In: Home > DOSSIER > Kurdistan: Was bezweckt Erdogan mit dem Einmarsch in Afrin in Syrisch-Kurdistan?
Sprache: DEU
Von Memo Sahin
Göttingen, Bozen, März 2018
Zynisch: Die Türkei nennt ihre Invasion "Operation Olivenzweig". In der Region um die syrische Stadt Afrin wachsen viele Olivenbäume. Foto:Johannes Schwanbeck/ Flickr BY 2.0.
Seit dem 20. Januar fliegen türkische Kampfjets über
die kurdische Enklave Afrin in SyrischKurdistan und bombardieren
kurdische Städte und Siedlungen, in denen über eine
Million Menschen leben. Am darauffolgenden Tag überquerten
türkische Bodentruppen in Begleitung von mehreren Hundert
islamistischen Kämpfern aus Syrien mit Panzern und schwerer
Kriegsmaschinerie die Grenze. Innerhalb von drei Wochen wurden
Hunderte Zivilisten getötet und Tausende verletzt sowie
Zehntausende mussten ihre Dörfer an der türkischen
Grenze verlassen. Die Türkei nennt ihre Invasion zynischer
Weise "Operation Olivenzweig".
Afrin ist ein Gebiet, in dem Millionen Olivenbäume wachsen.
Die Region versorgt nicht nur Syrien mit Oliven und
Olivenöl, sondern weitere Staaten der Region. Selbst die
Wahl des Namens der Invasion "Operation Olivenzweig" ist eine
Provokation. Viele kritisieren scharf, dass die Türkei das
Symbol des Friedens beschmutzt. Seit sieben Jahren tobt der Krieg
in Syrien. Erdogan hoffte auf einen schnellen Sieg seiner
Schützlinge, der Djihadisten, des IS (Islamischer Staat),
der Al Nusra-Front und der Moslembrüder. Obwohl die
islamistischen Banden von der Türkei, Saudi-Arabien, Katar
und einer Reihe von anderen islamischen Staaten militärisch,
logistisch, politisch und finanziell unterstützt wurden,
haben sie mit der Zeit alle Gebiete, die sie kontrollierten,
verloren. Islamistische Kämpfer sind derzeit in der Stadt
Idlib eingekesselt, die die Türkei protegiert.
Bis Januar diesen Jahres gingen die Bewohner in der friedlichen Enklave Afrin ihrem Alltag nach. Nun müssen sie die türkischen Luftangriffe fürchten. Foto: Kamal Sido.
Die Kurden in Syrien erklärten nach dem Ausbruch des
Bürgerkriegs in Syrien, dass sie keine der Kriegsparteien -
weder Syrien noch die islamistischen Organisationen -
unterstützen werden. Sie konzentrierten sich auf die
Verteidigung der kurdischen Gebiete und warben für eine
pluralistisch-demokratische Gesellschaft. Ab Sommer 2012
befreiten sie kurdische Siedlungen und installierten mit der
einheimischen ethnisch und religiös durchmischten
Bevölkerung Selbstverwaltungen. Mit der Zeit entstanden so
drei Kantone - Kobanê, Afrin und Cezire - entlang der
syrisch-türkischen Grenze.
Die ethnisch-religiösen Minderheiten wurden in die
Verwaltung mitaufgenommen. Neben Arabisch wurden auch Kurdisch
und Aramäisch als Amtssprachen eingeführt. Dank dieser
klugen Politik sind die von Kurden kontrollierten Gebiete vom
Krieg verschont geblieben, bis auf die Stadt Kobanê, die im
September 2014 mit Unterstützung der Türkei von Banden
des IS monatelang belagert und angegriffen wurde. Mit
großer Entschlossenheit haben kurdische
Selbstverteidigungskräfte die islamistischen Angreifer Ende
Januar 2015 aus Kobanê vertrieben und so den Beginn der
Niederlage des IS eingeleitet. Nachdem die kurdischen
Volksverteidigungskräfte (YPG) den IS aus Kobanê und
anderen Gebieten entlang der Grenze vertrieben hatten, wurden sie
von der Anti-IS-Koalition als Partner anerkannt. Neben den USA
pflegten eine Reihe von Staaten wie Frankreich mit den YPG gute
Kontakte. Die Amerikaner erleichterten mit ihren
Luftschlägen den Vormarsch der YPG-Einheiten nach Rakka und
die Befreiung der Hauptstadt des IS. Während dieser Zeit
haben die Kurden neue Bündnisse geschmiedet.
