Von Mateo Taibon
Bozen, 18. Dezember 2003
Es ist jedes Jahr das gleiche, beschämende Theater. Kein
politischer Exponent des Landes will für die jüdischen
Opfer des Nazi-Terrors eine offizielle Entschuldigung, keiner ein
Wort des Bedauerns aussprechen, keiner auch nur stumm an einer
Gedenkveranstaltung teilnehmen. Seit 60 Jahren verdrängt
Südtirol seine Mittäterschaft am Holocaust. Die
Südtiroler hatten 1943 die Truppen der deutschen Wehrmacht
überschwänglich begrüßt; gewöhnlich
wird dies damit begründet, dass die Südtiroler nach 20
Jahren Unterdrückung durch den italienischen Faschismus die
Befreiung gekommen sahen. Eine zu kurze und zu einfache
Erklärung, die generelle Gutgläubigkeit voraussetzt und
den Umstand übergeht, dass der Nationalsozialismus in
Südtirol eifrige Anhänger fand. Nach dem Einmarsch
begann der Leidensweg für die jüdische Gemeinde in
Meran, aber auch für Sinti und Roma, Wehrdienstverweigerer
und Dissidenten. Der Südtiroler Ordnungsdienst SOD und der
SS-Sicherheitsdienst verhafteten Juden, die im KZ von Auschwitz
ermordet wurden. Die Wohnungen der Juden wurden von den Nachbarn
geplündert, jüdisches Eigentum wurde "arisiert".
In der gesamten Nachkriegszeit hat sich die Südtiroler
Politik so aufgeführt, als wäre das Eigentum der
Meraner Juden nie geraubt, als wären keine Juden in die
Todeslager des Dritten Reichs deportiert worden. Es gab nie eine
Entschädigung, keine moralische Wiedergutmachung, kein
Zeichen der Reue und der Versöhnung. Den von den Nazis
ermordeten 50 Meraner Juden wurde sogar das Andenken verweigert:
Sie scheinen in der Südtiroler Opferliste nicht auf. Die
offizielle Geschichtsschreibung hüllte einen Mantel des
Schweigens um die NS-Mittäterschaft und deren jüdische
Opfer. Es wurden zwar, nach einem langen Anlauf, deutschsprachige
Wehrdienstverweigerer wie Josef Mayr-Nusser gewürdigt oder
aber der KZ-Insasse Franz Thaler, doch von den ermordeten Juden
kein Wort, kein Wort auch über die Südtiroler
Täter. NS-Mittäterschaft war kein Hindernis für
eine politische oder wirtschaftliche Karriere. Unter dem
Deckmantel des Minderheitenschutzes für die deutsche
Sprachgruppe (die ladinische wurde meist ausgeklammert) hatte man
allzu große Nachsicht mit dem deutschen Nationalismus bis
hin zur Nazi-Ideologie - man war auf einem Auge blind.
Auch juridisch hat die Aufarbeitung nicht stattgefunden: Keine
der Südtiroler Lager-Wachen wurde bestraft, keiner der
Dorf-Hitlers zur Verantwortung gezogen. Das Bozner Sondergericht
beschäftigte sich zwischen 1945 und 1947 mit 518 Fällen
von NS-Kollaboration, es gab aber nur 63 Urteile, 27 davon waren
Freisprüche.
Seit Ihrer Gründung weist die Gesellschaft für bedrohte
Völker auf die NS-Mitschuld Südtirols hin und fordert
von der Politik Schritte zu deren Aufarbeitung. Die Antwort war
bisher nur Schweigen. Oder aber peinliche Ausreden.
