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Sinti und Roma in Europa

Seit Jahrhunderten diskriminiert und ausgegrenzt

Pogrom bedrohte Völker Nr. 254, 3/2009

Bozen, Juli 2009

Index

Editorial, Mauro di Vieste | Vorwort von Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parlaments: Sinti und Roma in Europa | Victoria Mohacsi - "Die derzeitige Lage ähnelt der vor dem Zweiten Weltkrieg" | Tina Schmidt - Österreichs Sinti und Roma im Zweiten Weltkrieg | Gerlinde Schmidt - Roma-Leben in Österreich: Ludwig Horvath | Christiane Fennesz-Juhasz - Ceija Stojka | Thomas Huonker - Die Schweiz und die "Zigeuner": Einreisesperre und Kindswegnahmen | Peter Mercer - "Die Regierung nimmt eine wichtige Rolle im Kampf gegen Diskriminierung ein" | Roma in Italien: Der Wind der Intoleranz | Paul Polansky - Sinti und Roma in Tschechien während des Zweiten Weltkriegs und heute | Till Mayer - Tschechien: Zwangssterilisation von Roma-Frauen | Gwendolyn Albert - Tschechische Republik: Roma mit Terror konfrontiert | Fadila Memisevic und Belma Zulcic - Roma in Bosnien-Herzegowina | Stephan Mueller - Roma in Serbien: Eine Bestandsaufnahme | Sarah Reinke - Roma in Russland: Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit am Rande der Gesellschaft

Editorial [ oben ]

Von Mauro di Vieste

Sinti und Roma in Europa. Seit Jahrhunderten diskriminiert und ausgegrenzt, pogrom / bedrohte Völker 254 (3/2009). Sinti und Roma in Europa. Seit Jahrhunderten diskriminiert und ausgegrenzt, pogrom / bedrohte Völker 254 (3/2009).

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die Minderheiten der Sinti und Roma in Italien leben weiterhin in menschenunwürdigen Situationen. Leider sieht die Lage in anderen europäischen Ländern nicht viel besser aus und trotz angeblicher jahrzehntelanger Integrationspolitik verbessert sich die Situation viel zu langsam um von einem Erfolg sprechen zu können. Für Sinti und Roma handelt es sich um einen wirklichen Notstand, dabei ist der Bevölkerungsanteil von Sinti und Roma gering genug als dass die Situation verhältnismässig leicht gemeistert werden sollte. Mehreren Schätzungen zufolge gibt es weltweit ungefähr 12 Millionen Sinti und Roma; in ganz Italien sind es gerade 150.000, was einem Bevölkerungsanteil von 0,25% ausmacht. Trotzdem werden sie als nationales Sicherheitsrisiko betrachtet und sie sind Opfer von Gewalt, Rassismus und Diskriminierung. In diesem Sinn interpretieren wir auch die aktuelle Lage: Der Rassismus, der im Text als "Wind der Intoleranz" definiert wird, weht weitgehend über verschiedene Teile der europäischen Gesellschaft und im Spezifischen über grosse Teil Gesellschaft in Italien.

Die Aussagen und Erklärungen verschiedener Politiker und Verwalter hören sich an als kämen sie aus der faschistischen Vergangenheit, als es noch Rassengesetze gab. Die Situation ist beunruhigend, denn anstatt effektive Integrationspolitiken für die Roma-Minderheiten auszuarbeiten, wird auf simplen Populismus und Rassismus gesetzt. Es handelt sich dabei um eine dumme und gefährlichen Vorgehensweise, die immer größere Vorurteile nährt und hervorruft, sowohl in der Mehrheitsbevölkerung als auch bei den Minderheiten selbst.

Auch die in der Vergangenheit allzu weiche Haltung der europäischen Institutionen gegenüber der italienischen Regierung hat kaum geholfen und scheint sich im Gegenteil wenig Sorgen um die gefährliche Verbreitung des Rassismus zu machen. Die Wirklichkeit, die sich hinter dem so genannten Roma-Problem versteckt, zeugt von einer verantwortungslos versäumten Integrationspolitik, insbesonders im Rahmen der Wohnpolitik. Die Lebensbedingungen in den so genannten "Nomadenlagern", wie es sie nur in Italien gibt, sind menschenunwürdig und sind in der Zwischenzeit zum stabilen Normalfall geworden. Italien ist das einzige Land der EU , in dem die öffentliche Hand ein auf das gesamte Staatsterritorium verteiltes Netz von Ghettos organisiert. Auf diese Weise wird es den Sinti und Roma unmöglich gemacht, sich zu integrieren und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Die Verurteilungen Italiens seitens der europäischen Institutionen in Bezug auf die Behandlung der Roma-Minderheit sind keine Einzelfälle: bereits 2005 hatte das Europäische Komitee für soziale Rechte die kollektive Klage gegen Italien des European Roma Rights Centre (ERRC - Europäisches Zentrum für die Rechte der Roma) als legitim erklärt. In der Klage des ERRC liest man, dass Italien vor allem im Rahmen der Wohnpolitik in der Theorie und in der Praxis eine diskriminierende Rassentrennungspolitik gegenüber Roma betreibt.

In den letzten Jahren wurden auf Regierungsebene keinerlei ernsthafte Versuche zu einer ernsthaften Wohnpolitik gemacht und das Problem wurde einfach an die Gemeinden abgeschoben. Was müssen wir uns nach den tragischen Vorfällen von Mai 2008 in den Roma-Lagern von Neapel und Mailand noch erwarten? Und welche Minderheit wird nach Sinti und Roma das nächste Opfer des billigen Populismus unserer Politiker werden?

Diese Sonderausgabe soll uns helfen, die wirkliche Lage der Sinti und Roma in Europa besser kennen zu lernen und zu verstehen. Zugleich soll sie die Hoffnung auf eine baldige Verbesserung der Situation vermitteln, vor allem, wie es der Präsident des Europäischen Parlaments Hans-Gert Pöttering ausdrückt, dank einer allgemeinen positiven Entwicklung unserer Gesellschaft. Ein hoffentlich gutes Omen für eine Zukunft des Miteinander in einem demokratischen Europa, in dem die Rechte aller Minderheiten respektiert werden.

Mauro di Vieste

Vorwort von Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parlaments [ oben ]

Sinti und Roma in Europa

Hans-Gert Pöttering, von Januar 2007 bis Juli 2009 Präsident des Europäischen Parlaments. Hans-Gert Pöttering, von Januar 2007 bis Juli 2009 Präsident des Europäischen Parlaments.

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

das Europäische Parlament setzt sich seit jeher für die Einhaltung der Menschenrechte in Europa und in der Welt ein. Dazu gehört im Besonderen auch der Einsatz für die Rechte von Minderheiten. Die ca. 10 Millionen Sinti und Roma in der Europäischen Union leiden leider auch heute noch unter struktureller Diskriminierung. Das Europäische Parlament hat die Entwicklungen für die Sinti und Roma in der Europäischen Union während der Legislaturperiode 2004 - 2009 genau beobachtet und sich in Resolutionen eindeutig für ihre Gleichbehandlung eingesetzt. Als einzig direkt demokratisch gewählte Institution in der Europäischen Union steht das Europäische Parlament immer an der Seite der Sinti und Roma und fordert ihre gleichberechtigte Einbeziehung in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens.

Historisch betrachtet haben die Sinti und Roma in vielen der Mitgliedsländer der Europäischen Union eine wichtige Rolle in den Gesellschaften übernommen, ohne jedoch eine vollständige soziale Eingliederung zu erreichen. Soziale Ausgrenzung, Armut und rassistische Diskriminierungen sind auch heute leider keine Seltenheit. Daher halte ich es für richtig und wichtig, dass das Europäische Parlament sich in seinen Resolutionen für den besseren Zugang der Sinti und Roma zum Arbeitsmarkt und zur Bildung einsetzt. Der Einsatz des Europäischen Parlaments wurde daher auch am 8. April 2009, dem Internationalen Tag der Roma, von der Gemeinschaft der Roma in Europa ausgezeichnet.

Für die Verbesserung der Lage der Sinti und Roma in der Europäischen Union sind neben politischen Entscheidungen vor allem auch gesellschaftlicher Wandel nötig. Daher freut es mich besonders, dass die vorliegende Ausgabe der "bedrohte Völker - pogrom" sich mit den Problemen und Herausforderungen der Sinti und Roma beschäftigt und damit einen Beitrag leistet, die Situation zu verbessern.

Ihr
Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parlaments am 22. Juni 2009

Viktoria Mohacsi [ oben ]

Victoria Mohacsi - "Die derzeitige Lage ähnelt der vor dem Zweiten Weltkrieg"

Victoria Mohacsi, ungarische Abgeordnete des Europaparlaments. Victoria Mohacsi, ungarische Abgeordnete des Europaparlaments.

Viktoria Mohacsi (34) ist ungarische Roma und seit 2004 Europaparlamentarierin in der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten. "bedrohte Völker – pogrom" befragte sie zu ihrer Arbeit im Europäischen Parlament und ihrer Sicht auf die Situation der Roma in Europa.

"bedrohte Völker - pogrom": Wie beurteilen Sie die derzeitige generelle Situation der Sinti und Roma in Europa sowie speziell in ihrem Heimatland Ungarn?
Mohacsi: Ich kenne die momentane Lage der Sinti nicht gut genug, um mir ein generelles Urteil erlauben zu können. Deswegen beschränken sich meine Antworten auf die Roma in Europa. Deren Situation gibt nicht einfach nur Anlass zur Sorge. Besonders in Italien und Ungarn, aber auch in anderen europäischen Ländern ähnelt ihre Lage der in den Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Meiner Meinung nach erinnert die Stimmung heutzutage, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß, definitiv an die Radikalisierung, die zu den antisemitischen, antihomosexuellen und antiziganistischen Erscheinungsformen während der Wirtschafskrise vor dem Zweiten Weltkrieg geführt hat. Wenn EU-Mitgliedsstaaten und die Gemeinschaf als Ganzes eine erneute derartige Tragödie verhindern wollen, müssen sie jetzt handeln.

"bedrohte Völker - pogrom": Wie kann die Europäische Union die Situation der Roma verbessern?
Mohacsi: Die EU tut viel in Bezug auf die Gesetzgebung. Es gibt zahlreiche gute Richtlinien, die, wenn sie richtig umgesetzt werden, zu sichtbareren Ergebnissen führen könnten. Natürlich könnte die EU-Gesetzgebung weiter verbessert werden, neue Richtlinien und Vorschriften könnten die Menschenrechtssituation der Roma weiter verbessern. Aber was zur Zeit viel wichtiger ist, ist dass die bereits bestehenden Gesetze umgesetzt werden. Dies betrifft nicht nur die EU-Gesetzgebung, sondern auch nationale Gesetze. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: In Ungarn gibt es seit einigen Jahren ein Gesetz, dass getrennte Schulen nicht toleriert werden dürfen. Trotzdem gibt es noch immer getrennte Roma-Schulen und -Klassen. Das ist das Ergebnis, wenn ein gutes Gesetz nicht umgesetzt wird. Ich habe mich persönlich sehr dafür eingesetzt und Druck auf Politiker ausgeübt, um genau dieses Gesetz umzusetzen, doch leider mit wenig Erfolg.

