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Von Jan Ilhan Kizilhan
Göttingen, Bozen, 20. July 2015
Eine yezidische Frau drückt mit der rötlichen Färbung ihrer Hände ihre Freude über das yezidische Neujahrsfest aus, das auch "Roter Mittwoch" genannt wird. Foto: Robert Leutheuser.
"Die Yezidi sind ein schöner, langgelockter
Menschenschlag, mit dem Selbstgefühl des unabhängigen
Bergbewohners, von meist gewaltigem Körperbau. Die
unverschleierten Frauen sind von eigenartiger
Regelmäßigkeit der Gesichtszüge. Früher
waren die Yeziden gefürchtete Rebellen und Räuber, die
sich gegen alle Übergriffe und Gewalttaten der anderen
unerschrocken wehrten. Ihre Treue dem gegebenen Wort
gegenüber und ihre Loyalität wurden auch von ihren
Feinden anerkannt. Sie sind fleißige Land- und
Gartenbebauer und Viehzüchter, die ihren Nachbarn an
Tätigkeit und Geschicklichkeit überlegen sind.
Besonders hervorzuheben ist die peinliche Sauberkeit ihrer Person
und ihrer Häuser, die vorteilhaft vom Schmutz der
übrigen Kurden absticht", steht in dem 1941 in den
Niederlanden erschienenen "Handwörterbuch des Islam".
"Yezidi", "Izîdî" oder "Ezdayi",
"Êzîdî" kommt aus dem Kurdischen und bedeutet
"der, der mich erschaffen hat", also der Schöpfer und Gott.
Seit Hunderten Jahren ist in der westlichen Literatur und der
kurdischen Öffentlichkeit der Begriff "Yezide" am
geläufigsten. Deshalb werde ich diesen im folgenden Text
verwenden.
Die Yeziden sehen sich selbst als Angehörige der
ältesten Religion der Welt. Sie glauben an einen Gott. Somit
ist das Yezidentum eine monotheistische Religion. Die sieben
Erzengel, die auch im Judentum, Christentum und im Islam
erwähnt werden, folgen Gott. Die Yeziden beziehen sie in
ihre täglichen Gebete ein. Ihr Oberhaupt ist Tausi Melek,
der Engel Pfau, den Gott als seinen Vertreter mit der Aufsicht
über die Erde beauftragte und der im Besonderen die Yeziden
schützen soll.
Im August 2014 erfuhr die Weltöffentlichkeit von den Yeziden
und von ihrem tragischen Schicksal. Kämpfer des Islamischen
Staates (IS) gingen mit unerbittlicher Härte gegen
Angehörige der Religionsgemeinschaft im Irak vor, weil
Yeziden für die Islamisten "Ungläubige" sind. 7.000
wurden getötet, yezidische Mädchen und Frauen
missbraucht und versklavt. Mehr als 400.000 Yeziden flohen aus
dem Sinjar, ihrem Hauptsiedlungsgebiet, in die Autonome Region
Kurdistan im Norden des Landes.
Ihre Jahrtausende alte Geschichte ist eine Geschichte von
Verfolgung und Vertreibung, sie ist jedoch zugleich auch Teil der
Geschichte des kurdischen Volkes, denn Yeziden sind Kurden. Doch
gab es auch kurdische Fürsten wie Bedirkhan und Mehmed
Rawanduz, die die Yeziden im 19. Jahrhundert aus religiösen
Gründen verfolgt haben. Die Kämpfe der Araber gegen die
Kurden 637, die Mongolenstürme im Jahr 1246 sowie
Zwangsislamisierungen haben die Zahl der Yeziden dezimiert. Sie
waren als "Teufelsanbeter" verschrien, wurden ferner als
"muslimische Sekte", als "Abtrünnige", bezeichnet und galten
nicht als Angehörige einer Buchreligion, wie beispielsweise
die Christen, die die Bibel als Offenbarungsschrift haben.
