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Rainer Feldbacher
Bozen, Juli 2021
Bashas Männer. Foto: Rainer Feldbacher.
Guizhou im Südwesten Chinas liegt Großteils im Gebirge. Entsprechend ist es abgelegen und unterentwickelt, wodurch die Provinz zu den ärmsten der Volksrepublik zählt. Demografisch ist Guizhou jedoch reich an Vielfalt. Am Fuße des sogenannten Mondberges in den endlos dichten Wäldern von Congjiang liegt ein kleines verstecktes Bergdorf, in dem der letzte Jägerstamm der Miao lebt: Basha. Die Bewohner dieser Siedlung gehören nicht nur zu den letzten Volksgruppen in China, die in diesem Staat legal noch echte Schusswaffen tragen können, sondern spielen auch in anderen Zusammenhängen eine außergewöhnliche Rolle: Sie verehren Bäume als Seelenträger, leben in ihren Holzhäusern, praktizieren jahrhundertealte Bräuche und haben ihre eigenen einzigartigen Überzeugungen.
Von Guizhous größeren Städten aus wie jener von Kailin, die letztlich mit den Zentren entlang der Ostküste verbunden sind, gelangt man zu den Siedlungen der Miao (auch bekannt als Hmong), Yao und Dong, den wichtigsten ethnischen Gruppen in Guizhou. Linguistische Gemeinsamkeiten lassen darauf schließen, dass es sich bei diesen Völkern um Verwandte mit einer gemeinsamen Urheimat, vermutlich im Westen Sibiriens handelt. Ihre Vorfahren sind vermutlich im Laufe der Jahrtausende über die Mongolei nach China eingewandert, wo sie von den Han-Chinesen immer weiter nach Süden abgedrängt wurden. Vor der chinesischen Expansion lebten die Miao südlich des Yangtse-Flusses, bis sie gezwungen waren, in den letzten Jahrhunderten noch weiter in die südostasiatischen Staaten zu wandern, wodurch das Territorium durch ihre Migrationswellen den gesamten Südwesten sowie die südlichen Nachbarstaaten umfasst. Es gibt keinen großen zusammenhängenden Siedlungsraum, doch hat die Regierung in der Provinz Guizhou wo die Hälfte der Miao lebt, sowie in Hunan und Yunnan autonome Bezirke eingerichtet. Weiters finden sich Angehörige dieser Volksgruppe auf der Insel Hainan; hierbei handelt es sich um Nachkommen von Söldnern der Qing-Dynastie, die auf Hainan angesiedelt wurden, um die aufständischen Li zu bekämpfen. Doch auch in jüngerer Zeit wurden sie von sogenannten demokratischen Staaten benutzt: In Laos, wo sie Hmong genannt werden, sowie in Vietnam, wo sie Meo heißen, wurden sie während des Indochina-Krieges zunächst von Frankreich und später von den USA rekrutiert, um gegen die kommunistischen Verbände zu kämpfen. Wirtschaftliche Verlockungen, aber auch alte ethnische Rivalitäten machten die Hmong zu verlässlichen Verbündeten der Westmächte, die gezielt bei verlustreichen Operationen eingesetzt wurden. Nach der Niederlage und dem Rückzug der USA rächten sich die neuen Herren an den Hmong, die sich in immer abgelegenere Gebiete zurückziehen mussten.
Sicht auf Zhaoxing. Foto: Rainer Feldbacher.
Die Miao verfügen über ein ausgeprägtes
soziales Gefüge, in denen stärker als in anderen
asiatischen Gesellschaften sich der Einzelne als Teil der
Gesellschaft sieht, Individualität selbst jedoch nicht
erstrebenswert ist, sondern regelrecht verpönt. Die Menschen
definieren sich über ihre Familie und ihren Clan, der durch
eine strenge patriarchalische hierarchische Ordnung geprägt
ist. Ursprünglich lebten die Miao vom Brandrodungsfeldbau
und der Jagd, was heute nur noch in den abgelegeneren
Waldgebieten möglich ist. Durch ihre große
räumliche Zerstreuung haben sich zudem die Wirtschaftsformen
ausdifferenziert; so reicht das Spektrum von Viehzucht, vor allem
der Schafzucht als auch der Produktion von Baumwolle.