"bedrohte Völker - pogrom": Was können Roma tun, um sich selbst zu helfen und wie können andere sie unterstützen?
Mohacsi: Das ist eine sehr of gestellte Frage: "Wie können sich die Roma selbst helfen?", oder "Warum tun die Roma nicht mehr für sich selbst?". Nun ja, sie tun, was sie können. Zum Beispiel versuchen Roma-NGOs durch Lobbying Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen. Was können andere tun? Ich denke, man sollte den von den Roma geäußerten Bedenken und Sorgen zuhören und sie generell in Entscheidungsprozesse mit einbeziehen - insbesondere natürlich, wenn diese sie selbst betreffen. Die Politik sollte keinerlei rassistische Äußerungen oder Anti- Roma-Stimmungen tolerieren.

"bedrohte Völker - pogrom": Wie wird sich die Situation der Roma Ihrer Meinung nach in den nächsten zehn Jahren entwickeln.
Mohacsi: Das weiß ich nicht, ich bin ja keine Hellseherin. Ich kann nur hoffen, dass die positiven Initiativen wie die Dekade der Roma-Integration zu maßgeblichen Verbesserungen führen werden. Schlimmstenfalls, befürchte ich, werden Roma von aller Welt ignoriert, noch weiter marginalisiert und in noch dunklere und total verarmte Ghettos verdrängt. Ich hoffe jedoch sehr, dass dies nicht ihre Zukunft sein wird.

Österreichs Sinti und Roma im Zweiten Weltkrieg [ oben ]

Von Tina Schmidt

Schätzungen zufolge leben heute zwischen 20.000 und 40.000 Sinti und Roma in Österreich. Zwischen 1938 und 1945 kamen etwa 8.000 österreichische Sinti und Roma um. Das waren etwa zwei Drittel der dort ansässigen Volksgruppe. Ab 1940 wurden sie vor allem im "Zigeunerlager" Lackenbach zur Zwangsarbeit genötigt, viele wurden in Vernichtungslager deportiert.

Appell inhaftierter Roma Lackenbach um 1940/41. Appello dei prigionieri Rom a Lackenbach nel 1949/41.

Vor der NS-Zeit lebten etwa 11.000 Sinti und Roma in Österreich (1) - unter ihnen Sinti, die in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts massenweise aus Deutschland eingewandert waren und Splittergruppen der Lovara und Kalderasch. Die größte Gruppe waren die Burgenland-Roma, die im 16. Jahrhundert in das heutige Burgenland (ehemals Westungarn) kamen und dort im 18. Jahrhundert zwangsangesiedelt wurden. Sie mussten ihr Nomadentum und ihre Unabhängigkeit aufgeben, blieben aber eine Außenseitergruppe in der österreichischen Gesellschaft und bewohnten ghettoartige "Zigeunersiedlungen" außerhalb der Ortschafen. In den 1930er Jahren lebten zwischen 7.000 und 8.000 Roma im Burgenland.

NS-Herrschaft und die Vernichtung der Sinti und Roma
Die Situation spitzte sich für die Roma insbesondere ab den 1920er Jahren zu. Die österreichische Polizei begann, Jagd auf Roma und Sinti zu machen, um der "Zigeunerplage" entgegenzuwirken. Seit 1928 führte sie eine "Zigeunerkartei", die über 14 Jahre lang etwa 8.000 Sinti und Roma erfasste und ihre Fingerabdrücke enthielt. Die Nationalsozialisten schürten in den 1930er Jahren weiter die feindselige Atmosphäre gegenüber Roma mit Hetzparolen wie "Burgenland zigeunerfrei". Tobias Portschy, Gauleiter des Burgenlandes, der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg und auch nach 1945 gegen österreichische Roma agierte, veröffentlichte im August 1938 seine Denkschrift zur Lösung der "Zigeunerfrage". Darin schlug er zur Vernichtung der Sinti und Roma Zwangsarbeit, Deportation und Sterilisation vor.

Unter Portschys Leitung setzten im März 1938 erste systematische Verfolgungsmaßnahmen gegen Sinti und Roma ein. Der Schulbesuch und Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen wurde ihnen verboten. Arbeitsfähige Burgenland-Roma konnten nun zur Zwangsarbeit genötigt werden. Ein Grunderlass vom Dezember 1938 definierte die "Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus". Kriminalpolizeistellen richteten "Zigeunerreferate" ein und erstellten Rassendiagnosen, auf deren Grundlage Sinti und Roma verhafte wurden.

Zu ersten Deportationen kam es ein Jahr später infolge des Erlasses "zur Bekämpfung der Zigeunerplage im Burgenland". Roma dürfen ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen. Ab 1940 mussten sie Zwangsarbeit in "Zigeunerlagern" verrichten. Durch ihre Inhaftierung erreichte die NS-DAP ihr Ziel einer "Ausgliederung der biologischen Volksschädlinge aus dem deutschen Volkskörper". Nach einzelnen Deportationen in Konzentrationslager begann 1940 die Einweisung sämtlicher Sinti und Roma in die Sammellager Lackenbach und Salzburg-Maxglan sowie das Arbeitslager Weyer.

Dokument aus dem österreichischen KZ Lackenbach. Dokument aus dem österreichischen KZ Lackenbach.

Das "Zigeunerlager" Lackenbach Das größte Sammellager war das am 23. November 1940 auf einem alten Gutshof eröffnete Lager Lackenbach im mittleren Burgenland, das die Wiener Gestapo verwaltete. Die meisten Häftlinge kamen aus dem Burgenland, daher stellten Roma den Großteil der Lagerbelegschaf. Zahlreiche Sinti, unter anderem aus Süddeutschland, wurden ebenfalls eingewiesen. Von Anfang an befanden sich auch Frauen und Kinder unter den Inhaftierten.

Die Gefangenen hatten Zwangsarbeit zu errichten, einige von ihnen außerhalb des Lagers. Sie arbeiteten schwer und litten unter der geringen Verpflegung und dem Wassermangel. Stallungen dienten als Behausungen. Teilweise mussten bis zu 200 Menschen in einem Raum leben. Sanitäre Einrichtungen ließ die Lagerleitung erst um die Jahreswende 1941/42 aufstellen, als eine Typhusepidemie ihre eigene Sicherheit gefährdete. Die Häftlinge wurden im Lager eingesperrt und sich selbst überlassen. Jegliche medizinische Versorgung wurde eingestellt. Die Epidemie forderte geschätzte 250 bis 300 Todesopfer.

Zwischen 1940 und 1945 zählten Prügelstrafen, stundenlanges Appellstehen, Essensentzug und Zwangsarbeit zum Lageralltag. Die tägliche Arbeitszeit lag zwischen acht und elf Stunden. Dabei herrschte Sprechverbot, bei Verstößen waren Misshandlungen und Bestrafungen zu erwarten.

Auch Kinder mussten arbeiten. Auf jeden Flüchtenden sollte geschossen werden. Für die meisten Eingewiesenen war Lackenbach nur eine "Durchgangsstation". Das entscheidende Kriterium war die Arbeitsfähigkeit. Viele Kleinkinder und Alte wurden daher deportiert. Vor der ersten Deportation im November 1941 erreichte das Lager mit 2.335 Personen seine größte "Auslastung". 2.000 von ihnen wurden in das KZ Lódz deportiert. Von dort kamen viele in das Vernichtungslager Kulmhof. Mindestens 2.760 Sinti und Roma wurden ab 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet.

Von den etwa 4.000 Lackenbacher Häftlingen erlebten nur einige hundert die Auflösung des Lagers Ende März 1945. Kurz bevor sowjetische Truppen eintrafen, zog sich die Lagerleitung zurück und überließ die Häftlinge sich selbst. Offiziell konnten 237 Todesfälle in diesem Lager ermittelt werden. Zeugenaussagen lassen aber auf deutlich mehr Opfer schließen.

Das Schicksal der Überlebenden
Die Überlebenden waren durch die KZ-Haft geschwächt und gesundheitlich schwer geschädigt. Viele waren Experimenten auf den Versuchsstationen der Lager ausgesetzt, manche hatten sich "freiwillig" sterilisieren lassen, um einer Lagerhaft in Auschwitz zu entgehen. Die Heimkehrer standen vor dem Nichts. Ihre Häuser waren zerstört, Gemeinden verweigerten ihnen den Zuzug. Stattdessen mussten sie in Koloniesiedlungen an Ortsrändern leben, die nun noch weiter von den Dörfern entfernt waren als vor dem Zweiten Weltkrieg.

Ehemalige Insassen des Lagers Lackenbach kämpfen viele Jahre um Entschädigungen. Eine erste öffentliche Anerkennung ihres Leidens im Zweiten Weltkrieg stellte die Enthüllung des Mahnmals für Sinti und Roma am 6. Oktober 1984 im ehemaligen Lager Lackenbach dar. Dies war vor allem auch der Verdienst jahrelanger Bemühungen der jüdischen Historikerin Selma Steinmetz und der GfV-Österreich-Mitarbeiterin Miriam Wiegele.

Zu einer ernstzunehmenden Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte von Sinti und Roma in Österreich, wie sie seit 1979 in Deutschland erfolgte, kam es aber nicht. Im Burgenland leben heute kaum noch 700 Roma. Die "Zigeunersiedlungen" verschwinden allmählich. Nur wenige Roma haben eine abgeschlossene Schulbildung oder eine Berufsausbildung. Obwohl sie sich an die Lebensverhältnisse der übrigen Bevölkerung angepasst haben, gelingt nur wenigen der soziale Aufstieg. 1993 erkannte die österreichische Regierung sie offiziell als Minderheit an. Doch nach wie vor sehen sich Sinti und Roma deshalb starken Diskriminierungen ausgesetzt.

(1) Erika Turner: Roma im Burgenland/Österreich. Das "Zigeunerlager" Lackenbach. In: Pogrom Nr. 116/117, Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen 1985.

Roma-Leben in Österreich [ oben ]

Ludwig Horvath

Von Gerlinde Schmidt. Mit freundlicher Genehmigung von Romano Centro.

Ludwig Horvath mit seiner ungarischen Romni-Frau. Ludwig Horvath mit seiner ungarischen Romni-Frau.

