Von Juliane Wetzel
Bozen, 22. März 2004
Der Antisemitismus steht aus
gutem Grund heute mehr denn je auf der Agenda auch
internationaler Institutionen - so fand im Juni 2003 in Wien zum
ersten Mal in der Geschichte eine OSZE-Konferenz
ausschließlich zum Thema Antisemitismus statt. Ende April
2004 werden sich Vertreter der 55 Mitgliedsstaaten und
Nichtregierungsorganisationen in Berlin erneut treffen, um
über mögliche Gegenstrategien zu beraten. Der deutsche
Bundestag kam am 11. Dezember 2003 zusammen, um aus aktuellem
Anlass (Hohmann-Affäre) antisemitische Tendenzen zu
debattieren. In einem von allen Fraktionen vorgelegten
Entschließungsantrag erklärte das Parlament,
"antisemitisches Denken, Reden und Handeln haben in Deutschland
keinen Platz". In Frankreich erklärte Präsident Jacques
Chirac nach dem Brandanschlag auf eine jüdische Schule bei
Paris im November 2003, wer solche Übergriffe verübe,
greife die gesamte Nation an.
Spät reagiert die politische Klasse auf einen Anstieg
insbesondere gewalttätiger Übergriffe auf Juden, die in
engem Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt stehen. Seit Beginn
der Zweiten Intifada im Oktober 2000 hat sich gezeigt, dass
dieser Konflikt und seine Medienpräsenz in vielen
europäischen Ländern einen Mobilisierungseffekt auf
latent vorhandene antisemitische Einstellungen ausübt. Die
Radikalisierung des Konflikts und insbesondere die Ereignisse in
Dschenin und Bethlehem im April 2002 haben eine antisemitische
Welle ausgelöst, deren Ausmaße in Frankreich, Belgien,
den Niederlanden und Großbritannien am deutlichsten zu
spüren waren. In diesen Ländern waren nicht nur verbale
Angriffe und Beleidigungen gegen Juden zu verzeichnen, wie wir
sie - mit wenigen gewalttätigen Ausnahmen - für
Deutschland, Österreich und Italien im letzten Jahr
feststellen konnten, sondern auch tätliche Attacken gegen
Personen und Institutionen. Am wenigsten betroffen waren Irland
und Luxemburg, Portugal und Finnland, die außer einigen
antisemitischen Briefen und Schmierereien keine Übergriffe
zu verzeichnen hatten. In Griechenland, wo insbesondere in den
Massenmedien antisemitische/antizionistische Stereotypen bedient
wurden, kam es vermehrt zu Schändungen jüdischer
Friedhöfe und Mahnmale. Verübt wurden diese Taten von
Rechtsextremen, allerdings waren auch im politischen Mainstream
und in der Presse durchaus antisemitische Vorurteile virulent. In
Spanien, das laut Umfragen (durchgeführt von der
Anti-Defamation League - www.adl.org - in neun
Mitgliedsländern der EU sowie in der Schweiz im Juni bzw.
Oktober 2002) den höchsten Wert antisemitischer
Einstellungen aufweist, zeigte die traditionell starke
Präsenz von Neo-Nazigruppen erneut ihre Auswirkungen.
Auch in den osteuropäischen Staaten sind rechtsextreme
Gruppierungen hauptverantwortlich für antisemitische
Anschläge, so wurden etwa in Polen 2002 Brandstiftungen an
Synagogen sowie Friedhofsschändungen mit rechtsextremem
Hintergrund verzeichnet. In Weißrussland wurden im Juli
2002 70 Grabsteine der jüdischen Friedhöfe in Minsk und
Borisov zerstört. In Litauen, Lettland, Rumänien,
Slowakei, Tschechien, Moldawien und Russland kam es zu
ähnlichen Übergriffen. Die Verwendung von Hakenkreuzen,
Friedhofsschändungen und etwa Hitlers Geburtstag als
willkommenes Datum für solche Taten, aber auch die
Verwendung der deutschen Sprache zur Diffamierung von Juden (in
Bukarest im Oktober 2002 - "Achtung Juden") weisen auf die
Korrelation mit rechtsextremen Gedankengut und die
Revitalisierung nationalsozialistischer Ideen hin.
