klasse schreibt gerade ihre Schularbeit: die Mädchen
sitzen weit verstreut im Schulhof, unter der prallen Sonne, damit
sie nicht abschreiben können. Ja, damit sie nicht
voneinander abschreiben können, denn in den
Klassenräumen sitzen sie so eng, wie Sardinen in Dosen
gepresst, auf ihren Bänken oder auf dem Boden, dass ihr
Blick das Heft, das Blatt der Nachbarinnen unwillkürlich mit
einschließt. Wie in allen Shuhada-Schulen, die wir
besuchen, in allen Shuhada Krankenhäusern und im Waisenhaus,
das die Provinz Bozen finanziert hat, werden wir auch hier
herzlich begrüßt, wir teilen die Buntstifte und
Papierblätter aus, damit wir für die Pateneneltern
Zeichnungen mit Italien bringen können. Während die
Kinder malen, gibt es im Lehrerzimmer Tee und lange
Gespräche in Dari, der Landessprache. Es wird gelacht, es
wird berichtet, Bedürfnisse werden laut.
Man braucht hier in Tabqos ein drittes Haus (zwei
Schulhäuser gibt es bereits), die Kinder ersticken
förmlich in den engen Räumen, 60.000 Euro kostet der
Bau. "Margret, hast du eine Grube, aus der du 60.000 Euro
schöpfen kannst?", fragt mich Evelina Colavita, meine
Freundin und Mittelsperson für meine Afghanistanhilfe. "Ich
werde eine finden!" Und so bin ich mit einem großen Auftrag
zurückgekommen, einem Auftrag, dem ich mit all meinen
Kräften und Möglichkeiten nachkommen möchte.
Vorerst jedoch danke ich innig und aufrichtig Allen, die mich in
den letzten Jahren zu einer Märchenerzählung eingeladen
haben. Mein Repertoire hat sich inzwischen weiter
vergrößert, auch Lyrik und v.a. Liebesgedichte sind
dabei; doch in erster Linie möchte ich anhand der neuen,
beeindruckenden Bilder vom Land, den Leuten, meinen Erfahrungen
und den zahlreichen Projekten Shuhadas berichten. Ich freue mich,
wenn ihr mich einladet, dann bauen wir gemeinsam ein Schulhaus in
Tabqos in Zentralafghanistan!
Herzlichen Dank!
Margret Bergmann