In: Home > DOSSIER > 100 Jahre Erfahrungen mit moderner Territorialautonomie. Offene Konflikte lösen mit Autonomie
Sprache: DEU
Thomas Benedikter
Bozen, 8. Juni 2021
Cameroon. Quelle: Mikrobolgeovn - Own work, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org.
Seit 2016 kämpfen im Nordwesten Kameruns Separatisten
gegen die Regierungskräfte. 2017 riefen sie eine eigene
Republik "Ambazonien" aus, die weltweit kaum jemand kennt,
geschweige denn anerkennt. Mehr als 3000 Menschenleben hat dieser
Konflikt schon gefordert und mindestens 700.000 Menschen sind aus
ihrer engeren Heimat geflohen. Das ganze Unheil hat seinen
Ursprung in der kolonialen Geschichte Kameruns im 20. Jahrhundert
und dem Scheitern des Föderalsystems 1972. Nach dem Ersten
Weltkrieg war Kamerun zwischen Großbritannien und
Frankreich aufgeteilt worden. Beide Kolonialmächte
drückten ihren jeweiligen Mandatsgebieten ihren kulturellen
Stempel auf: im Nordwesten wurde Englisch zur Amtssprache, sein
Rechts- und Bildungssystem orientierte sich am britischen
System.
Im restlichen Kamerun prägte Frankreich den Staatsaufbau,
das Recht und die Bildung. Mit der Unabhängigkeit Kameruns
1960/61 vereinigten sich die beiden Teile unter der Voraussetzung
der Bildung eines Föderalsystems mit zwei gleichberechtigten
Amtssprachen. Doch die Machtelite des französisch
geprägten Süden und Ostens setze sich durch, setzte auf
Zentralisierung, diskriminierte den englischsprachigen Nordwesten
und schaffte schließlich den Bundesstaat ab. Das musste zum
Konflikt führen, der immer noch andauert. Wenn ein
Föderalsystem mit zwei ungleichen Partnern nicht
funktioniert, böte sich eine Alternative an, die anderswo
gut funktioniert: eine Sonder-Autonomie für den
Nordwesten.
Erfahrungen mit Territorialautonomie gibt es schon ein
Jahrhundert lang. Am 24. Juni 1921 beschloss der Völkerbund
in Genf eine Sonderlösung für die schwedisch
besiedelten Åland Inseln, die zu Finnland gehören.
Ende 1917 hatten sich zwar fast alle Åländer für
die Vereinigung mit Schweden ausgesprochen, doch der
Völkerbund beließ es bei der finnischen
Souveränität über Åland. Die schwedische
Sprache und Kultur sollten geschützt bleiben, die Bewohner
sich selbst regieren und der ganze Archipel neutralen und
demilitarisierten Status erhalten. Drei Tage später
hießen Finnland und Schweden diesen Kompromiss offiziell
gut. Am 9. Juni 1922 trat der frei gewählte Landtag
(Lagting) erstmals zusammen. Deshalb feiert Åland vom Juni
2021 bis zum 9. Juni 2022 "Hundert Jahre Autonomie".
Ålands Autonomie gehört heute zu den umfassendsten
aller heute bestehenden rund 60 Territorialautonomien. Auf
Åland ist nur Schwedisch Amtssprache, das Bildungssystem
einsprachig, die Staatssprache ein Wahlfach. Schon daran wird
erkennbar, dass Åland einen Sonderfall unter den autonomen
Regionen bildet, die ansonsten meist mehrsprachig sind. Die
Inseln sind komplett demilitarisiert, Polizei, Post Rundfunk-TV
sind Landessache. Åland hat nicht nur einen eigenen Sitz im
Nordischen Rat auf Augenhöhe mit den skandinavischen
Staaten, sondern mit dem hembygdsrätt (Heimatrecht) auch
eine Art Regionalbürgerschaft. 1951 und 1991 ist die
Åland -Autonomie weiterentwickelt worden, und eine weitere
Reform steht derzeit an. Doch heute schon genießt
Åland Rechte von der andere autonome Regionen nur
träumen können.
