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Sprache: DEU
Von Eytan Celik
Göttingen, Bozen, 15. Januar 2018
Eytan Celik ist 28 Jahre alt, yezidisch-kurdischer Abstammung und studiert an der Göttinger Universität Deutsch und Philosophie. In der Ost-Türkei war sie im April 2017. Inmitten des fortbestehenden Ausnahmezustands in der Türkei und kurz vor dem Referendum über das Präsidialsystem wollte sie sich ein eigenes Bild von der politischen, gesellschaftlichen Situation der Menschen und vor allem der Minderheiten vor Ort machen. Seit 2014 ist Eytan ehrenamtliche bei der Gesellschaft für bedrohte Völker, die ihre Reise mitfinanziert hat, aktiv.
Kefnas: Das Heimatdorf von Eytans Eltern. Foto: Eytan Celik.
Ich erinnere mich heute noch wie es war, als meine Mutter mir
die Geschichten aus ihrer Kindheit erzählte. Gespannt
saßen meine Geschwister und ich auf dem Bett meiner Eltern,
bildeten einen Kreis um meine Mutter und lauschten ihrer Stimme.
Auch wenn wir nicht alles verstanden, weil sie auf Kurdisch
redete, war es dennoch schön, dem Klang dieser - unserer
Sprache - zu folgen. In der Schule war ich die Türkin, die
kein Türkisch kann. Am Anfang versuchte ich meinen
Mitschülern klar zu machen, dass ich Kurdin bin.
Nachdem meine Klassenkameraden den Weltatlas von vorn bis hinten
studiert hatten, kamen sie auf mich los gestürmt und sagten
nur vorwurfsvoll: "Kurdistan gibt es gar nicht!". "Ich
weiß", dachte ich nur und antwortete ihnen - wenn auch ganz
zaghaft: "Vielleicht ja bald schon…". Irgendwann hatte ich
genug und fing an, den Menschen, die nach meiner Herkunft
fragten, zu sagen, dass ich Deutsche bin, so wie den übrigen
meiner Mitschüler auch. "Deutschsein sieht aber anders aus",
kam mir dann nur entgegen.
Und heute? Ich bin eine türkisch aussehende, aber keine
Türkisch sprechende; eine Deutsch sprechende, aber nicht
deutsch aussehende Frau, die ein wenig Kurdisch spricht. Und ich
komme aus einem Land, das es nicht gibt. Ahnungslos, wer ich nun
wirklich bin oder wer ich auf keinen Fall sein kann, verbrachte
ich die Jahre nach der Schule.
Zusätzlich zu den alten Fragen fingen Leute mich an zu
fragen, ob ich Muslima sei. Als ich dann neben meiner ethnischen
Zugehörigkeit erklären musste, was das Yezidentum ist,
war wirklich alles verloren. Es ist daher nicht verwunderlich,
dass ich mir oft gewünscht hatte, an einen Ort zu reisen, an
dem die Menschen so aussehen wie ich und so sprechen wie ich:
Schwarzhaarige, die halb Kurdisch, halb Deutsch sprechen.
Blick von der Stadtmauer in Diyarbakir. Foto: Eytan Celik.
Als ich dies erst während meines Studiums realisierte,
packte mich die Lust, nach Kurdistan zu reisen. Ich wollte alles
sehen, ich wollte die Sprache auf den Straßen hören,
ich wollte die Kultur und die Menschen sehen, ich wollte das
Essen riechen und die Musik hören. Als ich meinen Eltern von
dem Vorhaben erzählt hatte, erahnte ich schon ihre Reaktion.
Sie waren gegen diese Reise und ich hatte vollstes
Verständnis für sie, denn in den 80er Jahren mussten
meine Eltern aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit
und des ethnischen Konflikts zwischen Türken und Kurden ihre
Heimat verlassen. 32 Jahre nach der Flucht sind sie immer noch so
von ihrer Angst gefesselt. Traumatisiert von den damaligen
Ereignissen, vom Verrat ihrer Nachbarn, von der Verfolgung
aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit, wollten sie
nicht, dass sich ihre Tochter dieser Gefahr stellt. Dennoch. Das
erste Mal in meinem Leben stellte ich mich gegen das Wort meiner
Eltern.
Ein paar Wochen später. Ich stehe in Diyarbakir auf der
Straße. Diyarbakir ist die Hauptstadt im türkischen
Teil von Kurdistan. In den vergangenen zwei Jahren eskalierte
hier der Konflikt zwischen der kurdischen Arbeiterpartei (PKK)
und den türkischen Streitkräften. Vor einer halben
Stunde kam ich an. Die Stadt ist kaputt, die Häuser
heruntergekommen, das hier ist nicht das Bild aus unseren
Gute-NachtGeschichten, denke ich. Ich laufe die Straße
hinunter und höre, dass alle Türkisch sprechen, so wie
ich es erwartet hatte. Links von mir sehe ich Schuhputzer, die
ihrem Geschäft vor einer Moschee nachgehen. Einige
unterhalten sich, diskutieren und andere sind mitten in ihrer
Mittagspause und essen ihr Brot. Gegenüber sind zwei
Straßenimbisse auf Rädern. Sie verkaufen frisch
gegrilltes Fleisch.