Zu den größten ländlichen Gemeinden gehören
Xijiang und Zhaoxing, die heute mehr wie ein Touristenpark
anmuten: Im ersten Fall wird der Besucher von Miao
begrüßt, die monoton singen und ihre Lusheng spielen -
die für verschiedene ethnische Gruppen typischen
Bambuspfeifen, ihren Körper im Rhythmus der Musik
schütteln und Reiswein aus einem Horn - einst vom Rind,
heute aus Plastik - kredenzen. Wie bei vielen sehenswerten und
bis vor Kurzem authentischeren Altstädten ist auch hier
Eintritt zu entrichten. Dennoch wirken sie weiterhin beschaulich
und offenbar auch die praktischen und lebensnotwenigen
Beweggründe der Lage solcher Siedlungen: Das Dorf Xijiang
liegt im Tal eines Flusses, der sich durch die Berge grub, deren
Hänge von Häusern gesäumt sind. Sobald man in den
hinteren Bereich des Dorfes marschiert, findet sich weit mehr
Authentizität. Die Einwohner, die nicht vom Tourismus leben,
hängen Wäsche auf, legen Gemüse oder Reis zum
Trocknen am Boden auf, Kinder spielen. Ein ganz anderes Bild, als
entlang den üblichen chinesischen Touristen- und
Shoppingstraßen vermittelt wird. Teilweise leben aber auch
andere Ethnien in den größeren Dörfern, gerade
etwa die Dong. Wobei diese vor Allem in Zhaoxing, vertreten sind
- dieser Ort ist wieder stärker dem Tourismus angepasst, das
ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Ort
überwältigend ist mit seinen Reisfeldern,
traditionellen Häusern, erneut an einem Fluss samt den
charakteristischen Windbrücken und -türmen. An den
Zäunen finden sich immer wieder Kleidungsbündel, die
mit den Stoffen der Indigopflanze gefärbt worden waren und
zum Trocknen hängen. Die Stickerarbeiten der Region (Leishan
Miao‘s Embroideries) wurden zudem 2006 in das "Immaterielle
Kulturguterbe" aufgelistet.
Dorf-Meeting. Foto: Rainer Feldbacher.
Wenn man jedoch tiefere Einblicke und Kenntnisse über die ethnischen Gruppen von Guizhou erlernen möchte, muss man tiefer in die Berge und Wälder dringen. Das Miao-Dorf Basha liegt auf einem Hügel, fünf Kilometer von Congjiang entfernt. Der Name "Basha" bedeutet in der Miao-Sprache "Ort mit üppigem Wald". Die Dorfbewohner führen dort ein autarkes Leben in den hügeligen Gebieten innerhalb ihrer Diaojiaolou, den traditionellen Miao-Holzkonstruktionen auf Holzpfählen. Die Gesellschaft behielt naturreligiöse Tendenzen bei und verehrt noch heute Wasserquellen und Bäume als ihre heiligen Totems. Besonders letztere werden als die Seeleninkarnation ihrer Vorfahren angesehen. Bei der Geburt ihres Kindes pflanzen die Eltern einen Baum mit dem Wunsch, dass er mit der gleichen Stärke wie der Baum aufwächst. Obwohl das Fällen alter Bäume verboten ist, wird ebendieser Baum oft verwendet, um den Sarg herzustellen, wenn die Person schließlich stirbt. Doch ihre Glaubensvorstellungen unterliegen dem Wandel: Ihre ursprüngliche Naturreligion eignete sich im Laufe der Jahrhunderte Elemente des chinesischen Daoismus und Konfuzianismus an, wobei insbesondere die hohe Wertschätzung von Alten und der Familie den Vorstellungen der Miao entgegenkam. Durch die neuzeitliche Migration kamen sie auch mit dem Buddhismus und dem Christentum in Berührung, die einige Bekehrungserfolge erzielten.