Territorialautonomie ist eine Form der Organisation staatlicher Machtverteilung primär zur Regelung des Verhältnisses zwischen Zentralstaat und einer oder wenigen besonderen Teilgebieten. Beim Staatsaufbau spricht man heute vom Mehrebenensystem, vor allem in Bezug auf die EU mit ihren vier Ebenen der Gesetzgebung und Verwaltung. Doch in den meisten der Erde gibt es kein Mehrebenensystem, im besten Fall nur zwei: den Zentralstaat und eine substaatliche Ebene der Kreise oder Kommunen. Mit Ausnahme der weltweit 24 Staaten, die eine bundesstaatliche Verfassung haben, gibt es die Zwischenebenen der Regionen mit Gesetzgebungshoheit nur in Ausnahmefällen. Auch Territorialautonomie als Ausnahmeregelung ist nur relativ selten zur Anwendung gelangt, nämlich in etwa 70 Fällen in 25 Ländern, wobei einige frühere Autonomiesysteme heute nicht mehr bestehen. Das bestimmende Staatsmodell ist immer noch der Einheitsstaat, und im Jahr 2020 nur in 110 Fällen mit einem demokratischen System (Freedomhouse, 2021). Trotz der guten Ergebnisse von Dezentralisierung, Subsidiarität und Regionalisierung bleibt die Bereitschaft der Zentralstaaten, Entscheidungsmacht an die Peripherie abzugeben, recht gering.
Der Schutz von sprachlichen und ethnischen Minderheiten liegt weltweit noch im Argen. Indigene Völker sind nicht nur in ihrer Kultur und Lebensweise, sondern oft in ihrer Existenz bedroht, wenn ihnen mit der Verfügung über Land und natürliche Ressourcen die wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen wird. Sprachminderheiten in Industrieländern fehlt oft der rechtliche Rahmen, um umfassenden Schutz und Weiterentwicklung zu gewährleisten. Dass allein Sprachenrechte und ein individuelles Diskriminierungsverbot den nötigen Schutz der Minderheitensprachen nicht bieten können, ist erwiesen. Erst kollektive Schutzmechanismen auf dem angestammten Siedlungsgebiet bieten den Rahmen für volle Gleichberechtigung mit den dominanten Sprachen bzw. der Staatssprache. Diesen Rahmen bildet z.B. ein eigener Gliedstaat eines Bundesstaats, aber auch eine Territorialautonomie, in welcher mehrere Sprachen als gleichberechtigte Amtssprachen anerkannt werden. Autonomie wird auch deshalb als Königsweg des Minderheitenschutzes angesehen, weil die Multiplizierung von Staaten nicht die Lösung sein kann, der kulturellen Vielfalt gerecht zu werden. Es gibt weltweit zwischen 3.000 und 5.000 lebendige Sprachen. Um allein der Mehrheitsbevölkerung von Regionen mit solchen Sprachen kulturelle Eigenständigkeit zu verschaffen, müssten zu den bestehenden 195 Staaten mindestens 525 weitere Staaten geschaffen werden (Stephen Ryan, 1997, 2). Territorialautonomie ohne Sezession ist eine gangbare Alternative, allerdings nur dann, wenn sie so ausgestaltet ist, dass Kultur, Sprache, Lebensweise, Identität und wirtschaftliche Lebensgrundlagen der betroffenen Minderheit oder des kleineren Volks auf Dauer geschützt sind.
Autonomie bringt die politische Macht näher zu den Bürgern und Bürgerinnen. Damit wird ein Raum für regionale Demokratie begründet, in welcher Bürgerbeteiligung und Kontrolle von unten weit besser funktionieren als in Einheitsstaaten ohne Regionen oder Bundesländer mit Gesetzgebungshoheit. Autonomie verschafft besonderen Regionen mehr politische Eigenständigkeit und erlaubt die Selbstregierung der Bevölkerung einer Region, die dennoch rechtlich und politisch in den Staatsverband integriert bleibt. Ohne Demokratie kann man von keiner echter "Eigengesetzgebung" (autos, nomos) sprechen. Doch wo mehrere ethnisch-sprachliche Gruppen zusammenleben - und das ist in der Mehrheit der heute autonomen Regionen der Fall - muss gemeinsam regiert werden: Konkordanzdemokratie ist das aus der Schweiz stammende Schlagwort, das dort nicht so sehr aus ethnischen, sondern aus urdemokratischen Gründen seit der Staatsgründung 1848 angewandt wird. Das sorgt für den nötigen demokratischen Ausgleich und verhindert, dass Territorialautonomie zu einem ethnisch exklusiven Raum wird, also zum ethnischen Reservat.