Der Duft zieht sich über die ganze Stadt. Ich steige auf die
Stadtmauer. Die Treppen sind sehr steil und die Stufen alt. Es
gibt nichts, woran man sich festhalten kann. Oben angekommen,
während sich bei jedem anderen ein Gefühl der Freude
und Zufriedenheit aufgrund der Aussicht einstellen müsste,
empfinde ich Mitleid, für die Städter, für meine
Eltern, meine Familie und für mich. Ich steige die
Stadtmauer hinunter. Ich blicke zu Boden.
Ich beschließe, ganz touristisch, den Basar zu besuchen.
Auf dem Basar gibt es nichts, was man nicht kaufen kann. Von
Elektrogeräten bis hin zu Lebensmittel und Kleidung, ist
hier alles vertreten. Ich überlege, etwas zu kaufen und rufe
einen Freund zu Hilfe, weil er Türkisch spricht und das
Gespräch zwischen mir und dem Händler übersetzen
kann. Der Freund hört mich nicht rufen und nimmt auch kaum
meine Handbewegungen wahr. Ganz spontan, ohne Vorüberlegung
spreche ich daraufhin den Händler auf Kurdisch an. Er fragt,
als sei es das Normalste von der Welt, mit mir Kurdisch zu
sprechen: "Woher kommen deine Freunde?". "Aus Deutschland. Ich
auch." "Na, sieh mal einer an, wer hätte gedacht, dass ein
Mädchen aus Deutschland so toll Kurdisch spricht." Ich sehe
ihm in die Augen und wir beide strahlen uns an.
Ich weiß, dass viele denken, dass es das Normalste von der
Welt ist, in der türkisch-kurdischen Hauptstadt Kurdisch zu
sprechen. Für mich aber ist es etwas Besonderes. Auch wenn
es nur ein kurzes Gespräch war und ich nicht einmal mit dem
Händler gehandelt habe, ist es für mich unbeschreiblich
schön, mit ihm Kurdisch gesprochen zu haben. Das
überaus euphorisierende, kurze Gespräch lässt mich
über die Straßen schlendern, als seien es meine
eigenen. Ab dann beginne ich, mich zu Hause zu fühlen.
Eytan in Mardin. Foto: Eytan Celik.
Die Reisegruppe und ich ziehen gemeinsam Richtung Midyat
weiter. Das ist die Stadt, in der meine Eltern früher
eingekauft haben, denn sie liegt ganz in der Nähe ihres,
unseres Heimatdorfes. Ich bin aufgeregt und neugierig.
Verträumt schaue ich aus dem Fenster unseres Busses und ich
stelle mir die Stadt der Silberschmiede, wie sie meine Eltern mir
in Geschichten beschrieben haben, in ihrer Vollkommenheit vor.
Silberschmiede, denke ich, allein dieser Name verführt mich
zu einer paradiesischen Vorstellung. Ich frage mich, an welchen
Orten in der Stadt meine Eltern am liebsten waren, wo haben sie
am liebsten eingekauft, wo gibt es das beste Essen ihrer Meinung
nach?
Endlich in der Stadt angekommen, schaue ich mir die Häuser
an. Sie sind alt und zerstört, noch schlimmer als in
Diyarbakir. Wer ist dafür verantwortlich, frage ich mich.
Ich nehme mir vor, nicht vorschnell zu urteilen. Den Blick
gesenkt suche ich mit den anderen unser Restaurant. Ich blicke
aus dem Fenster und sage kein Wort. Werde ich wohl noch mein Dorf
sehen können? Es ist schon sehr spät, denke ich. Wir
machen uns auf den Weg, um Yohannah zu treffen. Er ist
Vorsitzender der syrisch-orthodoxen christlichen Gemeindestiftung
in Midyat. Wir gehen an einem Haus vorbei, an dem viele
Männer stehen. Einige von ihnen haben ein Tesbih in der Hand
- eine Gebetskette -, die anderen schauen teilnahmslos auf den
Boden. Wer sind diese Männer, frage ich mich. Ihre Gesichter
und ihre Kleidung sind mit Dreck beschmiert. Sie sehen sehr
abgemagert aus.