Als im 9. Jahrhundert im Zuge der bairischen Ostsiedlung das von da an deutschsprachige östliche Österreich entstand, wurde auch der westlichste Teil Ungarns, das spätere Burgenland, zu einer mehrheitlich deutschbesiedelten Region. Nach dem Ende der Donaumonarchie musste dieses Gebiet von Ungarn abgetreten werden. So kam 1921 ein Bundesland zu Österreich hinzu, in dem neben der deutschen Mehrheit eine alteingesessene ungarische Volksgruppe (heute 2,4 Prozent), die burgenländischen Roma sowie eine kroatische Minderheit (1921 rund 15 Prozent, heute sechs Prozent) ansässig sind, die nach dem 15. Jahrhundert vor den Türken nach Westungarn geflüchtet war. Trotz österreichischer Volksgruppengesetze und der Minoritäten Unterstützung durch die Europäische Union klagen nicht nur die Roma über Zurücksetzungen und Majorisierungen der nichtdeutschsprachigen Gemeinschafen. Die jüdische Minderheit wurde im Dritten Reich enteignet, vertrieben oder ermordet.

Berufstätig ist Ludwig schon, seit er gehen und Dinge einsammeln kann - das war nötig, um sich ein Zubrot zu verdienen. Er wurde 1951 in der Oberwarter Roma-Siedlung geboren. Alle Erwachsenen dort waren vom KZ gezeichnet, von der Gemeinde wurden sie ignoriert. Mit dieser Herkunft war seine Schullaufbahn besiegelt: Einen Platz zum Lernen hatte er nicht, da in seinem Elternhaus zehn Menschen auf 16 Quadratmetern lebten. Elektrizität gab es nicht, ebenso wenig wie fließendes Wasser, mit dem Petroleum für die Lampe wurde gespart. In der Siedlung lebten großteils Analphabeten und gesprochen wurde mehr Burgenland-Roman als Deutsch: "Den Lehrern war es am liebsten, wenn du gar nicht gekommen bist, oder sie haben dich gleich in die Sonderschule gesteckt." Als Ludwig acht war, kam die Polizei in die Schule und nahm die Roma-Kinder mit: "Sie holten uns aus dem Klassenzimmer und brachten uns auf das Revier, dort machen sie Fotos und nahmen unsere Fingerabdrücke, die Lehrer haben nichts gesagt. Unsere Eltern auch nicht, die hatten Angst vor den Behörden."

Seine Schullaufbahn endete nach den acht verpflichtenden Schuljahren: "In diesen acht Jahren blieb ich viermal sitzen." Ab 15 verrichtete er Schwerstarbeit am Bau in Wien, in Oberwart wäre er ohne Arbeit geblieben. Diese Zeit zog seinen Körper arg in Mitleidenschaf. Mit 20 lernte er eine ungarische Romni kennen, er verliebte sich, heiratete sie und er zog zu ihr. In Ungarn erhielt er erstmals in seinem Leben eine Chance. Er wurde zum Wald- und Forstarbeiter ausgebildet, was ihm große Freude bereitete: "Es ging mir finanziell und mit allem besser als in Oberwart. Wenn mein Bruder zu Besuch war, sind wir immer essen gegangen und ich habe alles bezahlt." Das Glück währte nicht lange, da Ludwig seine Wurzeln nicht verleugnete. Sein Schwiegervater, obwohl er selbst mit einer Romni verheiratet war, forderte Ludwig auf, den Kontakt zu den ungarischen Roma abzubrechen. So zog die mittlerweile vierköpfige Familie nach Oberwart.

Dort war es vorbei mit dem sorglosen Leben. Ludwig musste wieder auf den Bau, wo man ihn stark spüren ließ, was man von den Roma hielt. Zwar verhielten sich seine Vorgesetzten korrekt, seine Kollegen jedoch nicht. Ins Wirtshaus gehen wollte er nicht mehr, da man als Rom vor 20 Jahren in Oberwart nicht sicher sein konnte, ob man bedient werden würde. Auch die Kinder spürten die Vorurteile stark. Selbst Übergriffe der Polizei gegen die Bewohner der Siedlung waren keine Seltenheit. Erst mit der Gründung der Roma-Vereine veränderte sich die Situation zum Besseren. 1995 starben vier Roma aus der Siedlung bei einem Attentat. Die Roma von Oberwart waren plötzlich in den Medien so präsent, dass die Gemeinde Oberwart handeln musste.

Sie renovierte die "abbruchreife Siedlung". Die letzten beiden Kinder hatten es wesentlich einfacher als die ersten, da bei ihnen die Arbeit der Roma-Vereine schon fruchtete und zumindest offene Diskriminierung nicht mehr toleriert wurde. Zuerst interessierte sich Ludwig wenig für die Tätigkeiten der Roma-Vereine, schon gar nicht für die Sprache. Heute ist er ein großer Unterstützer des Vereins "Roma-Service". Als Ludwig dort seine Sprache schreiben lernte, begann er, Gedichte und Märchen zu verfassen. 2006 startete der Roma-Verein sein für die eigene Geschichte sowie für die Forschung bedeutsames Holocaust-Zeitzeugenprojekt. Ludwig wurde dafür als Interviewer herangezogen.

Auch für die Kirche ist Ludwig ehrenamtlich tätig. Hier stärkt er das Vertrauen der Kirche zu den Roma. 2005 wurde er aus gesundheitlichen Gründen für ein Jahr in Pension geschickt, dann wieder gesund geschrieben. Seitdem ist er arbeitslos gemeldet, da er nur noch Tätigkeiten, welche ihn physisch weniger beanspruchen, nachgehen könnte. Für derartige Tätigkeiten fehlt Ludwig jedoch die Ausbildung. "Als Hilfsarbeiter hast du in diesem System einfach keine Chance."

Ceija Stojka [ oben ]

Von Christiane Fennesz-Juhasz

Die österreichische Roma Ceija Stojka: 1943 nach Auschwitz deportiert, 1945 in Bergen-Belsen befreit. Die österreichische Roma Ceija Stojka: 1943 nach Auschwitz deportiert, 1945 in Bergen-Belsen befreit.

Dem schön gestalteten Band im Quartformat sind zwei kurze Gedichte Ceija Stojkas vorangestellt, die die prägenden Erfahrungen und die (Über-)Lebensphilosophie der Künstlerin umreißen. Im ersten, das dem Buch den Titel gab, benennt sie die schrecklichen Orte, die sie seit ihrer Kindheit wie Kleidungsstücke mit sich tragen muss: Auschwitz (wohin sie 1943 als neunjährige gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren fünf Geschwistern deportiert wurde), Ravensbrück und Bergen-Belsen (wo sie im April 1945 befreit wurde).

Das zweite Gedicht widmet die bekannte Autorin und Malerin ihrer Lieblingsblume: "sie ist leben … die Sonnenblume bringt uns zum lachen". Entsprechend diesen beiden Leitmotiven sind rund 80 Werke Ceija Stojkas - nur scheinbar ohne erkennbare Ordnung - abgebildet: traumatische Erinnerungen an die Konzentrationslager und das Morden der SS wechseln mit bunten Szenen und der blühenden Natur.

Täglich zu malen oder zu schreiben braucht sie für sich selbst, wie Ceija Stojka selbst berichtet: "Es würde mich wahrscheinlich erdrücken, wenn ich das alles schlucken müsste" (S. 32). Doch drängt es sich auch, die inneren Bilder, "wie die Rom gelebt haben und wie sie leben", hervorzuholen. Die einzelnen Abbildungen sind jeweils mit Titel bzw. ihren Inhalt erläuternden Kurzkommentaren (in Romanes und Deutsch) sowie mit Datierung und Angaben zu Originalgröße und Technik/Material versehen.

Die vorliegenden Gemälde (entstanden 1991-2008) sowie der Grafikzyklus "sogar der Tod hat angst vor Auschwitz" (1997-2004) stellen einen repräsentativen Querschnitt aus Ceija Stojkas umfangreichem Werk dar. Vervollständigt wird diese gelungene Zusammenstellung durch einen Abriss der Geschichte der Roma (im Anhang) sowie durch den einleitenden Text "Sie waren Rom vom Stamm der Lowara". Hier erinnert sich Ceija an den Alltag ihrer Familie in der Zwischenkriegszeit, um dann ergreifend die Verfolgung durch die Nazis und das Leiden und Überleben in den Lagern zu schildern.

Ceija Stojka, Auschwitz ist mein Mantel. Bilder und texte. Hg.: Christa Stippinger. Edition Exil, Wien 2008, 134 Seiten.

Die Schweiz und die "Zigeuner" [ oben ]

Einreisesperre und Kindswegnahmen

Von Thomas Huonker

Mit der Besetzung des Lido-Areals beim Verkehrshaus Luzern im Jahr 1985 verschafte die Radgenossenschaft ihrer Forderung für mehr Stand- und Durchgangsplätze mehr Nachdruck. Mit der Besetzung des Lido-Areals beim Verkehrshaus Luzern im Jahr 1985 verschafte die Radgenossenschaft ihrer Forderung für mehr Stand- und Durchgangsplätze mehr Nachdruck.

In der Schweiz wurde eine der frühesten Einreisesperren gegen Roma erlassen, 1471 in Luzern. Bis 1972 versuchte das kleine Alpenland, sein Territorium von den als "Zigeunerbanden" stigmatisierten Gruppen freizuhalten. Mittels Bettlerjagden" wurden die Vertreibungserlasse alljährlich vollzogen. Die Vertriebenen wurden verprügelt und gebrandmarkt. Wer zum zweiten Mal ergriffen wurde, wurde gehängt oder auf die Galeeren befreundeter Mächte verkauf.

Neubürger zweiter klasse
Im 19. Jahrhundert hießen die Bürgerrechtslosen Heimatlose und galten als gefährliche Elemente. Die Revolutionswelle von 1848 hatte nur in der Schweiz die Einrichtung einer stabilen liberalen, demokratischen Regierungsform zur Folge. Auch die sogenannten Vaganten unter den damaligen Papierlosen, die fahrenden Jenischen, erhielten nun das Schweizer Bürgerrecht und das Wahlrecht. Doch die Einbürgerung wurde den allerärmsten kleinen Berggemeinden auferlegt, wo die Neubürger Menschen zweiter Klasse ohne Anteil an den kommunalen Alpweiden und Bergwäldern blieben. Gleichzeitig verbot ihnen das Einbürgerungsgesetz von 1850 das "Herumziehen mit schulpflichtigen Kindern", also ihre bisherige fahrende Lebensweise. Ab 1874 erschwerten schikanöse kantonale Hausiergesetze den Lebensunterhalt der Wandergewerbetreibenden. Wer die erklärtermaßen auf die zwangsweise Sesshaftmachung der Fahrenden zielenden Vorschriften nicht einhielt, wurde kriminalisiert. So waren sie niemals gemäß ihrer Bevölkerungszahl in den staatlichen Gremien repräsentiert und sind es auch bis heute nicht.

Einreisesperre von 1888 bis 1972
Immerhin verwirklichten die 1848er Liberalen in der Schweiz für die folgenden 40 Jahre die Personenfreizügigkeit für alle, auch für "Bärenführer" und andere Roma aus Osteuropa. Doch 1888 war es damit schon wieder vorbei. Die Grenzkantone beschlossen erneut die Abweisung der "Zigeunerbanden". 1906 folgte ein Verbot für "Zigeuner", in schweizerischen Eisenbahnen zu reisen - außer zwecks Deportation, im Gefängnisabteil.

