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Rassismus in Libyen

Das Schicksal einer Stadt

Von Mascha Brammer

Göttingen, Bozen, Mai 2013

Die Geisterstadt Tawergha. Foto: Jeroen van Loon. Die Geisterstadt Tawergha. Foto: Jeroen van Loon.

Tawergha, eine Geisterstadt am Mittelmeer im Norden Libyens: Die Geschichte des menschenleeren und verwüsteten Ortes ging 2011 um die Welt. Mehr als 30.000 Menschen lebten dort, die Mehrheit waren Schwarze und Nachfahren von Sklaven. Die Bewohner aus dem benachbarten Misrata hatten die Tawerghis aus ihrer Stadt vertrieben. Ihnen wurde vorgeworfen, auf der Seite des Machthabers Muammar al-Gaddafis gestanden und Frauen aus Misrata vergewaltigt zu haben. Diese Vorwürfe sind jedoch nicht ausreichend, um die Zerstörung einer ganzen Stadt zu rechtfertigen. Selbst nach ihrer Flucht oder Vertreibung - hier widersprechen sich beide Seiten - werden die Tawerghis von Milizen aus Misrata im ganzen Land verfolgt. Die meisten haben Zuflucht gefunden in Flüchtlingslagern in Tripolis oder Bengasi. Um das Schicksal der "Geisterstadt" ansatzweise verstehen zu können, ist es wichtig, einen Blick in die Geschichte von Tawergha und Misrata zu werfen sowie auf den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit der schwarzen Bevölkerung Libyens.

Die Verbindung zwischen Tawergha und Misrata war bis August 2011 immer besonders eng, aber nie auf Augenhöhe. Tawergha ist erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Stadt angewachsen, denn viele freigelassene und geflohene Sklaven haben sich hier angesiedelt - die Sklavenmärkte im Osmanischen Reich wurden schon Mitte des 19. Jahrhunderts geschlossen, der Sklavenhandel schließlich 1899 verboten. Viele Tawerghis arbeiteten dann in der Nachbarstadt, weil Misrata viele Arbeitskräfte brauchte: Die Stadt ist die drittgrößte Libyens und liegt im wirtschaftlich starken Westen des Landes in der Nähe von Tripolis. Tawergha war deshalb in ihrem Fortbestand vollständig von Misrata abhängig und hatte wegen fehlender Clanzugehörigkeit auch keine politische Machtposition.

Allerdings haben die Einwohner Tawerghas immer auch Gaddafi unterstützt; ob freiwillig oder nicht, ist nicht eindeutig zu sagen. Gaddafi machte sich jedenfalls das hierarchische, von der Sklaverei geprägte Verhältnis zunutze, um die Revolutionäre in der Stadt Misrata bekämpfen zu lassen. Für die arabischen Misratis stellte dieses Vorgehen eine Erniedrigung dar, von den schwarzen, aus ihrer Sicht untergebenen Tawerghis derart bekämpft zu werden.

Tawerghi in einem Flüchtlingslager in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Foto: Flickr: sara prestianni, BY-NC-SA 2.0. Tawerghi in einem Flüchtlingslager in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Foto: Flickr: sara prestianni, BY-NC-SA 2.0.

Rassismus hat "Tradition"

Die Diskriminierung von Schwarzafrikanern hat in Libyen eine lange "Tradition". Sie ist Teil eines arabischen Rassismus Schwarzen gegenüber, der sich auch in der Sprache widerspiegelt: Die arabische Vorsilbe "abd" bedeutet Sklave und ist sogleich auch das Wort für "Schwarzer". Gaddafi nutzte den existierenden Rassismus, um ein Klima der Instabilität im Land zu schaffen, in dem er selbst die einzige Konstante war. So entzog er den Toubou, einem schwarzen Nomadenvolk im südlichen Libyen, 2008 die Staatsangehörigkeit und somit auch alle sozialen Rechte wie den Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Bildung. Gleichzeitig ist die libysche Wirtschaft auf Immigranten angewiesen, da viele arabischen Libyer keine "niedrige" Arbeit, wie in der Land- und Bauwirtschaft, verrichten wollen. Gaddafi setzte auch auf schwarzafrikanische, ausländische Milizionäre, um seine Macht zu sichern. In Libyen entstand deshalb die paradoxe Situation, dass Bevölkerungsgruppen, die eigentlich auf der gleichen Seite stehen und für Gleichbehandlung eintreten, gegeneinander ausgespielt werden.

