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Die Verhaftung von Ratko Mladic

Überlegungen und Erschöpfung

Von Luca Leone

Bozen, Rom, 26. Mai 2011

Bosnia express Srebrenica. I giorni della vergogna Sarajevo, mon amour
Il sentiero dei tulipani Uomini e belve
Die Bücher von Infinito-Verlag über Bosnien.

Ich weiss nicht mehr, wie oft ich mich in diesen vergangenen 16 Jahren gefragt habe, wie ich wohl auf Ratko Mladics Verhaftung reagieren würde. Auch kann ich nicht mehr nachvollziehen, wie oft ich über ihn geschrieben habe und wie oft ich seinen Namen im Laufe meiner Buchvorstellungen erwähnt habe.

Ich war mir immer sicher, dass seine Verhaftung schwieriger als die seines Terrorkameraden und selbst ernannten Präsidenten der selbst ernannten Republika Srpska von Bosnien (Rs) Radovan Karadzic sein würde. Denn im Gegensatz zum billigen Poeten Karadzic kennt Mladic mehr Geheimnisse; denn für Slobodan Milosevic war er der wirklich Zuständige des bosnischen Schlachtens; denn er war es, der sich - mit all seiner Grobheit und Anmaßung - mit den ausländischen Gesandten und Vermittlern traf, die ihm unbeholfene Friedenspläne vortrugen während er selbst nur daran dachte, die bosnische Multikulturalität im Blut der muslimischen Bevölkerung zu ertränken. Und auch dachte er an die Aneignung von Land und Ressourcen, sozusagen als Folge der eklatantesten und vernichtendsten Kriegsaggression nach dem europäischen Zweiten Weltkrieg.

Nun wurde "der General" verhaftet - der Mann mit dem mittelmässigen Lebenslauf, der Bosnien Herzegowina um mindestens 40 Jahre zurückversetzt hat, der das Land materiell und kulturell dem Erdboden gleichgemacht hat. Und anstatt dass ich mich freue, fühle ich mich erschöpft. Sogar diese kurzen Zeilen kosten mich immense Anstrengung.

Ratko Mladic, dessen Namen soviel wie "junger Krieger" bedeutet, wurde am 12. März 1943 in Bozinovici, Westbosnien, geboren. Er diplomierte an der Militärakademie von Zemun und 1991, als Jugoslawien schon der Explosion nahe war, war Mladic nur einer der vielen Offiziere des Korps Pristina, das an der Grenze zu Albanien stationiert war. Nachdem er die Sezessionsforderungen der Krajina-Serben in Kroatien unterstützt hatte, wurde Mladic im Frühling 1992 zum Kommandanten der Armee der Republik Serbien (Rs) ernannt. Als er im November 1996 von seinem Amt als Generalstabskommandant abgesetzt wurde, war er bereits auf der Fahndungsliste des Internationalen Gerichtshofs für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien in Den Haag. Die Vorwürfe gegen Mladic lauten Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid. Auf sein Konto gehen die Planung und die konkrete Umsetzung des Genozids von Srebrenica, dem ungefähr 10.700 Menschen mit muslimischen Nachnamen zum Opfer fielen.

Das ist der schäbige Lebenslauf eines mittelmässigen Menschen, der nur dank dem Krieg und dem von ihm selbst geplanten und realisierten Blutbad in die Geschichte eingegangen ist - wie ein neuer kleiner Adolf Hitler. Es gibt Menschen, denen solch trauriger Ruhm genügt.

Das Warten auf seine Verhaftung war zermürbend: seit den Jahren unmittelbar nach dem Krieg von 1992-1995, als sich die französischen und russischen Soldaten umdrehten, um den Schlächter von Srebrenica ja nicht verhaften zu müssen, während all der Jahre, in denen Mladic von der Armee, von den Geheimdiensten und von serbischen und serbisch-bosnischen ultranationalistischen Politikern geschützt wurde. Bis vor einigen Jahren noch erhielt Mladic ein Monatsgehalt vom Heer, das nicht nur seine Person und seine Freiheit schützte sondern auch die barbarische Mythologie am Leben erhielt, die ultranationalistische Serben rund um seine grobe und blutrünstige Person gewoben hatten. Und wollte man ehrlich sein, dann müsste man aufhören von Ultranationalisten zu sprechen, sondern müsste sie beim Namen nennen : Nazis. Es wäre dann alles einfacher und vor allem klarer.