Das dominierende Motiv des heutigen Antisemitismus ist noch immer
das der jüdischen Weltverschwörung, d.h. die Annahme,
Juden kontrollierten - sei es mittels Finanz- oder Medienmacht,
sei es über verdeckten politischen Einfluss vor allem auf
die USA, aber auch auf europäische Länder - das
Weltgeschehen. Dabei spielen religiöse, wirtschaftliche,
politische, kulturelle und soziale Gründe in ihren vielen
Facetten eine Rolle. Verbreitungsmechanismen sind Gerüchte
und Legenden, die in Form von verbalen Äußerungen,
Zeitungen und Zeitschriften, Pamphleten, Flugblättern,
Graffiti, Videos und über das World Wide Web transportiert
werden. Darüber hinaus lässt sich in ganz Europa eine
Zunahme von antisemitischen Karikaturen feststellen, die nicht
nur über die einschlägigen Homepages Verbreitung
finden, sondern auch in Mainstream-Tageszeitungen gedruckt
werden. Die italienische Tageszeitung "La Stampa" etwa
veröffentlichte ein Cartoon, das israelische Soldaten
zeigte, die um eine Krippe mit dem Jesuskind standen.
Bildunterschrift: "Die wollen mich doch nicht wieder
umbringen?"
Hier tauchen längst vergessen geglaubte religiöse
Motive der Judenfeindschaft wieder auf. Dies zeigte sich
besonders deutlich im Zusammenhang mit den Ereignissen in der
Geburtskirche in Bethlehem im Frühjahr 2002, als etwa alte
Stereotypen, wie die Juden hätten Jesus ermordet, wieder
thematisiert wurden. Aber auch Ritualmordbeschuldigungen sind
nicht aus dem antisemitischen Repertoire verschwunden, wenn etwa
in Saudi-Arabien, in einer geschickten Umkehrung des
ursprünglichen Vorwurfs, muslimische Jungs zu Opfern
angeblicher jüdischer Riten stilisiert werden.
Diese Vorurteilsmuster zeigen, dass es sich heute keineswegs um
einen neuen Antisemitismus handelt. Traditionelle Stereotypen
haben sich bis heute gehalten, tauchen jedoch in anderen
Konnotationen besonders mit verschwörungstheoretischem
Hintergrund immer wieder auf: Es wird unterstellt, die Juden
hätten die Weltwirtschaft in der Hand. Begriffe wie "das
internationale Judentum", "das Weltjudentum" werden benutzt, um
zu suggerieren, die Juden würden die Wirtschaft und
bestimmte Berufssparten (Banken, Film, Medien) dominieren oder
ganze Staaten unter Druck setzen. Diese Grundannahme wird zur
"Erklärung" ganz unterschiedlicher Phänomene
herangezogen. So wird im europäischen Rechtsextremismus der
Holocaust geleugnet und als Machenschaft der Juden gedeutet,
andere Völker zu erpressen. Zudem negiert die These von der
"Auschwitz-Lüge" auch die historische Notwendigkeit der
Gründung des Staates Israel als Heimstätte für die
Überlebenden des Holocaust und für Juden generell.
Genau an diesem Punkt wird diese rechtsextreme Propaganda
für radikale islamistische Gruppen in ihrem Kampf gegen
Israel ideologisch verwendbar, da sich mit der
"Auschwitz-Lüge" der Opferstatus und das Existenzrecht
Israels negieren lassen. Hier hat ein Lernprozess stattgefunden,
in dem "revisionistisches" Gedankengut, das früh und sehr
prominent von französischen Intellektuellen propagiert
(zuletzt François Garaudy) und durch sie in der arabischen
Welt verbreitet wurde, wieder nach Europa
zurückfindet.
Dieser arabisch-muslimische Antisemitismus/Antizionismus hat via
Satellitenfernsehen, Web und die in Europa erscheinende arabische
Presse Eingang in die Gedankenwelt vor allem
arabisch-muslimischer Jugendlicher gefunden, die in Ländern
mit einem großen Anteil arabischer Zuwanderer die Juden als
Sündenböcke für ihre eigenen sozialen und
gesellschaftlichen Probleme sehen und ihren Hass gegen die Juden
des Landes richten. Solche Vorurteile - nicht selten gepaart mit
Antiamerikanismus - haben momentan europaweit Konjunktur, sie
werden von Rechtsextremisten gleichermaßen wie von extremen
fundamentalistischen Islamisten, aber auch von Teilen der
radikalen Linken und Globalisierungsgegnern benutzt, um für
die Ereignisse im Nahen Osten die Juden in der Welt
verantwortlich zu machen.