1911 ersann der Berner Polizeibeamte Eduard Leupold ein spezielles Verfahren der Abwehr. Illegal eingereiste Familien von Sinti, Roma und Jenischen wurden polizeilich aufgegriffen und getrennt. Die Männer kamen in die Strafanstalt Witzwil, Frauen und Kinder in Heime von Caritas und Heilsarmee. Im Zug dieser "Identifikationshaft" wurden von ihnen Fingerabdrücke genommen und sie wurden fotografiert. Diese Daten füllten das gesamtschweizerische "Zigeunerregister", unter Abgleichung und Datenaustausch mit ähnlichen Registraturen in München oder Wien.

Nach einigen Monaten wurden die Familien dann an den Grenzen wieder zusammengeführt - anlässlich ihrer Deportation. Die Ausweisungen erfolgten schwarz, sodass die Vertriebenen of von den Behörden der Nachbarstaaten wieder in die Schweiz zurückgejagt wurden. Nach jahrzehntelangem Hin und Her rang sich die Schweiz 1936 dazu durch, für drei Familien von Sinti, die seit Jahrzehnten illegal in der Schweiz gelebt hatten, eine Ausnahme zu machen und ihren Aufenthalt zu tolerieren. Alle anderen als "Zigeuner" Erkannten wurden nach wie vor ausgewiesen. So wurde 1944 der junge Sinto Anton Reinhardt nach Nazideutschland zurückgeschickt, wo ihn der SS-Mann Karl Hauger 1945 ermordete.

Familientrennung, Kindswegnahmen, Missbrauch und Kastration
Im Zug des Leupoldschen Familientrennungs- und Ausweisungsverfahrens waren einige versprengte "Zigeunerkinder" nach dem Ersten Weltkrieg von allen Verwandten isoliert in der Schweiz verblieben. Die Behörden steckten sie in Anstalten oder setzten sie als billige Kinderarbeiter bei Bauern ein. Einer dieser isolierten Jugendlichen, Josef Anton R., wurde 1934 in Bern auf Grund eines Gutachtens des dort wirkenden deutschen Psychiaters Herbert Jancke kastriert, der bekennender Nazi war. Josef Anton R. verblieb zeitlebens, wie auch einige andere dieser insgesamt etwa 20 Kinder, bis zu seinem Tod im Jahr 1972 in schweizerischen Anstalten.

Von 1926 bis 1972 führte die schweizerische Stiftung Pro Juventute ein ähnliches Verfolgungsprogramm in großem Stil gezielt gegen die jenischen Mitbürger durch. Der 1924 wegen Unzucht mit einem Schüler verurteilte und entlassene Lehrer Alfred Siegfried, der kurz darauf Angestellter der Pro Juventute geworden war, leitete im Rahmen dieser staatlich geförderten Stiftung sein "Hilfswerk für die Kinder der Landstraße" bis 1958. Dem pädophil-kriminellen Vormund wurden mit Hilfe der Behörden, aber unter Umgehung rechtlicher Vorschriften, rund 600 jenische Kinder zugeführt. Siegfried brachte sie in Anstalten oder als Kinderarbeiter bei Bauern unter. Viele von ihnen sowie auch ihre Eltern, die sich vergeblich wehrten, verbrachten auf Grund administrativer Einweisung Jahre in Strafanstalten wie Bellechasse - ohne Gerichtsurteil.

Dutzende dieser Mündel des "Hilfswerks" endeten als Dauerpflegefälle in psychiatrischen Kliniken. Dort wurden ihre Daten als Beweismaterial für die rassistischen Theorien des Schweizer Psychiaters Josef Jörger gesammelt, wonach Jenische "erblich minderwertig" seien. Diese von Jörger schon 1905 in einer "rassenhygienischen" Zeitschrift publizierte Theorie übernahm dann Robert Ritter, Zentralfigur des nazistischen Genozids an Sinti, Roma und Jenischen.

Auch der Nachfolger Siegfrieds als "Hilfswerk"-Leiter, Peter Döbeli, missbraucht seine Schutzbefohlenen. Doch die Organisation wurde erst 1973 aufgelöst. In einigen Kantonen, so zum Beispiel im Kanton Schwyz, führten die Behörden in eigener Regie Familientrennungen, Anstaltseinweisungen und Zwangssterilisationen von Jenischen durch. Hier dauerte die systematische Verfolgung der jenischen Volksgruppe sogar bis in die 1980er Jahre an.

Unterschiedliche Reihenfolge des Organisationsaufbaus von Jenischen, Sinti und Roma
1975 gründeten die Verfolgten in Bern die Bürgerrechtsorganisation Radgenossenschaf der Landstraße. Die darin hauptsächlich organisierten Jenischen forderten Plätze für Wohnwagen, Akteneinsicht, wissenschaftliche Aufarbeitung ihrer Verfolgung und Abschaffung oder zumindest einen Preisnachlass auf die Hausierpatente. Diesen Forderungen kamen die Behörden nur unwillig nach und verzögerten ihre Verwirklichung mit vielen Tricks und Finten um Jahrzehnte. Insbesondere die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verfolgung und Diskriminierung kam erst ab 1998 in Etappen zustande. Kein Wunder, war doch die Wissenschaft (Justiz, Psychiatrie, Medizin) selber darin verstrickt. Unterdessen hat sich die Thematik aber in der Wissenschaft etabliert.

Die Roma gründeten in der Schweiz erst in den 1990er Jahren eigene Organisationen. Dies auch deshalb, weil in den 1990er Jahren viele Roma als Kriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien in der Schweiz Asyl erhielten. Andere Roma waren schon vorher, etwa ab 1960, in die Schweiz gekommen, ohne sich als solche erkennen zu geben.

Somit verlief die Entwicklung in der Schweiz umgekehrt wie in Österreich oder in Deutschland, wo sich zuerst Sinti und Roma organisierten, während erst in den letzten Jahren auch die Jenischen dieser Länder Organisationen aufbauten und die Anerkennung als eigenständige Volksgruppe zu fordern begannen. Ebenso wünschen sie die Aufarbeitung auch ihrer Verfolgung durch das Naziregime, wozu in den letzten Jahren endlich einige wichtige Bücher erschienen und weitere wohl folgen werden.

Peter Mercer [ oben ]

"Die Regierung nimmt eine wichtige Rolle im Kampf gegen Diskriminierung ein"

Peter Mercer. Peter Mercer.

Peter Mercer, heute einer der Senioren der britischen Gypsy-Bewegung, hat viele Jahre lang mit der Gesellschaft für bedrohte Völker zusammengearbeitet und war einer der Inspiratoren der internationalen Romani-Union. Er hatte 1981 wesentlich zum Gelingen des Roma-Welt-Kongresses 1981 beigetragen, der organisiert von der GfbV in Göttingen, unter Schirmherrschaft der später ermordeten indischen Premierministerin Indira Ghandi und dem großen Humanisten und "Nazi-Jäger" Simon Wiesenthal stand. Ich hatte das Privileg, zwei Wochen mit der Familie Mercer im Wohnwagen in Peterborough zu leben und seine vielfältige Arbeit für seine Gypsy-Landsleute zu erleben. Gemeinsam mit Peter und Katrin Reemtsma initiierten wir eine Pressekonferenz in Dublin für die damals vielfach diskriminierten irischen Tinker und stellten eine Dokumentation über ihre Situation vor. (Tilman Zülch)

bedrohte völker: Wann haben Sie begonnen, sich aktiv an der Roma-Bewegung zu beteiligen?
Peter Mercer: Ich bin seit 1976 in der Bewegung aktiv. Ich nahm mich der Gesetzgebung an sowie der Diskriminierung, die damals sehr weit verbreitet war, ganz besonders in meinem Wohnort Peterborough in der Nähe von Cambridge. Ich begann, für eine lokale Partei zu arbeiten. Damals gründeten wir auch den "East Anglia Gypsy Council", der bis heute wichtige Basisarbeit leistet. Im Laufe der Zeit wurden viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gegründet, die für die Roma auf regionaler Ebene arbeiteten. Dies half, die Gypsy-Gemeinde besser zu vernetzen und diese zu stärken. Ihre Situation verändert sich deshalb.

bedrohte völker: Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation der "Gypsies" in Großbritannien?
Peter Mercer: Ihre Lage hat sich in den letzten Jahren zwar verbessert, aber sie ist noch immer unzulänglich. Natürlich ist es schwieriger, ihre Lage zu verbessern, weil sie ein fahrendes Volk sind und sich nicht an einem bestimmten Ort niedergelassen haben.

bedrohte völker: Was tun Sie persönlich zurzeit?
Peter Mercer: Ich bin noch immer in die Arbeit der Roma-Bewegung involviert - auf lokaler wie internationaler Ebene. Ich sitze im Vorstand mehrerer Roma-Organisationen und habe derzeit den Vorsitz der Nationalen Föderation der Gypsy-Vereinigungen. Ich war 13 Jahre lang im Parlament und bin jetzt Mitglied der Internationalen Roma Union (IRU), die zusammen mit der Gesellschaft für bedrohte Völker den Sinti-und-Roma-Kongress in Göttingen 1981 organisiert hat. Ich wurde für meine Arbeit als "Member of the British Empire" (Mitglied des Britischen Reiches, d. Red.) ausgezeichnet, und darf deshalb den Titel MBE neben meinem Namen führen. Meine Hauptaufgabe besteht darin, mit verschiedenen Ministerien der Regierung über Gesetzesangelegenheiten genauso zu sprechen wie über die Behandlung der Roma-Gemeinden.

bedrohte völker: Was tut die britische Regierung für die Roma?
Peter Mercer: Die derzeitige Regierung arbeitet daran, alte Gypsy-Campingplätze wieder in Stand zu setzen. Teilweise werden sogar neue gebaut. Außerdem wird viel getan in Sachen Diskriminierung. Die Regierung nimmt eine wichtige Rolle im Kampf gegen Diskriminierung ein. Es passiert so viel, dass wir es manchmal selbst gar nicht wissen. Obwohl wir nicht immer mit der Regierung übereinstimmen, gibt es einen guten Dialog - viele Treffen, Diskussionen und Konferenzen. Viel wurde bereits getan und dennoch wird gerade erst begonnen, das Problem wahrzunehmen.

bedrohte völker: Wie sieht die Unterstützung der Roma durch die EU aus?
Peter Mercer: Es ist sehr schwer mit der EU zusammenzuarbeiten. Wir bekommen nur wenige Rückmeldungen von der EU - sie hat mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen.

