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Göttingen und seine Roma-Politik

Demonstration gegen Abschiebungen von Roma

Von Tilman Zülch

Bozen, November 2009

Die GfbV demonstrierte am 2. Juli 2009 gemeinsam mit anderen Organisationen gegen die Abschiebung langjährig in Deutschland lebender Roma. Die GfbV demonstrierte am 2. Juli 2009 gemeinsam mit anderen Organisationen gegen die Abschiebung langjährig in Deutschland lebender Roma.

In Göttingen lebt seit ungezählten Jahrzehnten eine traditionsreiche Sinti-Gemeinschaft unter ihnen die große Familie Weiß. Ihre alten Leute, sofern sie überlebt haben, erinnern sich an die Deportation in Arbeits- oder Vernichtungslager und die Verwandten und Freunde, die damals ermordet wurden. Die Gesellschaft für bedrohte Völker hatte 35 Jahre nach Kriegsende als erste diese Verbrechen an mehreren hunderttausend Sinti und Roma bundesweit bekannt gemacht und unter anderen Bundeskanzler und Bundespräsident zur öffentlichen Anerkennung des Genozids bewegt.

Kurze Zeit später erließ die Stadtverwaltung Göttingen eine Verordnung, nach der "Landstreicher" und Zigeuner nicht auf öffentlichen Parkbänken nächtigen dürfen. Erst durch eine persönliche, dramatische Intervention in der Sitzung des Innenausschusses, konnte ich diesen zwingen, diese Verordnung rückgängig zu machen. Die Nürnberger Rassengesetze gälten nicht mehr, hatte ich in die Runde geschrieen. Heute werden einige hundert Roma, Kinder, Frauen und Männer aus dem Kosovo, die seit zehn, 15 oder sogar 18 Jahren unter uns leben und deren Kinder hier geboren sind, mit der Abschiebung, die deshalb einer Deportation ins "Nichts" nahe kommt, konfrontiert. Dieses Schicksal traf nun Semsi Rama. Seine Kinder und seine Frau, mit denen wir noch vor wenigen Wochen bei der Innenministerkonferenz in Bremen waren, müssen sich verstecken.

Wir wissen, dass viele der Innenminister vor solchen Brutalitäten und Gemeinheiten gegenüber diesen und anderen langjährig "geduldeten" Flüchtlingsfamilien nicht zurückschrecken. Besessen und unerbittlich von seinem Rassismuswahn getrieben, unternimmt Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann alles, um die Vertreibungen von deutschsprachig gewordenen Roma-Familien durchzusetzen, die längst unsere Stadt oder unser Land als Heimat empfinden. Schünemann knüpf mit dieser Flüchtlings- und Minderheitenjagd an sehr böse rassistische Traditionen der Nazi-Zeit an.

Uns erschreckt die Reaktion der Stadt Göttingen. Stadtsprecher Detlef Johannson versucht die Vertreibung dieser Kinder zu legitimieren und bezieht sich auf Berichte der Schule, nach denen im Umfeld der Familie kein Deutsch gesprochen werde. Mit den Menschen hat das Dritte Reich auch viele Dialekte des Romanes, der Sprache der Sinti und Roma, ausgerottet. Ausdrücklich hat die Europäische Union auch diese indigene Minderheitensprache mit ihrem Erlass für europäische Sprachgruppen geschützt. An welche Tradition will Johannson anknüpfen? An die Adolf Hitlers oder die der Europäischen Union? Dass die Ausländerbehörde Herrn Rama zu einem Gesprächstermin bestellt und dann mit der Verhaftung und dem Abtransport durch Polizei überraschte, sagt viel aus über die Art wie Roma von dieser Behörde of genug behandelt werden. Vor seinem Abtransport nach Hannover habe ich Herrn Semsi Rama sprechen können. Er war ratlos, er weinte, sprach besorgt von seiner Familie, war schwer traumatisiert.

Auch der Caritas-Verband im Bistum in Osnabrück fordert, wie die GfbV, wie wir alle, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht für die Roma aus dem Kosovo. "Dort, wo einmal die Heimat der kosovarischen Roma war, finden sich heute zerstörte oder enteignete Häuser und eine rassistische Bevölkerung", erklärte die Caritas. Im Juli 1999, kurz nach dem NATO-Einmarsch und der Befreiung der Albaner, wurde ich Zeuge, wie sich zahllose albanische Extremisten nach der Rückkehr von hunderttausenden ihrer Landsleute gegen die Siedlungen und Stadtteile der Roma wandten. 70 von 75 wurden damals niedergebrannt. In einem dieser zerstörten Dörfer, die ich besuchte, war mit den Häusern ein behindertes Roma-Mädchen verbrannt. Roma wurden beschimpft, angegriffen, sie wurden Opfer von Misshandlungen, Folter, Entführungen, Vergewaltigungen und Mord.

Zählt man die Aschkali hinzu, sind von 150.000 Angehörigen der beiden Minderheiten indischer Abstammung, nur 30.000 im Lande geblieben. Trotz des Abkommens der niedersächsischen Landesregierung mit der neuen, korrupten Kosovo-Administration, ist weder für Wohnung noch Lebensunterhalt, geschweige denn für medizinische Versorgung im Kosovo gesorgt. Daran ändert ein Übergangsgeld für die ersten Monate der "Deportierten" im Grundsatz nichts. Ihre einzige Alternative ist die erneute Flucht durch Europa. Der berühmte deutsch-jüdische Philosoph Prof. Ernst Tugendhat sagte noch 1979: "Im Dritten Reich galten wir Juden als Untermenschen, die Sinti aber werden noch heute als Untermenschen zwar nicht bezeichnet, aber empfunden und behandelt".

Was diese Roma-Flüchtlinge in Deutschland angeht, hat sich das bis heute nicht geändert. Auch in Göttingen wurden Bücher verbrannt, auch aus Göttingen wurden die jüdischen Bürger und die Sinti in die Vernichtungslager abtransportiert. Wir meinen, dass es eine besondere Verantwortung für die Roma-Minderheit in Göttingen geben muss. Sie sind längst Göttinger geworden. Wir appellieren an die Parteien, an die Politiker der Stadt, an den Oberbürgermeister, aber auch an alle Göttinger, zu diesem Unrecht nicht länger zu schweigen. Übrigens ist heute sicherlich jeder zweite Göttinger selbst Vertriebener oder Flüchtling oder hat mindestens ein Eltern- oder Großelternteil, das von diesen abstammt.

So müssen wir alles tun, damit die niedersächsische Landesregierung gezwungen wird, die Vorbereitungen für weitere Auslieferungen von Roma zu beenden. Wir fordern die kollektive Anerkennung der Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo und die Erteilung einer Daueraufenthaltsgenehmigung. Wir müssen Herrn Rama aus dem Kosovo zurückholen. Bitte beteiligen Sie sich an unserer Kampagne und unterstützen Sie die Gesellschaf für bedrohte Völker! Wir haben 200.000 Menschen jüdischer Abstammung aus den GUS-Staaten nach Deutschland geholt und etwa 2,5 Millionen Russlanddeutsche. Das waren konstruktive Konsequenzen aus unserer jüngsten Vergangenheit. Es wäre nicht zuviel verlangt, wenn wir den wenigen tausend Roma-Flüchtlingen aus dem Kosovo endlich eine dauernde Bleibe gewähren würden.

Aus pogrom-bedrohte Völker 255 (4/2009)