Erschöpfung also. In diesem präzisen Moment, in einem Italien, in dem nur wenige wissen, was genau dieser Mann vor unserer Haustüre angerichtet hat, kommen mir einige spontane Überlegungen, die zu äußern sinnvoll sein könnte. Und sei es auch nur, um seinen Verfechtern - auch in Italien gibt es viele davon - etwas Luft zu entziehen. Mladic's Anhänger werden jetzt ihrer kärglichen Machtlosigkeit wohl mit den üblichen Beleidigungen und informatischen Beschimpfungen Ausdruck verleihen. In diesem Feld sind sie ja wahre Meister, wie man dem neo-nationalsozialistischen Müll, den sie auf youtube laden, entnehmen kann.

Die erste Überlegung betrifft die Ankündigung, mit der der Präsident der serbischen Republik Boris Tadic (von vielen als gemäßigter Nationalist definiert) heute gegen Mittag seinen Landsleuten und der Welt angekündigt hat, Mladics Unauffindbarkeit sei zu Ende gegangen. "Ich glaube, dass die Verhaftung von Mladic unser land sicherer und glaubwürdiger macht. Ich bin stolz auf das Ergebnis und für Serbien ist es gut, dass dieses Kapitel seiner Geschichte geschlossen wurde. Und dass die Flucht Mladics zu Ende ist. Nun müssen seine Komplizen gesucht werden, auch unter den Mitgliedern der Regierung, jene, die es ihm all diese Jahre möglich gemacht haben, unterzutauchen. Wir werden Goran Hadzic verhaften. Ich glaube, dass Serbien nun die Türen zur Europäischen Union offen stehen."

Der serbische Präsident hat nur wenige Worte gebraucht, um eine Reihe von Wahrheiten aufzuzählen, die für jeden, der auch nur eine kleine Ahnung von der Geschichte dieses Erdteils hat, augenscheinlich sind. Zu aller erst ist es unumstritten, dass Mladic von Mitgliedern der Regierung und von hochrangigen Führungskräften des Heeres beschützt wurde. Wenn wir an die radikal nationalistischen Elemente in Tadics Regierung denken, könnten wir sogar sagen, dass dieser Schutz bis gestern aktiv war.

Dann muss irgendetwas ganz plötzlich geschehen sein. Das wiederum bedeutet, dass es in absehbarer Zeit - wenn nicht sogar in Kürze - wichtige Änderungen in der serbischen Regierung geben wird. Es bedeutet auch, dass Tadic nun eine wichtige Vorschaukarte für die gemäßigten Wähler, die bislang in ihn geglaubt haben, eingelöst hat. Diese Wähler, diese Männer und Frauen, die sich endlich von dem Albtraum der 90er Jahre befreien möchten, repräsentieren die große Mehrheit der serbischen Bürger und sie möchten mit neuem Optimismus un Freiheit in die Zukunft schauen. In eine europäische und nicht in eine pro-russische Zukunft. Die zweite Wahrheit, die sich in den Worten von Tadic versteckt, ist, dass noch viele, sehr viele Kriegsverbrecher im Umlauf sind, wie z.B. Arkans paramilitärisches Gesindel, und dass wir uns jetzt alle erwarten, dass die Handschellen noch oft zuschnappen und dass sich die Gefängniszellen füllen.

Die dritte Wahrheit betrifft die offenen Türen der EU. Die Aushändigung des bärtigen Karadzic im September 2008 hat die EU-Türschlösser gelockert und dazu geführt, dass zuerst Belgrad und dann auch Sarajevo die begehrten ASA (Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen) der EU unterschrieben haben. Nach der Aushändigung von Mladic an die internationale Justiz dürfte Serbiens EU-Beitritt nichts mehr im Wege stehen und dies dürfte dann für serbische Ultranationalisten und deren russische Verbündete einem KO-Schlag gleichkommen. Das wiederum könnte etwas wirklich Interessantes bewirken, und zwar die definitive Isolierung des ultranationalistischen und provokativen Milliardärs und Präsidenten der so genannten Republika Srpska Milorad Dodik, der noch immer an das aus dem 19. Jahrhundert stammende und vergammelte Projekt von Großserbien glaubt und in diesem Sinn zu den wohl letzten Befürwortern einer serbisch-bosnischen Unabhängigkeit gehört.