bedrohte völker:
Was tut die Gypsy-Gemeinde für sich selbst? Peter Mercer: Wir haben eine Vielzahl von Projekten am Laufen, aber leider nicht so viele wie wir gern hätten. Dabei arbeiten wir auch mit Roma aus Osteuropa zusammen und versuchen so, eine Art europäisches Netzwerk aufzubauen. Wir bieten Kurse von und für Roma an. Das sind beispielsweise Trainingsprogramme zur Vermittlung bei Konflikten oder auch Bildungsprogramme. Ich wünschte mir jedoch, dass wir mehr solche Kurse hätten.

bedrohte völker: Die Bezeichnungen "Roma" und "Gypsy" sind nur sehr allgemeine Oberbegriffe. Wie nennen sie sich denn selbst in Großbritannien?
Peter Mercer: Es gibt verschiedene Gruppen. Zum einen sind da die Roma, die traditionellen englischen Gypsies in England und Wales. Dann gibt es die sogenannten Kale in Nordwales. Außerdem gibt es Roma aus Europa: aus Polen, Tschechien und anderen Ländern. Die irischen Travellers sind keine Gypsies, genauso wenig wie die schottischen Travellers oder die sogenannten Longboat People. Es gibt also sehr viele verschiedene Gruppen.

bedrohte völker: Was meinen Sie, müssten Regierungen, NGOs und die Roma selbst zur Verbesserung ihrer Lage in Zukunft tun?
Peter Mercer: Über Jahrhunderte wurden die Roma diskriminiert und von der Gesellschaft ausgeschlossen. Es war ein Schwerverbrechen Gypsy zu sein. Das macht es besonders schwer für sie selbst zu handeln, sich zu modernisieren und zu versuchen, von der restlichen Bevölkerung akzeptiert zu werden. Aber Anti-Diskriminierungsgesetze sind dabei eine große Hilfe. Die Regierung kann auf alle Fälle helfen, indem sie Familien Campingplätze usw. zur Verfügung stellt und ihnen so erlaubt, sich niederzulassen. Aber nicht alle wollen sich niederlassen, manche möchten gern ihren fahrenden Lebensstil beibehalten. Das gilt in Großbritannien als nomadisch, doch Nomadentum ist hier illegal. Deshalb muss das Wort "nomadisch" neu definiert werden. Das Fahren muss legalisiert werden. Auch die einzelnen Campingplätze sollten ein Netzwerk bilden, damit die Roma-Familien wissen, wohin sie gehen und für einige Tage verweilen können, anstatt umhergejagt zu werden. Die Regierung muss Programme einrichten, die die Situation auf den Plätzen überwachen - auch auf den permanent eingerichteten. Ich habe Angst, dass die nächste Regierung nicht mehr so viel für die Roma tun wird. Deshalb müssen wir so viele Probleme wie möglich versuchen unter der jetzigen Regierung zu lösen.

bedrohte völker: Wie wird sich die Situation Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren für die Roma entwickeln?
Peter Mercer: Wie gesagt, es müssen weitere Campingplätze zur Verfügung gestellt werden und man muss den Leuten eine Möglichkeit geben, sich niederzulassen, da spielt insbesondere die Regierung eine wichtige Rolle. Aber es ist auch ganz besonders wichtig, dass den individuellen Bedürfnissen der Familien Aufmerksamkeit geschenkt wird. Man muss mit ihnen zusammenarbeiten und sie auch sozial in die Gesellschaft integrieren, ihnen also Bildung und Krankenhäuser usw. zur Verfügung stellen. Wir versuchen eine Menge zu erreichen, aber die Dinge geschehen nur sehr, sehr langsam. Man muss mit vielen Leuten zusammenarbeiten, um gegen die Widerstände in der Gesellschaft anzukämpfen - wie zum Beispiel die Weigerung der Leute, wenn sie keine Campingplätze in ihrer Nähe haben wollen. Ich hoffe, dass sich unsere harte Arbeit der letzten Jahrzehnte irgendwann auszahlt, denn bisher haben wir insgesamt nur wenig erreicht.

Roma in Italien [ oben ]

Der Wind der Intoleranz

Von Elisabetta Vivaldi

'Dass Italien nicht die Schande der Rassengesetzgebung vergisst': Roma-Kinder bei einer Demo in Italien im Jahr 2008. "Dass Italien nicht die Schande der Rassengesetzgebung vergisst": Roma-Kinder bei einer Demo in Italien im Jahr 2008.

Die Ankunft der ersten Roma in Italien liegt bereits Jahrhunderte zurück. Historikern zufolge kamen die ersten Roma im Laufe des 15. Jahrhunderts nach Europa, wie auch die damaligen Chroniken bezeugen. Offizielle Dokumente sprechen von Gruppen, die mit Frauen und Kindern, Pferden und Wagen durch das Land zogen, geführt von einem Anführer, vojvoda, Herzog, Meister oder einem Herren. Einige dieser Gruppen wurden als "Büßer" oder "Pilger" bezeichnet, sie lebten von öffentlichen Almosen und privaten Konzessionen.

Eines der ersten Dokumente, das von der Anwesenheit von Roma auf der italienischen Halbinsel zeugt, ist die Cronica di Bologna aus dem Jahr 1422 (Liégeois J-P, 1995, S. 15-16). Das Papier gibt Auskunft über Herzog Andrea, der zusammen mit seinen Leuten aus Ungarn nach Bologna kam. Von einem ungarischen Herrscher wurde diese Roma-Gruppe gezwungen, sich zum Christentum zu bekennen. Wer sich weigerte, wurde getötet. Die neu Getauften erhielten einen Schutzbrief, um nach Rom zum Vatikan zu pilgern, bevor sie wieder zurückkommen durften. Dem Manuskript nach, erlaubte ihnen der Schutzbrief, "überall zu stehlen, ohne hingerichtet zu werden". In Bologna angekommen, errichteten die Roma ihr Lager beim Tor von Galiera, während ihr Anführer vom König beherbergt wurde. Man glaubte, dass die Frau des Herzogs magische Kräfte habe, dass sie die Zukunft voraussagen könne und so das Wahre vom Falschen unterscheiden könne. Aus der Cronicon fratris Hieronymi de Forlivi geht hervor, dass die Roma schon damals erzählten, sie kämen ursprünglich aus Indien und, so schreibt der Autor, sie seien "nicht sehr sittsam, eher wilden Tieren ähnlich".

Längs ihrer Wanderschafen haben die Roma mit ihrer Jahrtausende alten Kultur immer wieder die Fantasie jener angeregt, die sie auf ihrem Weg trafen. Trotzdem sind sie auch durch alle Epochen hindurch mit allerlei Schimpfwörtern und Ausdrücken beschrieben worden, die im besten Fall von wenig Respekt für die Eigenheiten der Roma und völlig unberechtigten Vorurteilen zeugten.

Roma-Laden an einer Straßenecke in Rom. Roma-Laden an einer Straßenecke in Rom.

Die Roma-Gruppen kamen aus zwei verschiedenen Richtungen nach Italien, von Norden und von Süden. Deshalb hat das südliche Romanés, im Gegensatz zum nördlichen, keinerlei germanische Einflüsse. "Roma", "Sinti", "Reisende", "Wanderer", "Pilger", "Zigeuner", Zirkusleute, Wanderkünstler, Herren oder Bettler, Diebe oder Artisten: Wer sind diese Menschen, von denen die Chroniken der Vergangenheit sprechen? Obwohl sie selbst ganz einfach bei ihrem Namen roma (Mensch) genannt werden möchten, verwenden viele absichtlich oder aus Unwissenheit eine falsche Terminologie.

Die Schriftsteller der Romantik nannten sie "Kinder des Windes". Aber welcher Wind trieb sie und treibt sie noch heute durch die Welt, ohne je Frieden zu fnden? Ein Wind, der die Roma in der Vergangenheit trieb und der heute zuweilen stärker denn je bläst, ist sicherlich der Wind der Intoleranz. Mehr als ein halbes Jahrtausend nachdem die oben genannten Quellen geschrieben wurden, ist das Wissen über Sinti und Roma bei einem Großteil der italienischen Bevölkerung noch immer äußerst beschränkt. Sie werden heute ähnlich wie in den antiken Dokumenten beschrieben, abfällig "Zigeuner" genannt und es werden genauso falsche Bilder wie damals von ihnen kreiert.

Klischees und Vorurteile sind in Italien immer noch verbreitet und Diskriminierungen von Menschen, einschließlich Kindern, die als "Roma" kategorisiert werden, sind leider alltäglich. In öfentlichen Institutionen und bei einem großen Teil der Bevölkerung ofenbart sich eine wachsende "Roma-Phobie", die sich ganz unabhängig von politischen Bekenntnissen und Bildungsgrad zu verbreiten scheint. Nicht-Roma kennen die Kultur der Roma zu wenig. Im Gegenteil, sie sind meist nicht von der Überzeugung abzubringen, dass Roma "Nomaden, unehrlich und nicht fähig, sich in eine moderne Gesellschaft einzugliedern"seien (Clough Marinaro in Sigona N.-Monasta L., 2006, Imperfect Citizenship, S. 5).

Tanzende Roma-Frauen bei einer Demonstration vor dem Kolosseum in Rom. Tanzende Roma-Frauen bei einer Demonstration vor dem Kolosseum in Rom.

In Italien kann man die Roma-Bevölkerung in zwei Gruppen einteilen: Jene, die zu einer alteingesessenen Minderheit gehören und über die italienische Staatsbürgerschaft verfügen und jene, die vor relativ kurzer Zeit aus verschiedenen Gründen eingewandert sind. Einige sind nach dem Zweiten Weltkrieg nach Italien gekommen als Opfer des Samudaripen (Genozid, Massenmord) 1), andere kamen in den 1950er und 1960er Jahren aus wirtschaftlichen Gründen als Wanderarbeiter oder um sich mit der eigenen Großfamilie wiederzuvereinigen. In den 1990er Jahren flohen viele Familien vor dem Krieg in Ex-Jugoslawien, wo sie Opfer aller Kriegsparteien wurden. In der Hoffnung als politische Flüchtlinge anerkannt und aufgenommen zu werden, ließen sie ihr ganzes Hab und Gut hinter sich, auch ihre Häuser. Erhalten haben sie meist nur einen "befristeten Schutz". Äußerst selten wurde ihnen wirtschaftlich oder bei der Integration geholfen. Sie sahen sich zudem gezwungen, in sogenannten "Nomadenlagern" zu leben, also in Strukturen ohne grundlegende Dienstleistungen. So hatten die Neuankömmlinge und ihre in Italien geborenen Kinder und Enkel von Beginn an keine Chance auf Gleichberechtigung. Ihre jugoslawischen Pässe wurden in Folge der Gründung der neuen unabhängigen Republiken für ungültig erklärt, in den wenigsten Fällen bekamen sie neue. Die Staatenlosigkeit stürzte ganze Familien ins Nichts: Sie haben keine Dokumente, um eine Wohnung zu mieten, eine Arbeit zu finden, ein Einkommen vorweisen zu können, die Kinder selbständig und ohne Intervention von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in die Schule zu schicken - um ein normales Leben zu führen.