Neben Assyrern haben sie auch die benachbarten sunnitischen
Araber ins Boot geholt und mit ihnen gemeinsam die Allianz der
Demokratischen Syrischen Kräfte (DSK) gebildet. Nach der
Eroberung von Rakka haben die Amerikaner erklärt, dass sie
mit den Einheiten der DSK eine 30.000 Mann umfassende
Grenzsicherungsarmee gründen möchten.
Als sich die Russen auf Seiten des syrischen Assad-Regimes ins
Kriegsgeschehen Syriens einmischten, haben die Kurden angefangen,
punktuell im Nordwesten Syriens auch mit ihnen zu kooperieren.
Dank der russischen Unterstützung konnten die Truppen der
Baath-Partei die djihadistischen Banden aus vielen Gebieten und
Orten vertreiben. Der überwiegende Teil der islamistischen
Kämpfer haben sich in die Stadt Idlib, über die die
Türkei ihre schützende Hand hält,
zurückgezogen. Seit mehreren Wochen sind die Truppen Assads
im Vormarsch auf diese letzte Bastion der Islamisten.
Nachdem die Russen in Syrien die Partei des Regimes ergriffen
hatten, entstanden auch auf der internationalen Bühne neue
Allianzen. Während auch der Iran aktiv auf der Seite Assads
Platz nahm und die Türkei in den Verhandlungen in
Astana/Kasachstan auf ihre Seite zog, intensivierten die
Amerikaner ihre Kontakte mit den Kurden. Auf internationalem
Parkett gibt es mehrere Initiativen. Unter der Schirmherrschaft
der UN werden Friedensverhandlungen in Genf geführt; in
Astana treffen sich die Kontrahenten unter der Obhut von
Russland, dem Iran und der Türkei. Zu allen diesen Treffen
werden Kurden nicht eingeladen, obwohl sie fast ein Drittel der
Fläche Syriens kontrollieren und eine funktionierende
Verwaltung aufgebaut haben. Anscheinend sind die Kurden zum
Kämpfen und Sterben gut, aber nicht gut genug für den
Verhandlungstisch!
Eine Hintergrundinformation: Kurdischen Medienberichten zufolge
haben einen Tag vor den Luftschlägen und der Invasion der
Türkei die Russen den kurdischen Akteuren in Syrien
erklärt, dass sie Afrin in die Obhut des Assad-Regimes geben
sollen. Wenn dies geschehe und auf allen öffentlichen
Plätzen und Verwaltungsgebäuden die syrische Fahne
wehe, würde die Türkei Afrin nicht angreifen. Diesen
schmutzigen Deal haben die Kurden abgelehnt. (Tev-Dem Movement
for a Democratic Society, Rojava/Northern Syria)
Erdogan hat mittlerweile verstanden, dass er mit seiner
Syrienpolitik verloren hat. Keiner seiner Schützlinge, weder
Moslembrüder noch Al Nusra noch der IS, konnte sich in
Syrien behaupten. Er weiß inzwischen auch, dass sich die
Staatengemeinschaft inoffiziell zu einem sanften Übergang
mit Bashar Al-Assad bereiterklärt hat. Das Baath-System und
die Kurden haben Erdogans Pläne durchkreuzt. Er will kein
autonomes Kurdengebiet im Nachbarland dulden. Denn er
fürchtet, das könnte die 20 Millionen Kurden im eigenen
Land in ihrem Streben nach Unabhängigkeit befeuern. Auch
Assad mag er nicht. Der Syrer ist kein Sunnit. Und den Islamisten
in Idlib, die er protegiert, kann er keine rosige Zukunft
anbieten. Neben diesem Dilemma in Syrien hat Erdogan noch andere
Probleme. Im eigenen Land möchte er islamistischer
Alleinherrscher werden. Er ist Präsident der Türkei,
beaufsichtigt die Geschäfte der Regierung und kontrolliert
die Legislative, Exekutive und Judikative. Die vierte Säule,
nämlich die Medien, kontrolliert er zu 98 Prozent.
Die Ergebnisse des Referendums im April 2017 wurden manipuliert:
Mit einer Entscheidung der Wahlbehörde am Wahltag wechselten
Millionen von ungültigen Stimmen die Lager. So "gewann"
Erdogan das Referendum. Seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016
regiert Erdogan per Dekret. Dazu braucht er kein Parlament mehr.