Öffentliche Debatten zeigen, dass die legitime Kritik an der
aktuellen israelischen Politik eine Grenzlinie überschreiten
kann, indem antisemitische Stereotypen bis weit in die Mitte der
Gesellschaft Eingang finden in die Argumentation. Künstliche
Tabus, die ein Verbot jeglicher Kritik an der israelischen
Politik unterstellen, werden benutzt, um unter dem Mantel der
Meinungsfreiheit antisemitische Inhalte zu transportieren. Nicht
nur, wenn das Existenzrecht des Staates Israel in Frage gestellt
wird, sondern auch, wenn sich eine wie auch immer berechtigte
Kritik an der Politik der israelischen Regierung gegen alle Juden
in der Welt oder gegen Staatsbürger in den verschiedenen
Ländern richtet, wird die Grenze zum Antisemitismus
überschritten. Dies gilt auch, wenn Israels Vorgehen gegen
die Palästinenser mit dem nationalsozialistischen Genozid an
den Juden gleichgesetzt wird und die einstigen Opfer zu
Tätern deklariert werden.
Aufgrund der Pluralität von Akteuren und Motiven entspricht
die Verteilung antisemitischer Manifestationen nur teilweise
denjenigen früherer Jahre. So ereignen sich heute
antisemitische Übergriffe in Ländern wie Schweden,
Dänemark und den Niederlanden, die bis in die 90er Jahre
kaum solche Ereignisse kannten und in denen laut Umfragen
antisemitische Einstellungen auch aktuell noch wenig verbreitet
sind. In Deutschland, in dem seit den 90er Jahren jährlich
eine große Zahl antisemitischer Straftaten zu verzeichnen
ist, manifestierte sich der Antisemitismus seit 2000 weniger in
einer hohen Zahl von tätlichen Übergriffen, als
vielmehr in Propagandadelikten und in einer Flut antisemitischer
Briefe an die Jüdische Gemeinden und prominente Juden, die
keinesfalls nur aus dem rechtsextremen Spektrum stammen.
Die Entwicklung in einigen EU-Ländern legt den Schluss nahe,
dass es heute legitim, manchmal sogar en vogue erscheint, eine
anti-israelische Haltung einzunehmen. Damit schleichen sich
antisemitische Denkstrukturen mehr und mehr in den
öffentlichen und privaten Diskurs ein und werden von
Gesellschaft, Politik und Presse seltener thematisiert und
kritisiert. Auf diese Weise steigt die Akzeptanz antisemitischer
Stereotype nahezu unbemerkt an.
Info
Der Artikel basiert auf den Ergebnissen der Studie
"Manifestations of Anti-Semitism in the European Union - First
Semester 2002 - Synthesis Report", den Juliane Wetzel,
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für
Antisemitismusforschung, TU Berlin, zusammen mit Prof. Werner
Bergmann für das European Monitoring Centre on Racism and
Xenophobia/Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) in Wien 2002 verfasst hat und der
bis November 2003 von der Beobachtungsstelle aus politischen
Gründen unter Verschluss gehalten wurde. Ein Artikel in der
Financial Times am 16. November 2003, der die "Verschlusssache"
aufdeckte, hat weltweites Interesse ausgelöst. Nachdem der
World Jewish Congress, die Vereinigung der Jüdischen
Gemeinden Frankreichs und der EU-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit
sowie einige internationale Presseorgane die Studie in der ersten
Dezemberwoche auf ihren Webseiten zugänglich gemacht haben,
hat auch das EUMC auf den öffentlichen Druck reagiert und am
4. Dezember die Studie selbst ins Netz gestellt, allerdings ohne
das Vorwort, gezeichnet von Beate Winkler und dem Vorsitzenden
des Management Boards des EUMC Bob Purkiss, das die
Veröffentlichungsabsicht unterstreicht, die heute vom EUMC
geleugnet wird. Die Studie kann auf der Webseite
www.cohn-bendit.de eingesehen werden. Eine Stellungnahme des
Zentrums für Antisemitismusforschung und der Autoren
befindet sich auf der Webseite des ZfA www.tu-berlin.de/~zfa.
Aus "pogrom / bedrohte Völker" (Nr. 223 - 1/2004).