In: Home > DOSSIER > Israel/Palästina: Pressemitteilung der Vereinten Nationen vom 15.09.2009
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Elfi Klabunde
Bozen, Göttingen, New York, Genf, 6. November 2009
29. Dezember 2008: Israelische Panzer am Gazastreifen. Foto: Amir Farshad Ebrahimi (flickr.com).
Die UN-Untersuchungskommission, welche von Richter Richard
Goldstone geleitet wurde, hat am 15. September 2009 ihren lange
erwarteten Bericht zum Gaza-Konflikt veröffentlicht. Sie
gelangt zu dem Ergebnis, dass es Indizien für
ernstzunehmende Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des
humanitären Völkerrechts durch Israel im Gaza-Konflikt
gibt und, dass Israel Taten begangen hat, die bis hin zu
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehen.
Der Bericht listet ebenfalls Beweise dafür auf, dass
bewaffnete Gruppen in Palästina durch den wiederholten
Abschuss von Raketen und Mörsern nach Südisrael
Kriegsverbrechen begangen haben, sowie möglicherweise
Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die vier Mitglieder der Kommission* wurden im April 2009 vom
Präsidenten des UN-Menschenrechtsrats ernannt und mit
folgendem Mandat ausgestattet: "Jegliche Verletzungen von
internationalen Menschenrechtsbestimmungen und humanitärem
Völkerrecht zu untersuchen, die in jeglichem Zusammenhang
(zuvor, während oder danach) mit den militärischen
Operationen standen, die im Zeitraum zwischen dem 27.12.2008 und
dem 18.01.2009 statt gefunden haben."
Für die Erstellung des 574-seitigen Reports, welcher eine
detaillierte Analyse von 36 Vorfällen in Gaza sowie einigen
Vorfällen im Westjordanland und Israel beinhaltet, hat die
Kommission 188 Einzelinterviews geführt, mehr als 10.000
Seiten an Dokumentationsmaterial, 1.200 Fotos (inklusive
Satellitenbilder) und 30 Videos ausgewertet. Die Kommission
wohnte 38 Zeugenaussagen in zwei verschiedenen öffentlichen
Anhörungen in Gaza und Genf bei, welche in voller Länge
ins Internet gestellt wurden. Die Entscheidung, die Verhandlungen
mit den Betroffenen aus Israel und dem Westjordanland in Genf und
nicht im Nahen Osten durchzuführen, war nötig, da
Israel der Kommission den Zugang zu den beiden Orten verwehrt
hatte. Israel weigerte sich außerdem, eine Liste von Fragen
zu beantworten, die dem Staat durch die Kommission gestellt
wurden. Palästinensische Behörden sowohl in Gaza als
auch im Westjordanland kooperierten mit der Kommission.
Eine ehemalige Polizeistation in Jenin, Palästina. Foto: Magne (flickr.com).
Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass Israel in den
Vorjahren des Militäranschlags auf Gaza eine Blockadepolitik
initiierte, die einer kollektiven Bestrafung gleichkam.
Außerdem verfolgte Israel eine Politik der systematischen
und fortschreitenden Isolation und Entbehrung im Gazastreifen.
Während der israelischen Militäroperation mit dem
Codenamen "Operation 'Gegossenes Blei'" wurden Häuser,
Fabriken, Brunnen, Schulen, Krankenhäuser, Polizeireviere
und andere öffentliche Gebäude zerstört. Viele
Familien leben immer noch inmitten der Trümmer ihrer
früheren Häuser - lange nachdem die Anschläge
vorbei sind -, da der Wiederaufbau aufgrund der andauernden
Blockade unmöglich ist. Mehr als 1.400 Menschen kamen
während der Militäroperation ums Leben.
Die Bevölkerung von Gaza hat beachtliche Traumata, sowohl
unmittelbar als auch längerfristig, erlitten. Der Bericht
spricht von Anzeichen schwerer Depressionen, Schlaflosigkeit und
anderen Auswirkungen z.B. Bettnässen bei Kindern. Die
Kommission fand heraus, dass die Kinder, die Zeugen von Morden
und Gewalt wurden, die dem Tod ins Auge blickten, und die
Familienangehörige verloren haben, noch lange unter den
Nachwirkungen leiden werden. Etwa 30 Prozent der Kinder, die in
Schulen des UN-Hilfswerks UNRWA (United Nations Relief and Works
Agency for Palestine Refugees in the Near East) befragt wurden,
litten unter psychischen Problemen. Die Kommission kommt zu dem
Schluss, dass die israelische Militäroperation gegen die
gesamte Bevölkerung Gazas gerichtet war. Sie sollte eine
Politik fördern, die darauf angelegt war, die
Bevölkerung Gazas zu bestrafen und die Zivilbevölkerung
absichtlich mit unangemessener Härte zu treffen. Die
Zerstörung von Einrichtungen zur Nahrungsmittelversorgung,
von Sanitäranlagen, Betonfabriken und Wohngebäuden war
das Ergebnis einer durchdachten und systematischen Politik.