Nun herrschen in Libyen nach der 42-jährigen Amtszeit von Gaddafi chaotische Zustände. Die Gesellschaft ist in einzelne Clans und Stämme zersplittert, die sich vorher einzig aufgrund einer Politik der Arabisierung zusammenhalten ließen. Diese Arabisierung findet ihren Ausdruck bereits im Namen von Gaddafis Staat: "Al-Jumhuriyah Al-Arabiyyah Al-Libiyyah", "Libysch-Arabische Jamahiriya", also ein arabischer Staat mit Arabisch als einziger offizieller Sprache. Ethnische schwarze Minderheiten wie die Tawerghis oder die nomadischen Toubou im Süden des Landes an den durchlässigen Grenzen zum Tschad, Sudan und Niger wurden diskriminiert, aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und auch gegen die arabische Mehrheitsgesellschaft ausgespielt. Eine weitere politisch und gesellschaftlich relevante Gruppe sind die Revolutionsmilizen, die meistens zu einem der vielen Clans gehören. Zu dieser ohnehin schon unübersichtlichen Lage kommen noch diverse staatliche Institutionen hinzu wie der regierende Nationale Übergangsrat ("National Transitional Council", TNC) sowie die Verteilung der Ministerien auf einzelne Städte, je nachdem wie sehr sie sich in der Revolution hervorgetan haben. Politische Macht hat in Libyen nur, wer zu einem mächtigen Clan oder aus einer politisch oder wirtschaftlich wichtigen Region kommt - Gaddafi war eine Ausnahme.

Der Süden des Landes ist ökonomisch sehr schwach und von den wirtschaftlich besser entwickelten Zentren des Nordens abhängig. Deshalb konnte sich hier eine Schattenwirtschaft aus Menschen-, Drogen- und Benzinhandel mit den umliegenden Staaten etablieren, die traditionell von den Toubou dominiert wird. Die Region um die Stadt Kufra liegt an der Hauptschmuggelroute der Sahara und bildet auch den Siedlungsschwerpunkt der Toubou. Schwarze Migranten und Gastarbeiter, die entweder auf dem Weg nach Europa sind oder sich in Libyen als Arbeitskräfte verdingen, kommen auf diesem Weg ins Land. Die Gastarbeiter sind rechtlos, denn Libyen hat nie internationale Abkommen zum Flüchtlingsschutz unterzeichnet. So leben sie in ständiger Angst abgeschoben zu werden, oder ein Dasein in von der Regierung errichteten Aufnahmelagern zu fristen.

Schwarzafrikaner sind in Libyen Menschen zweiter Klasse - wenn überhaupt. Die arabische Mehrheitsbevölkerung sieht in ihnen entweder Gaddafi-treue Anhänger oder "billige" Arbeitskräfte für niedere Arbeiten. Diese Vorurteile spielten eine Rolle bei der Zerstörung von Tawergha. Tawergha wurde mittlerweile in "New Misrata", "Neues Misrata", umbenannt. Tawerghis dürfen die Stadt nicht mehr betreten. Menschen, die sich für einen Versöhnungsprozess einsetzen, werden zum Schweigen gebracht. Die Misratis fühlen sich als Opfer und wollen oder können erst nach einer möglichen Bestrafung der Tawerghis überhaupt an Versöhnung denken. Immerhin haben sich die Tawerghis mittlerweile für Verbrechen entschuldigt, die sie begangen haben. Die Stadt ist jedoch noch immer eine Geisterstadt.

Aus pogrom-bedrohte Völker 274 (6/2012)