Rückkehr der Basha-Jäger. Foto: Rainer Feldbacher.
Ein weiteres Merkmal in Basha selbst ist der spezielle
Haarschnitt für Männer: Wie einst die Männer in
der Qing-Dynastie tragen die Basha-Männer ihre langen Haare
in Zöpfen, während der obere Kopfteil rasiert ist. Sie
legen großen Wert darauf und glauben, dass diese Tracht ein
Symbol für Männlichkeit und Macht ist. Jungen
müssen als Übergangsritus an ihrer ersten
Rasierzeremonie im Alter zwischen sieben und fünfzehn Jahren
teilnehmen. Der Stammesführer benetzt eine Sichel mit dem
Wasser, das zum Kochen von Eiern verwendet wird, und rasiert alle
Haare des Jungen ab, mit Ausnahme des zentralen Teils. Diese
Rasur erfolgt ohne Rasierschaum oder Spülung. Die Jungen
können ab einem bestimmten Alter entscheiden, ob sie ihre
Haare bis auf ihren Zopf entfernen oder behalten. Mit
fünfzehn Jahren erhalten sie außerdem ein Jagdgewehr
als Zeichen dafür, dass sie erwachsen geworden sind. Dieser
Fall ist in China außergewöhnlich oder einzigartig, da
die Einwohner von Basha die einzigen sind, denen es gesetzlich
gestattet ist, private Gewehre zu tragen, die sie über den
Schultern tragen, samt Messer, Pulverhorn und anderen
Jagdutensilien an ihren Gürteln. Neben den lebenden
Bräuchen behalten insbesondere die Bewohner von Basha die
traditionelle Kleidung bei: Die gefärbte Kleidung, die sie
tragen, repräsentiert Rinde. Die Basha geben normalerweise
Eiweiß in das Indigo, wenn sie das grobe Tuch färben,
wodurch es glänzend und wasserdicht wird.
Bei Sonnenaufgang sind die Häuser und umliegenden Berge nur
als Silhouetten zu erkennen, und das Tal ist nebelbedeckt, bis
sich der Schleier immer mehr auflöst und das Tal mit seinen
Reisfeldern und den sie umgebenden dichten Wäldern freilegt.
Über die Freiflächen und Hügel der Dörfer
verstreut stehen andere Holzkonstruktionen, die
üblicherweise als "Flöße" oder "Gestelle"
bezeichnet werden. Sie werden zum Trocknen von ungeschältem
Reis verwendet. In diesen frühen Morgenstunden kommt das
einzige Geräusch vom Krähen des Hahns und dem Singen
der Frauen bei der Arbeit. Mit Tagesanbruch entsteht immer mehr
Leben im Dorf - die Feldarbeiter, die Waschfrauen, die Kinder auf
dem Weg zur Schule. Der Schulbetrieb offenbart gewisse
Widersprüche autarker Lebensweise: Ein Bus wird täglich
in den Schulhof gekarrt und hauptsächlich chinesische
Lehrerinnen steigen aus, um verstärkt auch die chinesische
Sprache und Kultur beizubringen. Obwohl es sich um ein Dorf einer
nicht-han-chinesischen Volksgruppe handelt, bekommt man das
Gefühl, in Basha echten Einblick in das alte China gewonnen
zu haben. Die Bevölkerung muss (in jedem Kontext)
andererseits am wirtschaftlichen Fortschritt der Volksrepublik
China teilnehmen, aber auch ihre Identität bewahren. Basha
ist vorerst ein Beispiel für die Haltung einer Gesellschaft,
die sich der (chinesischen) Welt öffnet bzw. öffnen
muss, aber dabei Tradition und Authentizität in vielen
Lebenslagen bewahren kann. Der Autor erlebte das jährliche
Kuan, währenddessen innerhalb von Miao- wie auch
Dong-Gesellschaften Organisatorisches und Regelwerke im Kollektiv
besprochen werden, innerhalb eines Dorfes (likuan) oder zwischen
Dörfern (hekuan), um Ordnung innerhalb der Gemeinschaften
aufrecht zu halten. Innerhalb der Volksrepublik gelten diese
Treffen natürlich als inoffizielle Organisationen.
