Logo


In: Home > DOSSIER > Kurdistan: Rojava - eine Chance für die Menschenrechte in Syrien?

Sprache: DEU | ITA


Kurdistan

Rojava - eine Chance für die Menschenrechte in Syrien?

Von Ulrich Sandl

Göttingen, Bozen, 13. April 2016

Die Volksverteidigungseinheiten YPG versuchen Rojava vor dem Islamischen Staat und anderen islamistischen Gruppen zu verteidigen. Foto: Kurdishstruggle via Flickr. Die Volksverteidigungseinheiten YPG versuchen Rojava vor dem Islamischen Staat und anderen islamistischen Gruppen zu verteidigen. Foto: Kurdishstruggle via Flickr.

Es begann Ende 2013 weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, als einige der wichtigsten kurdischen, christlichen sowie arabischen Organisationen beschlossen, in Westkurdistan ("Rojava"), dem nordöstlichen Syrien, eine "demokratisch-autonomen Zone" einzurichten. So sollte dort ein besonderer Raum geschaffen werden, in dem alle ethnischen und religiösen Volksgruppen ohne Angst vor Verfolgung zusammenleben und gegen äußere Angriffe zusammenstehen können. Ausdrücklich nicht beabsichtigt war es, wie auch heute manche noch glauben, mit diesem Schritt eine Loslösung der kurdischen Gebiete vom restlichen Syrien herbeizuführen. Vielmehr sollte eine föderale Selbstverwaltung, gegliedert in drei Kantone, mit eigener Verwaltung, eigener Gerichtsbarkeit und eigenen Sicherheitskräften errichtet werden. "Wir verstehen Rojava weiterhin als Teil Syriens. Allerdings hat die Bevölkerung das Recht, sich demokratisch selbst zu verwalten. Mitten im Bürgerkrieg ist das Ausrufen der demokratisch-autonomen Selbstverwaltung auch ein Schritt, um den chaotischen Zustand in den übrigen Teilen des Landes von Rojava fernzuhalten", sagte der Vorsitzende der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) Salih Muslim im Januar 2014. Parallel verabschiedet wurde der sogenannte Gesellschaftsvertrag, die für alle Kantone geltende Verfassung Rojavas. Darin wurden unter anderem die Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und die Gleichstellung von Mann und Frau sowie die Rechte der wichtigsten ethnischen und religiösen Gruppen festgeschrieben.

Ein Regierungsgebäude im Kanton Cazire. Foto: Janet Biehl via Flickr. Ein Regierungsgebäude im Kanton Cazire. Foto: Janet Biehl via Flickr.

Nicht zuletzt wegen dieser Entstehungsgeschichte, aber auch wegen der Wehrhaftigkeit der kurdischen Milizen ist die Lage in Rojava heute stabiler als im Rest des zerstörten Landes. Vor allem für ethnische und religiöse Minderheiten ist es derzeit der einzige Ort in ganz Syrien, an dem sie nicht befürchten müssen, vertrieben, verfolgt oder ausgelöscht zu werden. Zwar gibt es auch in Rojava vereinzelte Bombenanschläge und noch immer zum Teil äußerst erbitterte Kämpfe, vor allem mit der Terrormiliz des Islamischen Staats, für den gerade die Nähe der Region zur Türkei erheblichen strategischen Wert besitzt. Inzwischen haben die kurdisch-christlichen Milizen aber ihre alleinige Kontrolle über das Gebiet erheblich ausweiten können und, wie die Schlacht um Kobane eindrucksvoll zeigte, bewiesen, dass sie sich auch gegen einen übermächtigen Feind militärisch erfolgreich behaupten können. Vor allem im Kampf gegen den Islamischen Staat tragen die Militäreinheiten der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG momentan als "Bodentruppe" der internationalen Koalition die Hauptlast.

Trotz aller militärischen Erfolge droht in Rojava allerdings mittelfristig eine humanitäre Katastrophe, denn es wurden durch die Kampfhandlungen wesentliche Teile der lebensnotwendigen Basisinfrastrukturen, vor allem das Energienetz, die Wasserversorgung sowie die Agrarwirtschaft zerstört. Enorm verschärft wird die Lage durch die rund 1,2 Millionen Flüchtlinge, die seit 2012 aus anderen Teilen Syriens in Rojava Schutz suchten, unter ihnen viele Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten. Sie werden derzeit vor allem von der lokalen Bevölkerung versorgt. Es gibt weder ausreichende humanitäre Hilfe, vor allem auch da einzelne Grenzübergänge von der Türkei nur sporadisch geöffnet werden, noch externe Unterstützung beim Wiederaufbau. Entwicklungsprojekte, soweit aufgrund der Sicherheitslage in Syrien noch möglich, werden in anderen Regionen durchgeführt.