Zuletzt kamen viele rumänische Roma nach Italien: Sie sind zwar Bürger eines EU-Lands, werden aber trotzdem von öffentlichen Ämtern und in der Öffentlichkeit diskriminiert und von der Presse angegriffen. Unabhängig von ihrer geographischen Herkunft, ob sie einer alteingesessenen Minderheit angehören, ob sie sesshaft oder teilweise wandernd sind, eines haben alle Roma-Gruppen gemeinsam: Sie sind Opfer von Intoleranz, denen mit alten und neuen Klischees begegnet wird, um sie zu diskreditieren. Viel zu of werden Nationalität mit fehlender Fähigkeit zum gesellschaftlichen Zusammenleben, Armut und fehlende Gleichberechtigung mit Kriminalität gleichgesetzt.

Die Mobilität der Roma innerhalb Italiens ist meist Folge verschiedener Konflikte und Schwierigkeiten, beispielsweise wirtschaftlicher. Wichtigster Migrationsgrund sind die Hindernisse des Alltags - gefolgt von der Angst, Opfer von Gewalt zu werden. Leider haben die jüngsten Ereignisse in Italien bewiesen, dass diese Angst nicht unberechtigt ist. So kann die Migration eine zum Überleben notwendige Entscheidung werden.

Wachsende Roma-Phobie in Italien: Roma-Demonstration gegen den 'Wind der Intoleranz'. Wachsende Roma-Phobie in Italien: Roma-Demonstration gegen den "Wind der Intoleranz".

Seit den 1980er Jahren wurden in Italien viele regionale Gesetze erlassen, die die "nomadischen Kulturen" schützen sollten. Allerdings wurde außer Acht gelassen, dass der Großteil der Roma seit Generationen nicht mehr nomadisiert, sondern sesshaft ist. Basierend auf dem romantischen Bild der Roma als "Kinder des Windes" trafen Nicht-Roma eine Reihe wirkungsloser Entscheidungen. Ihre Vorstellung der Roma ist meist folkloristisch, nicht der Wirklichkeit entsprechend und auch nicht frei von alten, unterschwelligen Vorurteilen. Die Roma durften kaum bei Entscheidungen, die sie betrafen, mitwirken. Während also das Nomadentum sesshafter Gemeinschafen institutionalisiert wurde, suchten und suchen die meisten Roma in Italien eine Wohnung, Arbeit, Gleichberechtigung und Respekt für ihr Kulturgut.

In den letzten Jahren hat sich die Lage der Sinti und Roma in Italien spürbar verschlechtert. Vor allem während der Wahlkampagnen und in wichtigen Momenten des politischen und sozialen Lebens des Landes, hören wir immer mehr rassistische Hasstiraden. Es scheint, als würden Politiker, Journalisten und andere einflussreiche Persönlichkeiten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Grundrechtecharta der Europäischen Union sowie die eigene italienische Verfassung vollkommen ignorieren. Um das Volk für sich einzunehmen, versuchen sie alte, tief gelegene Ängste in der Gesellschaft heraufzubeschwören, Geschichten, mit denen früher Kinder erschreckt wurden, neu zu verkaufen, ohne sich dabei um den negativen und äußerst gefährlichen Einfluss ihrer Aussagen auf die Menschen zu kümmern.

Gruselgeschichten wie "Pass auf, sonst nehmen dich die Zigeuner mit" oder "Zigeuner sind schlau und böse, auch die Kinder, und sie malen komische Zeichen an die Wände derjenigen Häuser, die ausgeraubt werden sollen" werden weitererzählt und liefern alten Vorurteilen wie das der Kinder stehlenden Zigeunerin, des Zigeuners als gemeinen Dieb, der skrupellos tötet oder der Zigeuner-Eltern, die die eigenen Kinder aus Profitgier ausnützen, neue Nahrung.

Damit einhergehend verbreiten die konservative, nostalgische Rechte in Italien und die xenophobe und separatistische Liga Nord 2) auch die alte Überzeugung, "Zigeuner seien ein asoziales Volk, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung".

Die in Italien lebenden Roma durchleben gerade eine der schlimmsten Phasen ihrer Geschichte: Im Mai 2008 riefen die Regionen Campania, Lazio und Lombardei den "Notstand der Nomaden" ausgerufen, der eigentlich bis März 2009 dauern sollte, aber mit dem "Notstand der Sicherheit" verlängert und auf andere Regionen erweitert wurde. Damit erhielten die zuständigen Präfekten und öffentliche Amtsträger besondere Machtbefugnisse. Laut Gesetz 225/92 sollen sie so im Fall von Naturkatastrophen die Zivilbevölkerung besser schützen.

Ethnische Gruppen wie die Roma werden in dem Gesetz jedoch nicht erwähnt. Lediglich drei Verfügungen des Ministerrats legen gesetzlich fest, dass die Präfekten "außerordentliche Kommissare" sind. Demnach unterstehen sie nur dem Innenminister und haben die Aufgabe, in ihrer jeweiligen Region einzuschreiten, um den Notstand der "Nomadenlager" durch Beobachtung, Identitätsaufnahme und Abschiebung "illegaler Einwohner" zu lösen. Wie viele Agenturen und Organisationen bestätigen, wurde daraufhin die Identität von Roma in den Lagern, einschließlich der Minderjährigen festgestellt. Es wurden Fingerabdrücke genommen, Fotos gemacht und private Daten gesammelt 3).

Im Mai 2008 wurden Roma im Raum Ponticelli (Neapel) von einem mit Stöcken und Steinen bewaffneten Mob angegriffen. Das Lager, in dem rumänische Roma lebten, wurde umzingelt und in Brand gesteckt. Glücklicherweise gab es keine Verletzten, doch die Bewohner des Lagers mussten fliehen und ihr Hab und Gut zurücklassen. Das Lager von Ponticelli wurde daraufhin noch drei weitere Male in Brand gesetzt, um zu verhindern, dass seine Bewohner zurückkehren. Die Verantwortlichen des Angriffs wurden nicht ausfindig gemacht. Das Motiv für den Übergriff dürfe wohl in der Intoleranz der lokalen Bevölkerung liegen. Vielleicht gab es auch weitere Motive, interessante Vermutungen gab es zur Genüge. Sie wurden jedoch nie von Ermittlungen bestätigt oder widerlegt. Bei der Befragung der Bewohner Ponticellis ganz in der Nähe des Lagers war beispielsweise vielfach in neapolitanischem Dialekt zu hören, dass man mit der "Strafexpedition gegen die Roma das Recht der Bürger auf Eigenjustiz gegen die Kinder entführenden Zigeuner festsetzen" wollte.

Vor diesem Übergriff hatte es bereits Brandstiftungen in den Roma-Lagern von Catania, Mailand, Rom und in anderen italienischen Städten gegeben. Beim "Feuer von Livorno" starben 2007 vier Roma-Kinder im Feuer. Die Eltern wurden wegen "Verwahrlosung von Minderjährigen" verhaftet. Die NGO "EveryOne" verbreitete diese Nachricht und sammelte Unterschriften, um eine Haftentlassung der Eltern sowie ordentliche Ermittlungen zu bewirken: Denn es gab mehrere Hinweise, dass das Feuer nicht durch ein Unglück, sondern einen Molotow-Cocktail ausgelöst worden war, der von Fanatikern in das Lager geworfen worden war. Der Fall der 16jährigen rumänischen Roma Angelica, die im Mai 2009 beschuldigt wurde, eine Kindesentführung versucht zu haben, ist der traurige Höhepunkt einer Kette von Ereignissen 4).

Selbst Mutter wurde Angelica zur unfreiwilligen Hauptfigur eines vielsagenden Falls. Nur wenige Monate nach der Veröffentlichung einer Studie 5), die belegt, dass Roma in Italien niemals ein Kind entführt haben, italienische Richter jedoch in solchen Fällen sehr unterschiedliche Kriterien anwenden, wurde die junge Roma mit einer beispiellosen Strafe belegt. Am 11. Januar 2009 wurde sie zu drei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt - für ein Delikt, dessen Mindeststrafe acht Monate Haft vorsieht.

Die vielen Appelle von Menschenrechtlern, das Engagement der ungarischen Roma-Europarlamentarierin Viktória Mohácsi und des Präsidenten der Romani-Union und spanischen ex-Europarlamentariers Juan de Dios Ramirez Heredia, der angeboten hatte, "in die Amtstracht zu steigen, um Angelica zu verteidigen", haben nichts genutzt. Sie lehnte alle Begünstigungen, die sie durch ein Schuldbekenntnis in Anspruch hätte nehmen können ab und bestand auf ihrer Unschuld. Angelicas Fall wirf vielerlei Fragen auf. Zurzeit kann man eigentlich nur hoffen, dass all diese Fälle, in denen Sinti und Roma auf Grund ihrer ethnischen Angehörigkeit angegriffen wurden, nicht vergessen und vernachlässigt werden.

Übersetzung: Sabrina Bussani.

Anmerkungen:
1) Zum Begriff "Samudaripen" siehe Hancock, I.: Te Patrin Web Journal. Zum Terminus "Porrajmos": http://www.geocities.com/~patrin/holcaust.htm
2) Rassistische Ansprache von Giancarlo Gentilini gegen Roma (einschließlich Kinder) und anderen Minderheiten während des "Festes der Völker" in Venedig am 14. September 2008: www.youtube.com/watch?v=_WCZNQJkV3E
3) Ein Netz verschiedener Organisationen erarbeitete den detaillierten Bericht "Security á la Italiana. Fingerprinting, Extreme Violence and Harrassment of Roma in Italy": www.soros.org/initiatives/brussels/articles_publications/publications/fingerprinting_20080715
4) www.everyonegroup.com/EveryOne/MainPage/Entries/2008/5/18_Anti-gypsy_sentiments_out_of_control_in_Italy._The_truth_about_the_kidnapping_in_Naples.html
5) Informationen über die Studie: S. Bontempelli, "I Rom rubano i bambini? Uno studio dimostra che non è vero" (November 12, 2008): http://sergiobontempelli.wordpress.com/2008/11/12/zingararapitrice/.

Sinti und Roma in Tschechien während des Zweiten Weltkriegs und heute [ oben ]

Von Paul Polansky

So sieht das ehemalige Lager Lety heute aus: Eine riesengroße Schweinefarm. Foto: Archiv Paul Polansky. So sieht das ehemalige Lager Lety heute aus: Eine riesengroße Schweinefarm. Foto: Archiv Paul Polansky.

Etwas, das die Roma "magla" (ein Nebel, der alles verhüllt) nennen, hängt noch immer über dem, was den Sinti und Roma im heutigen Tschechien während des Zweiten Weltkriegs widerfahren ist. Obwohl ich über zehn Jahre lang in tschechischen Archiven recherchiert und über 100 Sinti und Roma, die den Holocaust überlebt hatten, interviewt habe, wollen nur sehr wenige tschechische Wissenschaftler, Medien oder Regierungsmitarbeiter wirklich wissen, was damals passiert ist. Für mich ist der Grund für ihr Desinteresse offensichtlich. Viele Tschechen trifft größere Schuld an der Vernichtung der Minderheit der Sinti und Roma.