Kanal bei Zhaoxing. Foto: Rainer Feldbacher.
In der Welt wird China als relativ homogener Einheitsstaat wahrgenommen, wenn man von gewissen Randgebieten wie Tibet oder Xinjiang absieht, was jedoch nicht der Sachlage entspricht, denn von seinen Anfängen bis ins 20. Jahrhundert hinein hat das chinesische Reich andere Kulturen aufgenommen, häufig assimiliert, sich auch beeinflussen lassen. Die Herrscher dieses Reiches, denen sehr oft Fremdvölker angehörten, wollten nicht nur andere Völker integrieren, sondern zudem ihren kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Einfluss möglichst weit über den eigentlichen Raum hinaus ausdehnen. Die Selbstbezeichnung Zhongguo ("Reich/Land der Mitte") macht deutlich, wie weit der Anspruch auf kulturelle, wirtschaftliche und politische Dominanz zurückgeht. Selbst die etwa 1,1 Milliarden Menschen, die sich zu den Han bekennen, sind keine homogene Kultur. Was die Han am stärksten verbindet, ist das Bewusstsein der eigenen Identität - Volk, Nation und Nationalität werden hoch bewertet, neben den klassischen ethnischen, linguistischen und religiösen Kriterien.
Reis-Gestelle. Foto: Rainer Feldbacher.
In der Vergangenheit zogen es anderen ethnische Gruppen vor
allem in den peripheren Gebieten vor, untereinander zu bleiben,
und erlaubten kaum den Kontakt mit der Außenwelt. Bessere
Straßen wie die Autobahn 321, welche am Anfang der 1980er
Jahre gebaut wurden, ermutigten Fremde - vornehmlich Touristen,
die Dorfbewohner zu "besuchen". So wurde Basha trotz des immer
noch authentischen Lebens wie ein Themenpark eingezäunt,
dessen Bewohner dreimal am Tag ihre "Traditionen" showtechnisch
zeichnen. Für viele ethnische Minderheiten stellen
Kulturtouristen jedoch auch ein Publikum, das ihren ethnischen
Stolz bestätigt und ihn so am Leben erhält. Der
Kulturtourismus setzt viele Menschen anderen Traditionen und
Lebensweisen aus, die im Allgemeinen positiv für das
interkulturelle Verständnis gesehen werden. Für
ethnische Gruppen, deren Traditionen mit dem Aufstieg der
Globalisierung verblasst sein mögen, bietet der
Kulturtourismus oft die Möglichkeit, ihre Traditionen
wiederzubeleben, auch wenn dies oft nur in Aufführungen der
Fall ist, in denen Tradition die Menschen definiert. Und
natürlich ist Kulturtourismus auf finanzieller Basis eine
Einnahmequelle für Menschen, die in ländlichen Gebieten
mit kaum anderen wirtschaftlichen Möglichkeiten leben.
Kulturtourismus wird allgemein als Tourismus definiert, der sich
mit Kultur, Lebensstil, Kunst, Architektur und Religion befasst
und Aktivitäten wie Gastfamilien und Besuche einer
Kultstätte umfassen kann.
Es ist erstaunlich, wie sehr sich das isolierte Leben in Basha
halten konnte. Zugleich muss und kann man wohl hoffen, dass der
"Authentizität" wegen nicht in jeden Bereich des Alltags
seitens der Zentralregierung eingegriffen wird, sondern im
Gegenteil, der Diversität wegen gezielt bewahrt bleibt.
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/asia/hui.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/charta08-tb-it.html
| www.gfbv.it/3dossier/asia/tibet-ud.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/tibet.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/china.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/china1.html |
www.gfbv.it/3dossier/asia/tuwa.html
in www: https://de.wikipedia.org/wiki/Miao