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Von Marion Caris
Bozen, Göttingen, 30. August 2016
Die kugelförmigen Felsen Karlu Karlu im Northern Territory, die auch Murmeln des Teufels genannt werden, spielen in der Schöpfungsgeschichte der Warumungu eine wichtige Rolle. Foto: BRJ INC. via Flickr.
"Forscher liefern Beweise: Aborigines sind Ureinwohner
Australiens", "Streit offenbar beendet: Aborigines sind
Australiens Ureinwohner", titelten deutsche Zeitungen am 7. Juni
2016. Bis vor wenigen Monaten nahmen Wissenschaftler noch an,
dass Aboriginal People Nachfahren einer ausgestorbenen
Menschenart waren. Man könnte fast lachen, wenn die
Denkweise, die hinter diesen Nachrichten steckt, nicht so traurig
wäre. Wenn Aboriginal People gefragt werden, woher sie
kommen, sagen sie: "Wir waren schon immer hier".
Das Wissen und die Weisheit indigener Völker werden von der
westlichen Wissenschaft nicht anerkannt. Nur Weiße
bestimmen in unserer Welt, was wahr ist und was nicht und
können so, bis "unumstößliche" Beweise geliefert
werden, ganze Völker unsichtbar machen und deren Rechte
aberkennen. Erst wenn Weiße etwas "entdecken", das andere
schon längst kennen, wird es Realität und wird Teil der
"offiziellen" Menschheitsgeschichte. Vor allem auf dem
australischen Kontinent ist diese Denkweise für die dort
lebenden Völker verheerend gewesen. Sie machte das Land mit
einem Schlag zu einem weißen Fleck auf der Karte, zu einem
leeren, unbewohnten Kontinent (Terra Nullius), der einfach in
Besitz genommen werden konnte. Jetzt, wo Wissenschaftler
nachgewiesen haben, was Aboriginal People schon immer gewusst
haben, sollte man aber nicht glauben, dass dies etwas ändern
wird. Die Historikerin Dr. Victoria Grieves von der Nation der
Warraimay schreibt, dass die heutigen Machtverhältnisse in
Australien nicht auf einem Missverständnis beruhen, sondern
weil herrschaftliche Strukturen geschaffen wurden, in denen es
keinerlei Raum für die Denk- und Lebensweise der Aboriginal
People gibt.
"Wir waren schon immer hier", geben sie seit Generationen an ihre
Nachkommen weiter. Ihre Überzeugung gründet nicht auf
einer Wissenschaft, sondern auf der Mythologie der Traumzeit. Die
Anangu in den Wüstengebieten Zentral- und Westaustraliens
nennen diese Schöpfungsgeschichte Tjukurpa. Ihr zufolge
hatten übernatürliche Wesen das Land beschritten, bevor
sie sich, von den langen Wanderungen ermüdet, in die Erde
zurückzogen. Dabei nahmen sie die Form eines Bergs, einer
Quelle oder eines Baumes an. Ein Beispiel ist die
Regenbogenschlange, die durch die Landschaft glitt und so die
Flüsse formte. Aus Sicht der Warumungu, die auch in
Zentralaustralien leben, sind die Eier dieses
Schöpfungswesens noch immer zu sehen. Es sind die Devils
Marbels (Murmeln des Teufels), große kugelförmige
Felsen, die sich 100 Kilometer südlich von Tennant Creek im
Northern Territory befinden. Die Warumungu nennen sie Karlu
Karlu.
Sonnenuntergang in einer kleinen Aboriginal-Gemeinde in Maningrida/Northern Territory. Foto: Emily Hanna via Flickr.
Vor dem Eintreffen der Europäer lebten
schätzungsweise 300.000 Menschen auf dem Kontinent, verteilt
auf etwa 500 Sprachgruppen. Eine Sprachgruppe, auch Nation*
genannt, ist eine Gruppe von Menschen mit der gleichen Sprache,
die nach den gleichen Gesetzen und Regeln lebt, so wie die Yolngu
im Nordosten von Arnhemland: Sie sprechen eine Sprache aus der
Sprachgruppe Yolngu Matha und besitzen ein gemeinsames
Rechtssystem, das Madayin. Durch die Kolonialisierung wurden
viele Sprachgruppen vernichtet und die sozial-gesellschaftlichen
Strukturen überlebender Nationen ernsthaft gefährdet.
Trotz dieser radikalen Veränderungen hat der "Westen" noch
immer eine romantische Vorstellung von den Aboriginal People als
Jäger und Sammler. Diese Auffassung ist jedoch falsch. Es
gibt mittlerweile genügend Hinweise, dass Aboriginal People
sehr wohl Häuser gebaut und Landwirtschaft betrieben haben.
Zudem leben etwa 80 Prozent nicht im Outback, sondern in den
Städten. In Australien gibt es insgesamt 700.000 Aboriginal
People, die drei Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Die soziale Struktur ist bei den Aboriginal People komplex. Jede
Nation besteht aus mehreren Clans. Das sind Gruppen von 40 bis 50
Menschen, die nicht nur das gleiche Totem haben, sondern auch in
einem Gebiet leben. Innerhalb eines Clans leben mehrere Familien.