In den meisten der seit 1921 geschaffenen autonomen Regionen
hat sich diese besondere Form der Machtteilung zwischen einer
Region und dem Zentralstaat bewährt. Nur wenige dieser
Regionen streben heute die Loslösung vom
Zugehörigkeitsstaat an, weil Autonomie in einem Prozess
nationaler Emanzipation nicht mehr reicht wie Katalonien,
Schottland und Irakisch-Kurdistan. Wenn auch nicht ohne Konflikte
so hat sich Autonomie als Instrument der Konfliktlösung und
des Minderheitenschutzes bewährt. Doch Autonomie muss auch
neuen Anforderungen angepasst werden, wie in Südtirol, wo
der Reformbedarf schon seit Jahren klar auf dem Tisch
liegt.
Territorialautonomie wird in seinem Potenzial, offene
innerstaatliche Konflikte zu lösen und Minderheiten zu
schützen immer noch stark unterschätzt. Weltweit haben
sich erst 19 Staaten durchgerungen, einen solchen Sonderstatus
zuzulassen. Drei Viertel der Staaten kennen überhaupt keine
Dezentralisierung. Die dominierende Form ist immer noch der
Einheitsstaat. Auf dem Hintergrund zentralistischer
Staatsdoktrinen der meisten Staaten steht Autonomie unter dem
Generalverdacht, der erste Schritt zur Sezession zu sein. Das ist
geschichtlich widerlegt.
Heute kämpfen zahlreiche Minderheiten oder ganze
Regionalgemeinschaften um ein Mindestmaß an
Territorialautonomie, wie etwa Korsika mit seiner seit 2015 klar
autonomistischen Mehrheit, und das vor allem von Ungarn
besiedelten Szeklerland in Rumänien. Doch weder in Paris
noch in Bukarest will man von Autonomie etwas wissen. Für
gewaltsam ausgetragene Konflikte wie in Ambazonien (Kamerun),
Pattani (Thailand), Westpapua (Indonesien) und Rojava (Syrien)
wäre Territorialautonomie die optimale Lösung.
Rojava, Syrien. Quelle: wikipedia/taz; Infografik: infotext.
In zahlreichen Staaten gibt es derzeit mit militärischer
Gewalt ausgetragene Konflikte zwischen der Staatsregierung und
regionalen Gemeinschaften, kleineren Völkern oder nationalen
Minderheiten (vgl. WIKIPEDIA: List of ongoing armed conflicts).
So werden die für 2019 und 2020 registrierten bewaffneten
Konflikte mit mehr als 100 Opfern in Kamerun, Süd-Thailand,
Ukraine, Türkei, Mali, Indien, in der DR Kongo und in Angola
durch ethnische Spannungen und Sezessionsbestrebungen verursacht.
In solchen Krisenregionen vermischt sich oft die politische
Auseinandersetzung um mehr Rechte für ein Teilgebiet mit
gewaltsamen Protesten radikalisierter Aufständischer und
terroristischer Gewalt gegen den Staat, der gewaltsam
zurückschlägt. Auch in Europa gibt es immer noch
ethnisch motivierte Gewalt, wie z.B. im Fall des Donbas-Beckens
in der Ostukraine, die zudem von außen geschürt wird.
Daneben streben mehrere Regionen auf politischer Ebene
Territorialautonomie an, während andererseits auch
bestehende autonome Regionen einen Selbstbestimmungsprozess mit
dem Ziel der Eigenstaatlichkeit eingeleitet haben.