Sein Land befindet sich im Ausnahmezustand. Doch Erdogan
weiß, dass er so nicht ewig regieren kann. Er weiß
auch, dass spätestens im Sommer 2019
Präsidentschaftswahlen bevorstehen. Alle Umfragen deuten
darauf hin, dass er diese Wahl nicht gewinnen wird. Im Falle
einer Niederlage wird er wohl vor Gericht gestellt werden.
Gründe hierfür sind genug da: Korruption, Umgehung der
IranSanktionen, die Unterstützung der djihadistischen
Terrorbanden im gesamten Nahen Osten, Zerstörung ganzer
Städte in Kurdistan und Ermordung Hunderter Zivilisten. Um
weiter zu regieren und seine Alleinherrschaft aufzubauen und
auch, um vor einem Prozess sicher zu sein, braucht er weitere und
noch umfassendere Regelungen. Kann das sogenannte Kriegsrecht
diesen Weg öffnen?
Um den Ausnahmezustand zu erklären, brauchte Erdogan den
sogenannten Putschversuch. Doch das Kriegsrecht kann er ohne
andere, tiefgreifende Gründe nicht ausrufen. Dafür
müsste Erdogan die Bevölkerung seines Landes gegen die
Kurden aufstacheln. Ein gefährliches Kalkül: Wenn
Leichname der von "bösen" Kurden getöteten
türkischen Soldaten in die Türkei überführt
würden, könnte dies in der türkischen Gesellschaft
weiteren Hass und Feindschaft gegenüber den Kurden
schüren. Einige aufgebrachte Türken würden dann
benachbarte Kurden am Mittelmeer und der Ägäis, in
Istanbul und Anatolien angreifen. Es könnte zu
pogromähnlichen Attacken kommen. Solche Angriffe haben wir
in jüngster Vergangenheit mehrmals erlebt. Zuletzt nach der
Parlamentswahl am 7. Juni 2015, die mit dem Einzug der
prokurdischen HDP ins Parlament die Alleinherrschaft der AKP
beendete. Damals wurden binnen einer Woche etwa 500
Parteibüros der HDP in Brand gesteckt und mehrere Menschen
durch Lynchjustiz verletzt und getötet. Es gibt Gründe,
solch ein Szenario anzunehmen: Um aufgebrachten Türken,
paramilitärischen Einheiten und Milizen, wie den "Osmanen"
oder den "Grauen Wölfen", Straffreiheit zu gewähren,
wurde in den vergangenen Wochen ein Dekret mit der Unterschrift
von Erdogan erlassen. Mörderbanden, die auf Kurdenjagd gehen
und erklären, sie würden "Terroristen und
Vaterlandsverräter" in die Schranken weisen, werden von der
Justiz nicht verfolgt.
Halten wir das fest: Mit der Invasion und dem Einmarsch nach
Afrin, das heißt einem Einrücken des türkischen
Militärs in einen anderen souveränen Staat, bezweckt
Erdogan, meiner Meinung nach, das Kriegsrecht ausrufen zu
können. Wenn es Pogrome oder Angriffe auf Kurden in der
Türkei gibt, ist dies ein Anlass zur Ausrufung des
Kriegsrechts. Und wenn das Kriegsrecht erklärt wird, dann
spielen die Wahlen keine Rolle mehr. So kann Erdogan, ohne
wiedergewählt zu werden, weiterhin regieren und sein
islamistischfaschistisches Regime aufbauen. Hoffentlich irre ich
mich! Hoffentlich kommt es nicht zu solchen Entwicklungen. Wenn
dieses Szenario aber eintritt und sich das Ganze zu einem
Bürgerkrieg ausweitet, wird es viel schlimmer werden als in
Syrien und in Ex-Jugoslawien. Die Auswirkungen einer solchen
Entwicklung werden auch in Deutschland und der EU spürbar
sein. Um dies zu verhindern, sind die Staatengemeinschaft und die
Mächtigen dieser Welt aufgefordert, ihren Partner Erdogan in
die Schranken zu weisen!
Memo Sahin ist Geschäftsführer des Dialog-Kreises "Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden"
Aus pogrom-bedrohte Völker 304 (1/2018)
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180326ade.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180226de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180220de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180212de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180207de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180129de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180123de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180122de.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/nordsiria2017.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/rojava.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/yezid-celik.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/yezid2.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/ezid.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/yezid-de.html | |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurtur-de.html
* www:
www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/Reporte_Memoranden/2016/Nordsyrien_Reisebericht_compressed.pdf