Anlässlich des 60. Jahrestages des Einmarsches der deutschen
Wehrmacht in Südtirol (8. September 1943) machte die GfbV
erneut auf den verdrängten Abschnitt Südtiroler
Geschichte aufmerksam. Erbärmlich war die Reaktion des
Obmanns der Südtiroler Volkspartei Siegfried Brugger, der
mit Umdeutung der Presseaussendung der GfbV reagierte: Seine
Partei habe immer die Initiativen der GfbV unterstützt (was
nicht stimmt) und fühle sich nicht verpflichtet, auf die
"Behauptungen der GfbV" zu antworten - die NS-Mittäterschaft
ist aber nicht eine Behauptung der GfbV. Eine Verurteilung des
von Südtirolern an den Juden verübten Unrechtes brachte
er nicht über die Lippen. Auf die Südtiroler
Mittäterschaft am Holocaust angesprochen meinte Brugger, man
müsse vom Faschismus sprechen und bestätigte noch
einmal die Unart, Geschichte ethnisch zu schreiben: Es werden
jeweils nur die bösen Taten der anderen Seite
angeführt, die eigenen Untaten aber werden verschwiegen. In
dieser Geschichtsinterpretation werden die deutschen
Südtiroler - gemeinhin als "die Südtiroler" bezeichnet
- ausschließlich in der Rolle der Opfer gezeichnet,
Täterschaft und Mittäterschaft in Abrede gestellt oder
ignoriert.
Erstaunlich ist neben diesem Starrsinn die Heuchelei, mit der
sich die Südtiroler Politik zu Wort meldet, wenn es um das
Unrecht geht, das andere begangen haben. Nur wenige Tage nach
diesem unwürdigen Auftritt meldete sich Siegfried Brugger
entrüstet zu Wort, als Berlusconi Benito Mussolini mit den
Worten verteidigte, dieser hätte "niemanden umgebracht". Nun
belehrte er Berlusconi über die "Verfolgung der Juden auch
in Italien". Davon, dass Südtiroler Juden von
Südtiroler Nazis in die KZs geschickt worden waren, wieder
kein einziges Wort. Die GfbV warf daraufhin Brugger
Scheinheiligkeit vor und forderte ihn auf, einmal zu
erklären, warum Mittäter am Holocaust in seiner Partei
unbehelligt politische Karriere machen konnten. Auch diesmal
erhielt die GfbV keine Antwort.
Die Krönung in der Angelegenheit blieb allerdings
Landeshauptmann Luis Durnwalder vorbehalten. Für die
Erinnerung hätte man "zu wenig Zeit", meinte Durnwalder.
Jener Durnwalder, der bei zahlreichen Volksfesten zugegen ist und
somit zeigt, dass ihm Bier anzapfen wichtiger ist als die
Erinnerung an die Südtiroler Juden. Wie er diesen
Geschichtsabschnitt wertet, hatte Luis Durnwalder schon vorher
eindrücklich in einem Skandalinterview bewiesen, dem jedoch
kein Skandal folgte. "Die Südtiroler haben gelitten wie die
Juden", hatte er einem italienischen Journalisten gegenüber
behauptet. Die GfbV kritisierte diese Verharmlosung des Holocaust
(Südtiroler haben vielmehr jüdische Mitbürger in
den Tod geschickt), blieb jedoch weitgehend allein und vor allem
unbeachtet, denn der größte Teil des Journalismus tat
so, als wäre nichts geschehen. Verharmlosung des Holocaust
geht in Südtirol als Kavaliersdelikt durch. Auch Durnwalder
brachte kein Wort des Bedauerns für das Unrecht über
die Lippen, das den Meraner Juden angetan wurde, und kein Wort
der Verurteilung der Südtiroler Mittäter, nicht einmal
das Eingeständnis des Unrechtes. Beim jährlichen
Gedenktag der jüdischen Gemeinde in Meran war der
Landeshauptmann bisher nicht anwesend. Er sei nicht eingeladen
gewesen, so die Begründung. So wird denn seit Jahren auf
privater Ebene der Meraner Juden gedacht, die in den KZs ermordet
wurden. Die Politik hat sich bis heute dem Thema verweigert.
Aus "pogrom / bedrohte Völker" (Nr. 221 - 5/2003).