Diese Konflikte sind oft auf die systematische Diskriminierung
und langjährige Unterdrückung ganzer Volksgruppen und
indigener Völker zurückzuführen. Einige Konflikte
haben ihre Wurzel in der neokolonialen Strategie jener Staaten,
die die europäischen Kolonialmächte beerbt haben wie
z.B. im Fall von Marokko, Indonesien, Indien, Kamerun und Chile,
ohne das vom Völkerrecht vorgesehene Selbstbestimmungsrecht
kleinerer Völker zu beachten. Andere Konflikte sind auf die
hochgradig zentralistische Struktur des Staats mit einer
nationalistischen Staatsdoktrin zurückzuführen, die
kleineren Völkern und ethnischen Minderheiten jegliche
Anerkennung, Schutz und Sonderrechte verwehrt (Thailand, Syrien).
Klassisches Beispiel für eine derartige Politik seit fast
100 Jahren ist die Türkei. Auch europäische Staaten
verharren in einer Doktrin des zentralistischen Nationalstaats
ohne echte Anerkennung für ethnische Minderheiten wie
Frankreich und Rumänien.
Sind nun bestehende Autonomie-Regelwerke auf andere, zum Teil
ähnlich gelagerte Konfliktlagen übertragbar? Kann
Territorialautonomie als Lösung für offene Konflikte
zwischen einem Staat und einer seiner Regionen oder nationalen
Minderheiten, die in kompakter Form in ihrem angestammten Gebiet
leben, angewandt werden? Es ist legitim, Hypothesen darüber
zu entwickeln,
1. ob in einem bestimmten politischen Kontext
Territorialautonomie anwendbar ist;
2. welche Grundeigenschaften eine solche Autonomie im konkreten
Fall haben sollte, um den offenen Konflikt zu lösen;
3. welche erfolgreichen Einzelelemente (Regelungen) bestehender
Territorialautonomien auf den in Frage stehenden Konfliktfall
übertragen werden könnten.
Welche Verfahren, Institutionen, Regelungen im jeweiligen
Konfliktfall angewandt werden kann und soll, muss genau
geprüft werden, wobei es den Konfliktparteien - dem
Zentralstaat und der betroffenen Region bzw. Minderheit oder Volk
- naturgemäß nicht erspart bleibt, die unzähligen
Einzelheiten einer für den Einzelfall passenden
Autonomielösung auszuhandeln.
Bei einigen dieser schwelenden Konfliktherde kommt
Territorialautonomie als dauerhafte Konfliktlösung konkret
in Frage. Dies nicht etwa als bloß theoretisch-akademische
Überlegung, sondern aufgrund des Umstands, dass eine der
Konfliktparteien Territorialautonomie fordert oder der Staat eine
solche Autonomie als Ersatz für die Sezession anbietet. In
einigen wenigen Fällen hat der Staat bereits eine
funktionierende Territorialautonomie für andere
Minderheitenregionen eingerichtet, dasselbe in ähnlich
gelagerten Fällen jedoch verweigert (Indonesien,
Philippinen, Frankreich, Indien). Für eine ganze Reihe von
heutigen Konfliktgebieten steht Territorialautonomie auch deshalb
konkret zur Diskussion, weil
- Territorialautonomie in anderen Teilen des betroffenen Staats
bereits erfolgreich angewandt wird;
- Autonomie zumindest von den Vertretern einer der
Konfliktparteien begrüßt wird;
- Sezession nicht in Frage kommt, weil diese in multiethnisch
besiedelten Regionen zu verstärkten interethnischen
Spannungen und Gewalt führen würde;
- Grenzveränderungen zu internationalen Verwerfungen mit
Nachbarstaaten führen könnten.
Caracoles de Chiapas. Quelle: en.wikipedia.org. Autor: Mirrormundo, CC Attribution Share Alike 3.0.
Territorialautonomie setzt natürlich in all diesen
Fällen einen demokratischen Rechtsstaat voraus. In
Diktaturen und autoritär regierten Staaten könnte ein
Autonomie-Arrangement zwar die Gewalt beenden, eine demokratische
Regionalautonomie wäre per definitionem nicht möglich.