In Rojava ist vielerorts die Infrastruktur zerstört. Deshalb droht dort, trotz der relativ stabilen Lage, eine humanitäre Katastrophe. Foto: Stefan Mako via Flickr. In Rojava ist vielerorts die Infrastruktur zerstört. Deshalb droht dort, trotz der relativ stabilen Lage, eine humanitäre Katastrophe. Foto: Stefan Mako via Flickr.

Begründet wird diese Zurückhaltung inoffiziell mit der sich verschlechternden Menschenrechtssituation "vor Ort", angefangen mit der willkürlichen Verhaftung Andersdenkender bis hin zu systematischen ethnischen Säuberungen, begangen an den arabischen und turkmenischen Minderheiten durch kurdische Milizen. Die Meldungen über solche Menschenrechtsverletzungen mehren sich in der Tat; doch es fällt dem Außenstehenden schwer, den tatsächlichen Gehalt dieser Nachrichten verlässlich einzuschätzen. Immer wichtiger wird es, sich ein eigenes, unabhängiges Bild von der Lage machen zu können. Denn in Syrien herrscht Krieg. Und die verschiedenen Kriegsparteien verfolgen allesamt eigene Ziele und Interessen. Nicht nur militärische, sondern auch und vor allem machtpolitische. So befürchtet die Türkei durch das Rojava-Projekt "gefährliche" Auswirkungen auf die Autonomiebestrebungen der Kurden im eigenen Land und auch die Kurden selbst sind sich nicht einig darüber, ob Rojava Fluch oder Segen für sie bedeutet.

So verfolgt beispielsweise die Demokratische Partei Kurdistans von Masud Barzani im Nordirak die Entwicklung in Nordsyrien mit erheblicher Skepsis, ist sie der übermächtigen syrischen Kurdenpartei PYD doch traditionell in inniger Feindschaft verbunden – auch wenn sie bei der Schlacht um Kobane auf einer Seite kämpften. Die jeweils andere Seite "anzuschwärzen" gehört für all diese Akteure mit zum Spiel und erschwert es auch einer Menschenrechtsorganisation beträchtlich, sich hier auf die wirklich Schutzbedürftigen zu konzentrieren und sich nicht vor "fremde Karren spannen zu lassen".

Um dieses Dilemma aufzulösen und endlich den Weg dafür freizumachen, die Region humanitär zu unterstützen, hat der Evangelische Kirchentag in Stuttgart am 6. Juni 2015 beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, in den "gehaltenen und befreiten Gebieten Nordsyriens Wiederaufbauhilfe zu leisten" und diese Unterstützung "an die kontrollierbare Selbstverpflichtung zu koppeln, die Menschenrechte zu achten".

Die Umsetzung dieser Entschließung wird von der GfbV aktiv unterstützt, bietet dies doch die Chance, an einem der derzeit drängendsten humanitären Brennpunkte weltweit eine "geschützte Zone" zu schaffen, dadurch Prävention vor Menschenrechtsverletzungen zu betreiben und hierfür die Kernkompetenzen der GfbV auszuspielen, nämlich fundierte Kontakte zu den wichtigsten Akteuren vor Ort sowie weitreichende Erfahrungen in der Menschenrechtsarbeit. Die Mitgliederversammlung im Jahr 2015 hat deshalb mit einer Resolution beschlossen, "der Bundesregierung im Namen der GfbV anzubieten, bei den Verantwortlichen in den nordsyrischen Kantonen Cazire, Afrin sowie Kobane auszuloten (sie ggf. zu unterstützen), wie sich die dortige Menschenrechtssituation kontrollierbar verbessern lässt, zum Monitoring dazu in der Region ein GfbV-Büro zu eröffnen und sich – im Gegenzug – dafür einzusetzen, dass Hilfe beim Aufbau der dort zerstörten Infrastrukturen geleistet wird."

Die Arbeiten zur praktischen Umsetzung dieser Entschließung sind in der GfbV-Regionalgruppe Berlin in vollem Gange und wir freuen uns über Anregungen und Unterstützung aus anderen Regionalgruppen zu diesem wichtigen Projekt.

[Zum Autor] Der Jurist Dr. Ulrich Sandl arbeitet in einem Bundesministerium. In seiner Freizeit ist er seit Jahrzehnten im Nahen Osten unterwegs und kennt Syrien auch unzerstört. Er ist besonders an der christlichen Minderheit in der Region interessiert.

Aus pogrom-bedrohte Völker 291 (6/2015)