Wir sitzen an einem großen Tisch in einem Café, das
sehr modern wirkt. Neben uns am Tisch ist eine kleine Spielecke
für Kleinkinder. Der Raum ist nicht gut schallisoliert,
sodass ich Yohannah nur schwer hören kann, während die
Kinder spielen. Yohannah berichtet uns von der Lage der
Minderheiten, die in Midyat und Umgebung leben, vor allem sind
das Christen und Yeziden. Als wir uns verabschieden und ich ihm
die Hand reichen will, fragt er mich, woher meine Eltern kommen.
Ich nenne ihn den Namen meines Dorfes und ich denke mir in dem
Moment, gleich fragt er mich, wie all die anderen auch, wo genau
das liegt. "Ah, wie schön. Das Dorf ist ja gleich hier",
erwidert er zu meiner Verblüffung. Ich schau ihn an und
frage schnell weiter, bevor er geht, "Wo genau ist es denn?"
"Keine 20 Minuten. Einfach immer diese Straße runter
fahren", antwortet er mir und geht. Während ich ihm
nachschaue, fällt mir ein Monument auf. Auf Augenhöhe
sind drei Symbole zu erkennen: eine Kirche, eine Moschee und
Melek Taus. Ein Symbol der miteinander lebenden Religionen hier
in Midyat.
Eine halbe Stunde später. Ich sitze im Auto. Ich bin nicht
alleine. Ich nehme mir vor, nicht allzu emotional mit der
Situation umzugehen, wenn wir in das Dorf meiner Eltern kommen.
Auf dem Dorf will ich eigentlich nur das Grab meiner
Großeltern besuchen, das habe ich meiner Mutter noch in
Deutschland versprochen. Es liegt Nebel in der Luft. Es sieht
mystisch aus. Ich lehne mich vorn über, schaue aus dem
Autofenster, will keinen Blick verschwenden. Ich sehe nur Land
und Kalksteine. Ist das vielleicht die Straße, die meine
Eltern benutzt haben, um zu Fuß in die Stadt zu kommen,
frage ich mich. Dann sind wir da. "Das ist mein Dorf?", frage ich
in die Runde. Keiner sagt etwas. Für die anderen scheint es
wohl auch etwas Besonderes zu sein. Ich stehe am
Dorfeingang.
Cihan, unser Reiseleiter, fragt eine Dorfbewohnerin nach meinem
Onkel und meiner Tante, die dort leben. Sie schaut mich an und
sagt mir: "Steig aus, ich bringe dich zu ihnen." Wir gehen
nebeneinander her und hinter uns fährt das Auto im
Schritttempo - wie in einem kitschigen, türkischen Film,
denke ich mir. Wir stehen vor einem Haus und ich hoffe sehr, dass
es das richtige ist. Meine Begleitung macht das Tor auf und
fängt plötzlich an den Namen meiner Tante zu rufen.
Meine Tante macht das Fenster auf, sieht mich und kommt so
schnell sie kann herausgelaufen. Ich betrete das Haus. Ich gehe
die Treppe hoch und mein Cousin, den ich noch nie zuvor gesehen
hatte, öffnet mir die Tür. Ich begrüße ihn
und denke in dem Moment an meine Mutter, die mir zig Mal gesagt
hatte, dass ich ihn unbedingt besuchen sollte und ihn von all
seinen Tanten grüßen soll. Ich gehe ins Wohnzimmer und
sehe meinen Onkel, der ganz lässig auf dem Boden sitzt, so
wie ich ihn von seinen Besuchen in Deutschland in Erinnerung
hatte. Nun stehe ich hier im Wohnzimmer der beiden. Ich sitze auf
einem Gartenstuhl und versuche mein Glück, diesen einen
Moment zu fassen und ihn für immer festzuhalten.
Mein Onkel begleitet mich zur Grabstätte meiner
Großeltern. Ich habe hier kein Internet, fällt mir auf
dem Weg dorthin auf. In meiner Vorstellung hatte ich mir
ausgemalt, mit meiner Mama und meinen Tanten zu skypen,
während ich ihr Dorf besuche. Ich stehe vor den Gräbern
und hole das nach, was ich nie konnte: Ich verabschiede mich von
meinem Opa und von meiner Oma. In diesem Moment kann ich die
Sehnsucht meiner Mama nach ihrem Zuhause nachempfinden. Ganz tief
im Herzen spüre ich, wovon sie mir Jahre zuvor in ihren Gute
Nacht-Geschichten erzählt hat: Meine Heimat, unsere Heimat -
das schöne Kurdistan.
Erstveröffentlichung am 6. Oktober 2017 auf www.kleiderdrei.org
Aus pogrom-bedrohte Völker 303 (6/2017)
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/2c-stampa/2017/170727de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2017/170329de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2015/150522de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2014/140807de.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/yezid2.html | |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/ezid.html | |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/yezid-de.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurzuelch-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurtur-de.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/orianikur.html
* www: www.yezidi.org | http://de.wikipedia.org/wiki/Jesiden