Demokratie auf Staatsebene wie auf regionaler Ebene bleibt
für eine echte Territorialautonomie unverzichtbar. Neben der
verfassungsrechtlichen Verankerung von Autonomie wäre es
aufgrund historischer Erfahrungen sehr hilfreich, die Autonomie
auch völkerrechtlich abzusichern, etwa indem ein
Nachbarstaat oder eine internationale Organisation (EU,
Europarat, AU, OAS, ASEAN, Arabische Liga) eingebunden
wird.
Weitere Beispiele für offene innerstaatliche Konflikte
zwischen der Zentralregierung einerseits und einem kleineren Volk
oder einer nationalen Minderheit, die kompakt in ihrem
angestammten Gebiet siedelt, finden sich in mehreren weiteren
Staaten. Verhandlungen zur Konfliktlösung in diesem Sinne
sind besonders in jenen Fällen dringend, wo weitere Gewalt
von beiden Seiten und Blutvergießen drohen.
Territorialautonomie kann als typische Kompromisslösung in
derartigen Selbstbestimmungskonflikten bezeichnet werden: die
Eigenständigkeit begehrende Region oder ethnische
Gemeinschaft verzichtet auf Sezession; der Staat verzichtet auf
die zentrale politische Steuerung und Kontrolle des Gebiets,
nicht jedoch auf seine Souveränität. Insgesamt
lässt sich beobachten, dass das
Konfliktlösungspotenzial von Autonomie unterschätzt
wird, während die Gefahr, Territorialautonomie könnte
der erste Schritt zur Unabhängigkeit sein,
überschätzt wird. Internationale Organisationen
könnten in diesen Fällen sowohl in der Schlichtung als
auch als Garantiemächte einer vereinbarten
Autonomielösung eine wichtige Rolle übernehmen.
Thailand. Quelle: BpB, mr-kartographie, creative commons.
Seit 100 Jahren kommt Territorialautonomie in allen
Kontinenten zur Anwendung, allerdings mit rund 60 autonomen
Regionen in 19 Staaten (Stand 2021) in relativ beschränkter
Zahl. Trotz vieler ethnisch bedingter innerstaatlicher Konflikte
ist Territorialautonomie somit auf globaler Ebene bisher
überraschend selten zum Einsatz gekommen. In einigen
Ländern steht die Loslösung von bisher autonomen
Regionen auf der Tagesordnung, in anderen streben regionale
Gemeinschaften bisher erfolglos Territorialautonomie an. Das
Konzept der Territorialautonomie hat in den ersten 100 Jahren
seiner Anwendung zahlreiche Konflikte dauerhaft lösen
können, indem Minderheitenschutz mit interner politischer
Selbstbestimmung (Gesetzgebung und Verwaltung) kombiniert wurde,
ohne Staatsgrenzen zu verändern. In den meisten der heute
rund 60 autonomen Territorien weltweit gibt es keine politischen
Mehrheiten für die Abspaltung und Eigenstaatlichkeit dieses
Gebiets.
Nicht nur Staaten sind in die Pflicht gerufen, den
Erfahrungsschatz der Territorialautonomie auszuwerten und
Autonomie in verschiedener Form zum Schutz ihrer Minderheiten in
Betracht zu ziehen. Auch die Staatengemeinschaft und die
verschiedenen Regionalorganisationen sind aufgerufen,
Territorialautonomie stärker in den Blick zu nehmen. Ein
internationales Abkommen zum Recht auf Autonomie könnte
präzise festlegen, unter welchen Umständen Völkern
oder ethnisch bestimmten Regionalgemeinschaften das Recht auf
interne und externe Selbstbestimmung zusteht und in welchen
Fällen eine international verankerte Territorialautonomie
die passende Lösung ist.