Aufgrund von Islamisierungswellen zogen sich die Yeziden in die
Berge zurück und hatten nur begrenzt Kontakt zu der
mehrheitlich muslimischen kurdischen Bevölkerung. Die
Priester gaben ihre Religion mündlich weiter. Es gibt nur
wenige schriftliche Dokumente, wie Sammlungen von Gebeten,
Geschichten und Erzählungen über die Religion von
Yeziden über Yeziden. Das hat sich erst in den vergangenen
50 Jahren geändert. In der deutschsprachigen Literatur haben
sich seit dem 18. Jahrhundert nur wenige Orientalisten und
Anthropologen mit dieser Religionsgemeinschaft beschäftigt.
Daher ist auch in der Öffentlichkeit nur wenig über die
Yeziden bekannt.
Yeziden gehen generell davon aus, dass ihre Ursprünge im
Mithraskult - einer vorchristlichen Religion, die im ganzen
Römischen Reich verbreitet war - bis zum 14. Jahrhundert vor
Christus liegen. Historische Quellen erwähnen bis zum
siebten Jahrhundert nach Christus nicht den Begriff "Yezide".
Erst um 1000 benutzen arabische Geistliche und Historiker diesen
Terminus. Im zwölften Jahrhundert bezeichnete der arabische
Historiker Al-Samani die Yeziden als eine Gruppe asketischer
Individuen, die in den Halwan-Bergen, in der heutigen Autonomen
Region Kurdistans, lebten. In seinem Buch Al-Ansab erwähnt
er des Weiteren, dass die Yeziden loyal gegenüber dem
zweiten Umayyaden-Kalifen, Yazid Ibn Muawiya gewesen seien, der
in der islamischen Geschichte einen besonders schlechten Ruf hat.
Diese nicht zutreffende Behauptung hat sich bis heute bei einigen
Gemeinschaften, wie beispielsweise bei den Aleviten und Schiiten,
in den kurdischen Gebieten gehalten und wurde öfter als
Argument und Rechtfertigung genutzt, um Yeziden
auszuplündern oder zu versklaven. So glauben einige Schiiten
und Aleviten noch immer, dass Yeziden als Anhänger von Yazid
Ibn Muawiya den Propheten Ali, der Nachfolger des Propheten
Mohammed werden sollte, töteten. Erst in den vergangenen
vierzig Jahren und aufgrund des Lebens in der Diaspora haben
Yeziden und Aleviten wieder zusammengefunden und stehen heute im
Dialog.
Der letzte Reformator der Yeziden, Sheikh Adi, war in den vergangenen Jahren innerhalb der Gemeinschaft immer wieder Gegenstand zahlreicher Diskussionen. So soll er etwa Muslim gewesen sein. Diese Behauptung lehnen viele Yeziden ab, da man nur durch Geburt Yezide werden kann. Zahlreiche Dokumente belegen allerdings, dass Sheikh Adi Ibin Musafir in Bait al-Far in der Gegend von Baalbak im Libanon um 1050 oder 1075 geboren wurde. Er zählt zur Ahnenreihe der muslimischen Familie Ibrahim. Sheikh Adi starb im Alter von 90 Jahren. Für die Yeziden ist er die Inkarnation des Tausi Melek, des Engel Pfau. Das Tal Lalish im Nordirak war sowohl das Hauptquartier als auch die Begräbnisstätte des Reformators. Seitdem ist Lalish das zentrale Heiligtum der Yeziden. Der Überlieferung nach soll Tausi Melek Sheikh Adi seine geistige und spirituelle Macht übertragen und ihm aufgetragen haben, die Yeziden zu führen. Er ließ sich bei Yeziden nieder und legte eine neue religiöse Doktrin fest: "Sad u Had" ("Rechte und Pflichten"). Die yezidische Gemeinschaft war vorher nicht als ein Kastensystem strukturiert, sondern hatte lediglich eine Priesterschicht, die für die religiöse Lehre zuständig war. Dies sollte sich aber durch ein striktes hierarchisches Kastensystem und neue religiöse Führer, den Sheikhs, ändern.