Unter Berufung auf Quellen in Prag und Bratislava/Pressburg wird in einem Beitrag der New York Times von 1939 geschätzt, dass vor dem Zweiten Weltkrieg rund 35.000 Sinti und Roma auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens sowie etwa 80.000 in der heutigen Slowakei lebten. Nach dem Krieg berichtete die tschechoslowakische Regierung, dass im tschechischen Teil nur rund 300 Sinti und Roma den Krieg überlebt hatten - im slowakischen Teil dagegen waren es über 90 Prozent. Gemäß den Überlebenden, die ich interviewt habe, waren sich die meisten Sinti und Roma zu Kriegsbeginn der Tatsache bewusst, dass sie in der Slowakei eine bessere Überlebenschance hatten als in den tschechischen Gebieten. Diejenigen, die in die Slowakei flüchten konnten, taten es. Jeder kannte die tschechische Einstellung gegenüber den "Zigeunern".

Sogar bevor die deutsche Armee in Prag einmarschierte, verabschiedete die tschechische Regierung ein Gesetz für "Arbeitslager", in denen "Arbeitsscheuen" beigebracht werden sollte zu arbeiten. Obwohl die meisten Sinti und Roma Arbeit hatten oder einem beruflichen Gewerbe nachgingen, wurden sie dennoch verhaftet. Viele tschechische Adlige wie Prinz Karel Schwarzenberg nutzten die "Arbeitslager"-Gesetzgebung aus, um Zwangsarbeiter für ihre Anwesen zu bekommen. Im Dezember 1939 richtete ein Schneesturm in den rund 10.000 Hektar von Schwarzenbergs Wäldern starke Schäden an.

Um das Holz zu verwerten, bat Schwarzenberg um Zwangsarbeiter (erst Juden, später Zigeuner) und wurde sogar von der Regierung in Prag dafür bezahlt, dass er ein Lager in der Nähe seines Anwesens bei Orlik errichtete. So entstand das Lager Lety, das ausschließlich tschechisches Wachpersonal und einen tschechischen Kommandeur hatte. Heute ist das frühere Lager (in dem, laut Aussagen der Überlebenden, Tausende verhungerten oder zu Tode geprügelt und manche sagen sogar in den Laderäumen von Lastwagen vergast worden sind) eine große Schweinefarm.

Lety war nur eines von 199 derartigen Lagern in den tschechischen Gebieten. Doch dadurch, dass es ausschließlich von Tschechen aufgebaut und geführt wurde, ist es zum Symbol für die Haltung vieler Tschechen gegenüber den Roma in ihrem Land geworden. In den 1970er Jahren wurde dort eine Schweinefarm auch über den Massengräbern errichtet. Es gab wiederholt internationale Bitten, das frühere Lager Lety als Holocaust-Schauplatz gemäß der Helsinki-Konvention über Todeslager aus dem Zweiten Weltkrieg zu respektieren. Doch jede tschechische Regierung seit 1995, als Präsident Havel versprach, die Schweinefarm zu schließen, es aber nicht tat, gab bisher dem öffentlichen Druck nach und schloss die Farm nicht. Tatsächlich wuchs der Hof von 5.000 Schweinen auf inzwischen über 20.000 Schweine an.

Heute gibt es in der Tschechischen Republik keine deutschen Nazis mehr, die der Regierung ihre Politik gegenüber Sinti und Roma vorschreiben. Deshalb hat das Land auch keine Entschuldigung mehr dafür, dass Angehörige dieser Minderheiten noch immer in großer Zahl aus dem Land fliehen und politisches Asyl in anderen Staaten suchen. 1996 erlebte ich selbst, warum so viele Roma fliehen. Ich sah, wie die tschechische Polizei in ihren Autos Skinheads zu der Roma-Siedlung brachte, wo ich bei einigen Roma lebte. Die Skinheads sollten die Roma angreifen. An den Zeitungsartikeln, die ich heute in der Presse lese, kann ich erkennen, dass sich nichts geändert hat. Roma werden in der Tschechischen Republik noch immer in ihrem zu Hause angegriffen. Manche Roma-Kinder kamen und kommen dabei sogar ums Leben. Es kommt nicht of vor, dass ein angeblich zivilisiertes Land wie die Tschechische Republik so stolz ist auf ein stinkendes Symbol: Eine Schweinefarm.

Seit 1999 ist Paul Polansky Leiter des GfbV-Teams Kosovo/Serbien.

Tschechien [ oben ]

Zwangssterilisation von Roma-Frauen

Von Till Mayer

Elena Gorlova im kleinen Büro ihrer Selbsthilfegruppe von 'Vzajemne Souziti'. Rund 60 Frauen in Ostrau warten vergebens, dass wenigstens eine Entschuldigung für die Sterilisationen erfolgt. Elena Gorlova im kleinen Büro ihrer Selbsthilfegruppe von 'Vzajemne Souziti'. Rund 60 Frauen in Ostrau warten vergebens, dass wenigstens eine Entschuldigung für die Sterilisationen erfolgt.

Kinderreiche Roma-Frauen zu Sterilisation zu überreden, war Politik in der kommunistischen Tschechoslowakei. Selbst mit Druck und Drohungen, klagen Menschenrechtler. Die Betroffenen warten bis heute vergebens auf eine Entschädigung, oder zumindest eine Entschuldigung des Staats. Stattdessen tauchen immer wieder neue Fälle auf. Eine Frauengruppe in Mährisch-Ostrau macht mobil.

Mährisch-Ostrau/Ostrava. Es gibt Augenblicke, da könnte Elena Gorlova einfach laut schreien, all die Wut heraus lassen. Die Ohnmacht, die in ihr steckt. Es gab Monate, da hatte die Trauer sie so fest im Griff, dass sie nicht einmal mehr schreien wollte. Sie keine Wut mehr kannte, nur eine Gleichgültigkeit, die sich wie ein schweres Tuch über sie legte. Dann hatte sie das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. "Es war, als würden die eigenen Gedanken schwer auf der Brust liegen", sagt die 40-Jährige. Elena Gorlova atmet tief durch. Vor ihr reihen sich blockweise rote Ziegelbauten. Abgelebte Mehrfamilienhäuser. In den Treppenhäusern bröckelt der Putz, die zugigen Fenster stammen aus der Vorkriegszeit oder sind einfach zugemauert. Auf den Rahmen blättert die Farbe. Im Hof stehen Autos, die noch im Sozialismus gebaut wurden. Kinder spielen vor einer Abbruchruine Fußball. Ein Damm grenzt an einer Seite, dahinter brandet der Verkehr auf der Schnellstraße Richtung Polen. Alles zusammen ergibt das ein Bild einer befremdlichen Trostlosigkeit mitten in Europa.

Helena Balogova vertraut dem Arzt blind - sie ist Analphabetin
"Dieser Teil von Ostrau-Privoz ist ein Ghetto", sagt Elena Gorlova über den Stadtteil. Die Stimme der 40-Jährigen klingt traurig. Sie weiß, wovon sie spricht. Vor nicht allzu langer Zeit hat sie noch hier gelebt. Jetzt ist sie zu Besuch im Viertel, zu Besuch bei Helena Balogova. Die 47-Jährige steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Sie hat schon seit Jahren keine feste Arbeit mehr gefunden, und was ihr Mann als Hilfsarbeiter verdient, reicht nicht aus, um über die Runden zu kommen. Gerade wurde ihr der Strom abgestellt, die Heizung abgedreht. In ihrer Wohnung ist es bitterkalt, vor dem Haus zieht sich eine weiße Schneedecke über den Hof. Die Berge sind nah, die Winter lang und kalt.

Heute bittet sie Elena Gorlova nicht in ihr Zuhause. Sie kann ihr nicht einmal einen Tee kochen. Helena Balogova schämt sich dafür. Die 40-Jährige hat ihr schon viel Kraft gegeben. Einfach nur, weil sie da war und ihr zugehört hat. Verstanden hat, dass auch noch nach so vielen Jahren die Traurigkeit immer wieder kommt. Beide teilen sie das gleiche Schicksal. 1990 wollte sich Helena Balogova eine neue Spirale einsetzen lassen. Sie hatte bereits vier Kinder. "Vorerst sollte es dabei bleiben", berichtet sie. Sie geht zum Frauenarzt ins Krankenhaus. Der untersucht sie. "Dieses Mal wird eine kleine Operation nötig sein", sagt er ihr. Eine Operation für das Einsetzen einer Spirale? Helena Balogova vertraut blind.

Ihr Mann nicht. Als er im Kranken- haus ankommt, ist es schon zu spät. Helena Balogova wird nie mehr Kinder bekommen können. Bei der Operation wurde sie sterilisiert. Ihr Mann schreit, schimpf und flucht im Krankenhaus. Der Arzt kommt und hält ihm die von seiner Frau unterzeichnete Einverständniserklärung entgegen, erinnert sich die die heute 47-Jährige. Helena Balogova konnte nicht lesen, was sie abzeichnete. Sie ist Analphabetin.

"Nach zwei Kaisehrschnitten hielten die Ärzte eine Sterilisation für notwendig"
Elena Gorlova und Helena Balogova haben beide eine dunklere Haut als die "slawischen" Tschechen. Beide sind sie Roma, beide wurden im gleichen Jahr sterilisiert. Beide, ohne dass sie wussten, was mit ihnen geschah. Kurz vor der Geburt ihres zweiten Sohnes sagten die Ärzte Elena Gorlova, dass erneut eine Kaiserschnitt-Geburt notwendig sei. "Es gab weiter keine Komplikation. Erst, als ich in den Wehen lag, ich vor Schmerzen halb verrückt war, da gaben sie mir ein Stück Papier zum Unterschreiben", erklärt die 40-Jährige.

Mit der Unterschrift besiegelt sie die eigene Sterilisation. "Niemand hat mich aufgeklärt, was da passiert. Es wurde einfach getan, weil es die Ärzte für richtig hielten: Nach zwei Kaiserschnitten muss es eben eine Sterilisation geben", meint Elena Gorlova. Am nächsten Tag erfährt sie, was passiert ist. Mit dürren Worten teilt ihr ein Arzt mit, dass sie nie mehr Kinder bekommen könne. Dass der Eingriff nach zwei Kaiserschnitten medizinisch zu ihrem Schutz notwendig war. "Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich das Wort Sterilisation gehört habe", sagt die 40-Jährige.