Zwei wesentliche Hindernisse für die Einführung von
Territorialautonomie zwecks Minderheitenschutz lassen sich auf
dem Hintergrund der ersten 100 Jahre moderne Autonomie deutlich
erkennen. Es ist zum einen der im jeweiligen
Staatsverständnis tief verwurzelte und meist
verfassungsrechtlich verankerte und staatlich geförderte
Nationalismus, der seine Entsprechung im stark zentralistischen
Staatsaufbau findet. Nationalistische Eliten des im jeweiligen
Staat dominierenden Mehrheitsvolks betrachten sowohl
Föderalismus als auch Territorialautonomie mit
größtem Misstrauen und verweigern die rechtliche
Anerkennung kleinerer oder indigener Völker und ethnischer
Minderheiten. Weit verbreitet ist das Phänomen des "banalen
Nationalismus" der Staaten, der die Autonomiebewegungen von
Minderheiten als nationalistisch und rückwärtsgewandt
diskreditiert, jedoch die strukturelle Dominanz des Staatsvolks
auf allen Ebenen ausblendet.
Zum anderen bildet die in vielen Staaten verbreitete
Befürchtung ein Hindernis, dass Territorialautonomie den
ersten Schritt zur Selbstbestimmung bedeute und langfristig die
Sezession dieses Teilgebietes befördere. Im Licht der
bisherigen 100 Jahre seit Einführung der ersten Autonomie
auf Åland entbehrt diese Befürchtung der Grundlage.
Autonomie hat nur in relativ wenigen Fällen nachfolgend zu
einem weiterführenden Prozess nationaler Emanzipation und
der Forderung nach Selbstbestimmung geführt. Das beste
Rezept dagegen ist Vertrauensbildung zwischen Staat und
Minderheiten sowie rechtliche Vorkehrungen, um
Selbstbestimmungsforderungen auszuschließen, solange die
staatlichen Verpflichtungen eingehalten werden und substanzielle
Selbstregierung gewährleistet wird. Mit einer klaren
Verankerung von Minderheitenrechten und Autonomiekonzepten
hätten viele Konflikte verhindert werden können. In
diesem Sinne wäre die Staatengemeinschaft aufgerufen,
Minderheitenrechte noch besser zu kodifizieren und
Territorialautonomie als eine "innere Form der Selbstbestimmung"
verfassungs- und völkerrechtlich zu regeln.
Weder Åland noch Südtirol noch andere
Territorialautonomien können für sich beanspruchen,
eine Blaupause zu bieten, die auf alle Konfliktfälle
übertragbar wäre. Jedes Autonomiestatut ist auf den
speziellen Fall zugeschnitten, jede ein Sonderfall mit speziellen
Antworten auf spezielle Problemlagen. Dennoch tritt aus den
bisherigen Erfahrungen ein klares Grundmuster hervor. Es muss
gelingen, einen Ausgleich zwischen Zentralstaat und Minderheiten
zu finden, und innerhalb der autonomen Region Konkordanz und
Grundkonsens zu finden. Minderheitenschutz als Grundwert,
innerstaatliche Vertrauensbildung, ein demokratischer
Rechtsstaat, völkerrechtliche Absicherung, wie in
Åland vorhanden, wären als Kontext optimal. Dann
könnten in den nächsten 100 Jahren etwas mehr als 19
Staaten diesen Schritt wagen, denn das Potenzial dieses
Instruments zur Lösung von innerstaatlichen Konflikten und
zum dauerhaften Schutz von Minderheiten und kleineren
Völkern ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.
Zur Vertiefung:
- Thomas Benedikter (2021), 100 Jahre moderne
Territorialautonomie - Autonomie weltweit, LIT,
Berlin/Münster, ISBN 978-3-643-25012-4 (br)
- Thomas Benedikter (2012), Moderne Autonomiesysteme - Eine
Einführung in die Territorialautonomien der Welt, EURAC,
Bozen
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/eu-min/safepack.html |
www.gfbv.it/3dossier/eu-min/finland.html |
www.gfbv.it/3dossier/eu-min/ukrain.html
| www.gfbv.it/3dossier/eu-min/medien.html |
www.gfbv.it/3dossier/eu-min/cata-eu.html |
www.gfbv.it/3dossier/eu-min/autonomy-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/eu-min/autonom.html |
www.gfbv.it/3dossier/3indice.html#eu-min
* www: www.minority-safepack.eu |
www.fuen.org | www.ciemen.cat