Der Eintritt Sheikh Adis in die Gemeinschaft der Yeziden im
zwölften Jahrhundert hatte nicht nur eine religiöse
Bedeutung. Das Kastensystem veränderte die gesamte
Gesellschaftsstruktur und definierte die Beziehungen der Gruppen
zueinander neu. Auf der einen Seite waren nun die Sheikhs
(Lehrer), auf der anderen die Murids (Laien, Volk). Diese
Struktur findet sich auch bei den Sufis. Die Gruppe der Priester
(der Pirs) verlor ihre Aufgabe als Hauptunterweiser in der
Religion der Yeziden. Die Pirs waren jedoch stark in der
yezidischen Gesellschaft verankert, sodass sie weiterhin eine
wichtige religiöse Rolle spielten, allerdings eine
untergeordnete. Die Stämme der Yeziden wurden unter den
Sheikhs und Pirs aufgeteilt. Jeder Sheikh und Pir, der für
einen Stamm zuständig war, musste gleichzeitig eine
Verbindung zum jeweils anderen Unterweiser haben. Dies bedeutet,
dass jeder Sheikh und Pir selbst einen Unterweiser aus der Kaste
der Sheikh und Pirs hat. Eine Heirat zwischen den Pirs und
Sheikhs ist verboten. In der Pir-Kaste ist es tabu, Personen aus
der Nachfolgerschaft Pir Hasan Mamans zu heiraten. Sonst
dürfen die Pirs untereinander heiraten. Murids ist es strikt
untersagt, Sheikhs oder Pirs zu heiraten. Ob diese Heiratsverbote
bereits vor Sheikh Adis Reformen existierten oder mit ihnen
eingeführt wurden, ist nicht geklärt. Aus ethischer
Sicht betrachtet, sorgen diese religiösen Vorschriften
für klare Beziehungen und sollen einen Machtkampf zwischen
den Kasten verhindern. Mitglied einer Gruppe beziehungsweise
Yezide kann man nur durch Geburt werden. Es ist auch nicht
möglich, die Kaste zu wechseln. Eine Heirat mit Personen aus
anderen Religionsgemeinschaften ist ebenfalls nicht möglich.
Wenn ein Yezide dies doch tut, ist er kein Yezide mehr. Diese
Heiratsregel entstand über die Jahrhunderte, um den
Zusammenhalt der Yeziden zu stärken, denn sie wurden seit
jeher verfolgt.
Das Yezidentum ist im Gegensatz zum Islam und dem Christentum
keine missionierende Religion. Yeziden versuchten bisher, ihre
Werte, Normen und Rituale durch mündliche
Überlieferungen weiterzugeben. Sie schufen bereits im
zwölften Jahrhundert dafür die Institution der
"Qewwals". Die Aufgabe war und ist es heute noch, Gedichte,
Gebete und Erzählungen auswendig zu lernen, um so ein
kulturelles Gedächtnis entstehen zu lassen, das von
Generation zu Generation weitergegeben werden kann. Neben den
Bemühungen yezidischer Wissenschaftler, die Geschichten,
Erzählungen und Gebete zu sammeln und zu verschriftlichen,
dienen bestimmte Symbole, Feiertage und Rituale dazu, das
Vergangene zu vergegenwärtigen und das religiöse Erbe
nicht zu vergessen: beispielsweise Statuen, die an den obersten
Engel Tausi Melek erinnern, Fastentage, Neujahrsfeier am ersten
Mittwoch im April, dem sogenannten roten Mittwoch (Kurdisch:
Charshema Sor), das Fest Cumaiya zu Ehren des Reformators Sheikh
Adi im Oktober, Haarbeschneidung im Sinne einer Taufe oder
Gebete.
[Zum Autor] Der Yezide Prof. Dr. Dr. Ilhan Kizilhan ist Psychologischer Sachverständiger, Psychotherapeut und Orientalist. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen transkulturelle Psychiatrie, Konflikt- und Friedensforschung, Sozialisation im Krieg, Kurden und Yeziden, Islam sowie Migrationsforschung.
Aus pogrom-bedrohte Völker 287 (2/2015)
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/2c-stampa/2015/150522de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2014/140807de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2009/090403de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2008/081107ait.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/ezid.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurzuelch-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurtur-de.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/orianikur.html
* www: www.yezidi.org | http://de.wikipedia.org/wiki/Jesiden