Der Bericht weist darauf hin, dass israelische Handlungen, die
die Palästinenser im Gazastreifen ihrer notwenigen
Lebensmittel, Arbeit, Behausungen und Wasser berauben, die ihnen
ihre Bewegungsfreiheit und das Recht in ihr eigenes Gebiet ein-
bzw. auszureisen verwehren, die ihnen den Zugang zu einem Gericht
und zu Rechtsmitteln verwehren, ein sachverständiges Gericht
dazu bewegen könnten, eine Verfolgung festzustellen, welche
ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt. Es wird
betont, dass die Todesfälle und Zerstörungen aus der
Missachtung des grundlegenden Prinzips der "Unterscheidung"
resultieren, welches im internationalen Völkerrecht
verankert ist. Dieses Prinzip erfordert, dass die
Streitkräfte zwischen militärischen Zielen und
Zivilpersonen beziehungsweise zivilen Objekten unterscheiden.
Patroullierender Soldat in Hebron im Westjordanland. Foto: Rusty Stewart (flickr.com).
Der Bericht urteilt daher folgendermaßen: "Wenn man die
Fähigkeiten der israelischen Armee zu planen, die Mittel,
diese Pläne mit der bestmöglichen Technologie
auszuführen sowie Aussagen des israelischen Militärs
berücksichtigt, die besagen, dass fast keine Fehler
passierten, kommt die Kommission zu dem Schluss, dass die
Ereignisse und Ereignismuster, welche in dem Bericht untersucht
wurden, das Ergebnis von überlegten Planungen und
politischen Entscheidungen sind." In Kapitel neun des Berichts
beschreibt die Kommission beispielsweise eine Reihe von
Vorfällen, in denen die israelischen Streitkräfte
"direkte Angriffe auf die Zivilbevölkerung mit
tödlichem Ausgang" ausgeführten.
Diese sind Vorfälle, in denen kein gerechtfertigtes
militärisches Ziel vorlag und die deshalb als
Kriegsverbrechen eingestuft werden können. Die beschriebenen
Vorfälle beinhalten Anschläge im Samouni-Viertel, in
Zeitoun, südlich von Gaza Stadt sowie Bombardierung eines
Hauses, in dem palästinensische Zivilpersonen zuvor
gezwungen wurden sich zu versammeln. Sieben Vorfälle
betrafen "das Schießen auf Zivilpersonen, während sie
weiße Fahnen schwenkend versuchten, ihre Häuser zu
verlassen um sich an einem sicheren Ort in Rettung zu bringen; in
einigen Fällen wurden sie sogar von den Israelis gezwungen,
dies zu tun." Des Weiteren wird über einen Anschlag auf eine
Moschee zur Gebetszeit berichtet, der 15 Menschen das Leben
kostete.
Eine Reihe anderer Vorfälle, mit denen sich der Bericht
beschäftigt, könnten ebenfalls Kriegsverbrechen
darstellen, beispielsweise ein direkter, gezielter Anschlag auf
das Al Quds Krankenhaus und ein angrenzendes Krankenwagendepot in
Gaza Stadt. Der Bericht untersucht auch
Menschenrechtsverletzungen bei der Behandlung von
Palästinensern im Westjordanland, darin eingeschlossen
übermäßige Gewalt gegenüber
palästinensischen Demonstranten, die teilweise zum Tode
führte, zunehmende Schließungen, Beschränkungen
der Bewegungsfreiheit und Zerstörungen von Häusern.
Nach Angaben der Kommission lähmte die Inhaftierung von
Mitgliedern des Palästinensischen Legislativrats das
politische Leben in der Besatzungszone regelrecht.
Die Kommission kommt zu dem Ergebnis, dass die israelische
Regierung durch Verhöre von politischen Aktivisten und
Unterdrückung von jeglicher Kritik an den militärischen
Operationen Israels eine politische Atmosphäre geschaffen
hat, in der oppositionelle Meinungen nicht toleriert werden. Die
Untersuchungskommission kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass das
wiederholte Abfeuern von Raketen und Mörsern durch
palästinensische bewaffnete Gruppen nach Südisrael "ein
Kriegsverbrechen darstellt und möglicherweise auch als
Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden
könnte", da nicht zwischen militärischen Zielen und der
Zivilbevölkerung unterschieden wurde. Der Abschuss von
Raketen und Mörsern, die nicht ausreichend präzise auf
militärische Ziele gerichtet werden können, bricht mit
dem grundlegenden Prinzip der Unterscheidung zwischen
militärischen und zivilen Zielen. "Wenn kein angepeiltes
militärisches Ziel vorliegt und die Raketen und Mörser
auf Gebiete der Zivilbevölkerung abgeschossen werden,
stellen sie einen geplanten Anschlag auf die
Zivilbevölkerung dar."