Genau, wie jeder Clan sein eigenes Totem hat, fühlt sich
auch jede Person, jede Familiengruppe und jede Nation einem Totem
zugehörig. Ein Totem kann eine Pflanze, ein Tier oder auch
ein Stein sein, mit dessen Charaktereigenschaften sich die
jeweilige Gruppe identifiziert. Das Totem des inzwischen auch in
Europa bekannten Yolngu-Sängers Geoffrey Gurrumul Yunupingu
ist zum Beispiel Baru, das Salzwasserkrokodil.
Wie wichtig Totems für Aboriginal People sind, zeigte sich
2011 bei einer Aufsehen erregenden Auktion in
Großbritannien, auf der ein Tjuringa-Stein verkauft werden
sollte. Bei dem Stein handelt es sich um ein Totem, zu dem nur
senior elders (die Ältesten) Zugang hatten, bevor er
gestohlen und verkauft wurde. Australische Museen, die sich aus
Respekt vor den traditionellen Gesetzen weigern, solche Objekte
auszustellen, reagierten empört. Die Auktion wurde
verschiedenen Berichterstattungen zufolge abgesagt.
Seit 50.000 Jahren gibt es Aboriginal People in Australien. Mit der Ankunft der europäischen Kolonisatoren wurde ihnen die Oberhoheit über ihr Land genommen. Foto: Patrick Savalle via Flickr.
Auch das Verwandtschaftssystem ist nicht weniger kompliziert.
Grundlage des Systems ist die Annahme, dass alle Menschen, Tiere,
Pflanzen und Gegenstände im Universum in zwei sich
ergänzende Gruppen aufgeteilt sind, die sogenannten
Moieties. Dieses Prinzip gibt es bei den meisten Nationen. Bei
den Yolngu etwa heißen die Moieties heißen Yirritja
und Dhuwa. Jeder Mensch wird in eine Moiety hineingeboren und
gehört ihr sein Leben lang an. Sie bestimmt, wen man
heiraten darf; innerhalb einer Moiety zu heiraten ist immer noch
tabu. Mit diesem System wird im Wesentlichen Inzucht verhindert.
Aboriginal People sind auch durch Verwandtschaft (kinship)
miteinander verbunden. Aber anders als in Europa können
solche Begriffe wie Mutter oder Vater auch für andere
Verwandte verwendet werden. So kann etwa ein Kind den Bruder
seines biologischen Vaters manchmal auch Vater nennen. Und eine
Frau, mit der keine biologische Verwandtschaft besteht, kann
manchmal Tante von jemandem sein.
Die ersten Europäer, die den Fuß auf australischen
Boden setzten, erkannten diese vielschichtige soziale Struktur
und die damit verbundene Vielfalt nicht. Für sie waren die
Bewohner des Kontinents eine homogene Gruppe, die sie
"Aborigines" nannten, ein Wort, das sich von dem Lateinischen "ab
origine" ("von Ursprung") ableitet. In Australien wird dieser
Begriff oft als geringschätzig empfunden und daher besser
vermieden. Vielmehr wird der Begriff Aboriginal People bevorzugt,
oder die Namen, die sich Aboriginal People in einem bestimmten
Gebiet selbst gegeben haben, wie Murri (Nordost-Australien),
Koori (Südost-Australien), Palawa (Tasmanien) oder Nyungar
(West-Australien).
In den Gemeinschaften, deren gesellschaftliche Strukturen noch
zum Teil intakt sind, nennen sich Menschen nach der
Zugehörigkeit zu einem Clan, Totem und/oder Skin. Wenn sie
sich vorstellt, zählt die Yolngu-Lehrerin Yalmay Yunupingu
beispielsweise auf, dass ihr Skin Gamanydjan, ihr Clanname
Rirratjinu und sie von der Moiety Dhuwa ist. Aber auch die
Menschen, die einen Artikel für diese Ausgabe geschrieben
haben, sehen sich selbst nicht an erster Stelle als Aboriginal,
sondern als Nyikina (Sam Cook), Warraimay (Victoria Grieves) oder
Yawuru (Michael Jalaru Torres). Es ist wichtig zu erkennen, dass
Aboriginal-Gesellschaften genauso wenig statische und homogene
Einheiten sind wie andere Gesellschaften, sondern sich
ständig ändern und immer in Bewegung sind.
* Nationen werden in der Literatur häufig noch "Stämme" genannt. Das Wort "Stamm" sollte allerdings vermieden werden, weil darin seit Beginn der Kolonialzeit die Abwesenheit von "Zivilisation" mitgedacht wird.
Aus dem Niederländischen von Kathrin Bunge
[Zur Autorin] Marion Caris arbeitet als freiberufliche Übersetzerin in Berlin. Sie hat Verwandte in Australien und schon früh wurde ihr Interesse für den fünften Kontinent geweckt. Sie hat das Land mehrfach bereist und setzt sich mit der Position der Aboriginal People, mit denen sie gut vernetzt ist, auseinander.
Aus pogrom-bedrohte Völker 294 (3/2016).
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/austral/nordaus.html |
www.gfbv.it/3dossier/austral/burrup.html |
www.gfbv.it/3dossier/austral/aborig.html |
www.gfbv.it/3dossier/austral/abor-land.html
| www.gfbv.it/3dossier/austral/australdt.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2008/080213de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2-00/29-8-dt.html
in www: http://de.wikipedia.org/wiki/Aborigines
| www.creativespirits.info