Schlussendlich lenken Tadics Worte unsere Aufmerksamkeit von der Balkanregion nach Holland, oder genauer gesagt nach Den Haag. Das Mandat des Internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien (ICTY) soll 2014 verfallen und bis heute scheinen nur wenige Mitglieder des UN-Weltsicherheitsrats daran interessiert, das Mandat zu verlängern. Dem Internationalen Gerichtshof bleiben also nur noch zweieinhalb Jahre. Um sich ein Bild von den Arbeitszeiten des ICTY zu machen, braucht man nur an den Fall Karadzic denken : trotz der amtlich reduzierten Anklagepunkte reichten die drei Jahre seit seiner Verhaftung nicht aus, um wenigstens eine Verurteilung in erster Instanz zu erreichen. Wenn das ICTY wirklich aufgelöst werden sollte, so wäre es doch wünschenswert, dass sowohl Karadzic als auch Mladic auch im Berufungsverfahren verurteilt werden würden (wobei natürlich zu hoffen ist, dass der kranke Mladic die vielen Jahre überlebt). Was hier von den Mächtigen der Welt verlangt wird, ist ein Neuanfang für das ICTY und für die internationale Justiz. Nach der Verhaftung von Mladic sprechen die Frauen von Srebrenica heute von einem "neuen Anfang". Die Frauen, die sehr viel erschöpfter sind als wir alle, wissen genau, dass der Schlächter von Srebrenica noch Freunde hat, und sie wissen auch, dass sie bis heute nur etwa ein Drittel ihrer von Mladic und seinen Leuten im Juli 1995 barbarisch gefolterten und umgebrachten Lieben finden und beerdigen konnten. Die Arbeit zur Wiedergutmachung hat also gerade erst angefangen - trotz der langen Zeit, die seit dem Krieg vergangen ist und trotz des vielen Leids, dass wohl nie vergehen wird.

Einen letzten Gedanken will ich den Vereinigten Staaten und im Spezifischen dem Präsidenten Barack Obama widmen, dessen letzte Europareise nur wenige Wochen nach Dodiks Referendumsdrohung stattfand. Mit seiner Drohung erhoffte sich Dodiks wohl die Untergrabung der Glaubwürdigkeit der Justiz und somit eine Spaltung von Bosnien-Herzegowina. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass sich gerade mit Obamas letzter Reise nach Europa etwas Wichtiges geändert hat und das Einverständnis zur Verhaftung von Mladic gekommen ist. Wenn es so wäre, hätte die Europäische Union, der Belgrad und Sarajevo mit anscheinendem Enthusiasmus beitreten möchten, wieder einmal ihre Unfähigkeit und aussenpolitische Inkonsistenz bewiesen. Für uns "Europäer" und für all jene die dieser sonderbaren und verstrittenen Familie beitreten wollen, handelt es sich hier keineswegs um einen unwichtigen Punkt: Er erinnert uns leider nur zu gut an die Inkonsistenz unseres armen und misshandelten Italiens.

Übersetzung von Sabrina Bussani

Luca Leone hat im Infinito-Verlag, u.a. veröffentlicht:
- Bosnia Express. Politica, religione, nazionalismo, mafia e povertà in quel che resta della Porta d'Oriente
- Srebrenica. I giorni della vergogna
- Uomini e belve. Storie dai Sud del mondo

Infinito-Verlag hat auch veröffentlicht:
- Sarajevo mon amour / Jovan Divjak; prefazione di Paolo Rumiz
- Il sentiero dei tulipani: Psiconazionalismo in Bosnia Erzegovina / Angelo Lallo; prefazione di Luca Leone; postfazione di Fadila Memisevic

Kontakt: Luca Leone, Infinito-Verlag direzione.editoriale@infinitoedizioni.it, www.infinitoedizioni.it