Die Kommission urteilt, dass die Raketen- und
Mörseranschläge "in den betroffenen Gebieten in
Südisrael Terror verbreitet haben". Des Weiteren hatten sie
"Todesfälle sowie physische und psychische Verletzungen,
Zerstörung von Privathäusern, religiösen
Gebäuden und Besitz zur Folge. Hierbei wurden das
wirtschaftliche und kulturelle Leben der betroffenen Gemeinden
sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der
Bevölkerung schwer beeinträchtigt." Die Kommission
forderte von den bewaffneten palästinensischen Gruppen die
Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit aus
humanitären Gründen und forderte weiterhin, ihm die
vollen Rechte eines Kriegsgefangenen gemäß der Genfer
Konventionen zuzugestehen, darin eingeschlossen Besuche durch das
Internationale Komitee des Roten Kreuzes. Der Bericht
thematisiert auch schwere Menschenrechtsverletzungen, unter
anderem willkürliche Inhaftierungen und
außergerichtliche Hinrichtungen von Palästinensern
durch die Verantwortlichen in Gaza und die palästinensischen
Behörden im Westjordanland.
Der lang anhaltende Zustand der Straflosigkeit hat zu einer Krise
der Justiz in der palästinensischen Besatzungszone
geführt, die Handlungen erfordert. Nach Einschätzungen
der Kommission führte die israelische Regierung keine
glaubhaften Untersuchungen der mutmaßlichen Menschen- und
Völkerrechtsverletzungen durch. Die Kommission empfahl dem
Sicherheitsrat, Israel aufzufordern, den Vorkommnissen in den
nächsten sechs Monaten nachzugehen und zu den Untersuchungen
und den Strafverfolgungen, die laut dem UN-Bericht notwendig
sind, Stellung zu nehmen. Des Weiteren empfehlt die Kommission
dem Sicherheitsrat, ein unabhängiges Expertengremium
einzusetzen, welches die Fortschritte der israelischen
Untersuchungen und Strafverfolgungen überwachen soll. Falls
das Gremium innerhalb der nächsten sechs Monate keinen guten
Willen seitens der israelischen Regierung feststellen kann und
keine unabhängige Vorgehensweise beobachtet, sollte der
Sicherheitsrat die Situation in Gaza an den Ankläger des
Internationalen Strafgerichtshofes weiterleiten. Die Kommission
empfehlt, dass das gleiche Expertengremium auch die Handlungen
der entsprechenden Behörden in Gaza bezüglich der
Verbrechen, die von palästinensischer Seite begangen wurden,
überwachen soll. Genauso wie im Fall Israels sollen auch die
Ermittlungen bezüglich der Straftaten der
palästinensischen Behörden an den Ankläger des
Internationalen Strafgerichtshofes übergeben werden, falls
das Expertengremium nicht innerhalb der nächsten sechs
Monate guten Willen seitens der Verantwortlichen feststellt und
unabhängige, den internationalen Standards entsprechende
Untersuchungen eingeleitet werden.
Der vollständige Bericht ist unter http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/specialsession/9/FactFindingMission.htm zu finden.
* die Mitglieder der
Untersuchungskommission sind:
- Richter Richard Goldstone, Chef der Kommission; ehemaliger
Richter am Verfassungsgericht von Südafrika; ehemaliger
Ankläger der Internationalen Kriegsverbrecher Tribunale im
früheren Jugoslawien und in Ruanda.
- Prof. Christine Chinkin, Professorin für Völkerrecht
und Politikwissenschaft an der London School of Economics;
Mitglied der Untersuchungskommission zu Beit Hanoun (2008).
- Ms. Hina Jilani, Anwältin am Obersten Gerichtshof von
Pakistan; ehemalige Sondergesandte des Generalsekretärs
für Menschenrechtsverteidiger; Mitglied der internationalen
Untersuchungskommission zu Darfur (2004).
Herr Oberst Desmond Travers, ehemaliger Ofzier der irischen
Armee; Mitglied des Aufsichtsrates des Institute for
International Criminal Investigations.
Aus pogrom-bedrohte Völker 255 (4/2009).
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/dissens.html |
www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/stimme.html |
www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/frauer.html |
www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/watzal.html |
www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/avnery.html |
www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/neudeck.html
in www: www.nahostfriede.at | www.ejjp.org | www.semit.net | www.yeshgvul.org | www.nahostfocus.de | www.machsomwatch.org