"Man hat mir ein Stück Frausein genommen"
"Es ist mein Körper. Nur ich habe das Recht über ihn zu entscheiden. Mein Gott, mein Mann und ich, wir hätten noch so gerne eine Tochter gehabt. Mit der Sterilisation hat man mir ein Stück Frausein genommen. Es ist, als würde ein Stück von mir fehlen", sagt die 40-Jährige. Wegen ihrer ungewollten Sterilisation wendet sie sich an das Sozialamt - und stößt nur auf taube Ohren. "Ich wurde einfach rausgeworfen", berichtet die Roma-Frau. Ihr Fall kommt nicht vor Gericht. "Ohnmacht und Wut, ich hab das Gefühl schon gekannt. Die gleichen abweisenden Mienen, die ich in meinem Leben immer wieder gesehen habe, angefangen beim Wohnungsantrag bis zu so vielen Kleinigkeiten im Alltag. So ist das, wenn man eine Roma ist", erzählt Elena Gorlova.

Als 2003 Otakar Motejl, Ombudsmann des tschechischen Staats, beginnt, den Fällen von ungewollter und unauf- geklärter Sterilisation nachzugehen, ist ihrer längst verjährt. Ein Unrecht, mit dem sich Elena Gorlova nie abfinden wollte. Heute arbeitet sie für die kleine Organisation "Vzajemne Souziti" ("Gemeinsam Leben"), sucht nach weiteren Frauen mit dem gleichen oder ähnlichem Schicksal, ermuntert sie auszusagen. Frauen wie Helena Balogova. Viele von ihnen leben in ärmlichen Verhältnissen. In der Region Ostrau und in der Stadt selbst sind es schon rund 60, die sich ihrer Gruppe angeschlossen haben. Alle wurden sie nach eigenen Aussagen gegen ihren Willen oder ohne ausreichende Information sterilisiert, alle sind sie Roma.

Der aktuellste Fall liegt keine zwei Jahre zurück. Eine 40-Jährige beklagt, dass sie von einer Sozialarbeiterin zu einer Sterilisation gedrängt wurde. Sie solle nachweisen, dass sie in Zukunft keine Kinder mehr bekommen könne. Dabei soll die Sozialarbeiterin der Roma gedroht haben, zwei ihrer vier Kinder in staatliche Obhut zu geben, berichtet Elena Gorlova. Jetzt bereitet sich "Vzajemne Souziti" darauf vor, den jüngsten Fall vor Gericht zu bringen. Doch der Betroffenen fällt es nicht leicht, diesen Schritt zu wagen.

Niemand weiß, wie viele Frauen betroffen sind
Ein Fall mit trauriger Tradition auf tschechischem Boden. 2005 veröffentlichte der tschechische Ombudsmann in seinem Abschlussbericht 87 ihm gemeldete Fälle von erzwungener bzw. nicht informierter Sterilisation, die sich von den 1960-er Jahren bis zur Gegenwart erstreckten. Er legte dem Gesetzgeber unter anderem nahe, eine bessere Patienteninformation und Fristen zwischen Arztgespräch und Sterilisationen vorzuschreiben sowie finanzielle Wiedergutmachungen für betroffene Frauen zu ermöglichen. "Auch wenn der Staat keine Anweisung gegeben hat, kann eine Verantwortung durch staatliche Billigung und Unterstützung für das Vorgehen der Sozialeinrichtungen gegenüber ihren Klienten erkannt werden, die aus heutiger Sicht unakzeptabel ist", heißt es in dem Abschlussbericht des Ombudsmanns. Rassistische Motive stünden jedoch nicht hinter den Sterilisationen, behauptet Motejl.

Gwendolyn Albert sieht zumindest letzteres anders. Sie arbeitet für die Organisation Peacework in der Tschechischen Republik und unterstützt die Frauen von "Vzajemne Souziti". Seit Jahren setzt sich mit Zwangsterilisationen von Roma-Frauen auseinander und findet klare Worte: "In der kommunistischen Tschechoslowakei wurden Sozialarbeiter angehalten, Frauen als ultimative Möglichkeit der Geburtenplanung zu einer Sterilisation zu überreden. Vor allem Arme und Roma-Frauen waren Zielgruppe. Ihre Geburtenrate galt im damaligen Sprachgebrauch als ‚hoch und ungesund'. Die Sozialarbeiter boten Coupons für Möbel oder Geld für eine Einwilligung an, oder sie drohten, die Kinder der Angesprochenen der staatlichen Fürsorge zu übergeben. Niemand weiß, wie viele Frauen betroffen sind. Aber bezieht man die lange Zeitspanne ein, und dass es in der gesamten ehemaligen Tschechoslowakei geschah, gehe ich sicher von Hunderten, wenn nicht sogar von 1000 Fällen oder mehr aus. 1991 endete besagte Politik. Aber Sterilisationen ohne Zustimmung der Frauen wird fortgesetzt. Heute wer- den Roma-Frauen opportunistisch ohne deren erklärte Einwilligung bei Kaiserschnitten oder gynäkologischen Eingriffen sterilisiert. Rassismus gegenüber den Roma ist in allen Bereichen der tschechischen Gesellschaft weit verbreitet, das Gesundheitswesen bildet da keine Ausnahme."

Finanzielle Entschädigung? Fehlanzeige!
Elena Gorlova wartet wie die anderen 60 Mitglieder ihrer Gruppe auf eine finanzielle Entschädigung, zumindest endlich auf eine Entschuldigung vom Staat. "Wir kämpfen mit unserer Gruppe dafür, dass unsere Töchter und Enkel-Töchter nicht unser Schicksal erleiden. Jede Mutter soll so vielen Kindern das Leben schenken, wie sie es will. Die Gesetzgebung muss das klar und unmissverständlich fordern", erklärt die 40-Jährige. Und der Staat? In einer im Internet einsehbaren Mitteilung an die Vereinten Nationen ist von "individuellen und isolierten Fällen in der Vergangenheit" die Rede, bei denen gesetzliche Bestimmungen nicht eingehalten wurden. Angekündigt werden eine auf Sterilisationen spezifizierte Gesetzesvorlage und die Einsetzung einer Kommission, um die Vorgehensweise bei Sterilisationen in der Vergangenheit zu untersuchen. "Wohl eher eine Verzögerungstaktik.

Seit dem Bericht des Ombudsmanns vor fast vier Jahren ist wenig geschehen", so Gwendolyn Albert. Immerhin musste sich 2007 ein Krankenhaus in Ostrau dafür entschuldigen, im Jahr 2001 eine damals 21-jährige bei einer Entbindung sterilisiert zu haben. Eine in erster Instanz ausgesprochene finanzielle Entschädigung konnte das Krankenhaus abwenden, um wenige Wochen war der Fall der jungen Frau strafrechtlich verjährt. Ein ähnliches Urteil wurde jüngst ebenfalls von einem Gericht gesprochen.

Der Frauengruppe von "Vzajemne Souziti" reichen keine erzwungenen Entschuldigungen. Sie organisieren Treffen, kleine Demonstrationen. Elena Gorlova sagte sogar schon vor den Vereinten Nationen in New York aus. Sie wollen ein Stück Denken ändern, sprechen deshalb auch mit denen, die ihren Körpern etwas so Kostbares genommen haben. "Vor wenigen Tagen trafen wir uns mit Ärzten in einem Krankenhaus. Wir haben ihnen versucht zu erklären, dass Patienten ihren eigenen Willen haben, Ärzte nicht einfach selber über alles entscheiden können. Es war eine Ärztin dabei, die damals die Vorsorge-Untersuchungen bei meiner letzten Schwangerschaf vorgenommen hatte. Obwohl sie mich damals über die Notwendigkeit eines Kaiserschnitts informierte, sprach sie kein Wort über eine Sterilisation. Sie sei eine unerfahrene Medizinerin gewesen, hat sie heute nur gesagt. Aber ich hoffe, ja ich glaube, dass unsere Gespräche etwas bewegen", so die 40-Jährige.

"Die Leute denken: die haben zu viele Kinder"
Elena Gorlova hat gekämpft und viel erreicht. Sie wohnt nicht mehr im Ghetto, sondern in einer kommunalen Mietswohnung in einem deutlich besseren Viertel. Die Wände leuchten frisch gemalt. Auf dem Boden helles Laminat, eine gemütliche Couch, ein kleiner Hund wieselt herum, der wie ein Gummiball nach jeder Hand springt, die er sieht. Ihr Mann, ihre Söhne und sie haben alles in Eigenleistung renoviert. Viel Geld zum Leben hat die Familie immer noch nicht. Ihr Gehalt von "Vzajemne Souziti" ist gering. Ihr Mann, ein Fabrikarbeiter, bezieht derzeit ein bescheidenes Krankengeld. Aber ihr jüngster Sohn, der schafft es vielleicht auf die Universität, hof die Mutter. Sie selbst hat den zweiten Bildungsweg eingeschlagen.

"Wir Roma sind Teil der Geschichte Tschechiens, wir leben seit Jahrhunderten hier. Es ist unsere Heimat. Mein Großvater war als Roma im Konzentrationslager. Mein Mann hat in der Armee gedient, danach immer hart gearbeitet. Meine Familie hat jahrelang zu acht in einer Zwei-Zimmerwohnung hausen müssen. Ich habe schon als Teenager in einer Fabrik zu arbeiten angefangen. Wir haben wirklich gerackert und gekämpft. Dabei gespart und Stück für Stück eine besseres Leben aufgebaut. Und dann weiß man, dass so und so viele Leute auf der Straße wahrscheinlich denken: Gut so, dass die Zigeunerfrauen sterilisiert wurden. Die haben zu viele Kinder, aus denen allen nichts wird."

Tschechische Republik [ oben ]

Roma mit Terror konfrontiert

Von Gwendolyn Albert

Gezielt attackiert: In Tschechien werden Roma regelmäßig zu Opfern gewalttätiger Neonazis. Gezielt attackiert: In Tschechien werden Roma regelmäßig zu Opfern gewalttätiger Neonazis.

In den frühen Morgenstunden des 19. April 2009, warfen im Dorf Vítkov in der Tschechischen Republik Übeltäter, die sich noch immer auf freiem Fuß befinden, drei Molotow-Cocktails in das Haus einer Roma-Familie. In dem darauffolgenden Feuer wurden drei Personen verletzt, darunter ein zweijähriges Mädchen, das noch immer im Ostrava Teaching Hospital um sein Leben kämpf. Über 80 Prozent seines Körpers haben Verbrennungen zweiten und dritten Grades erlitten. Seine Großmutter sah ein Auto vor dem Haus und hörte einen Mann rufen "Hey, Zigeuner, brennt!", bevor sie davonfuhren. Das Wasser war der Familie bereits vorher abgestellt worden und das Haus wurde komplett zerstört.

Die Polizei sagt, sie habe das Fahrzeug und sogar die darin sitzenden Personen identifiziert, aber niemand wurde angeklagt - aus Beweismangel. Trotz der Tatsache, dass die Polizei den Angriff eindeutig als Brandstiftung durch Personen außerhalb des Hauses eingestuf hat, gibt es irrationale lokale Gerüchte, dass die Familie das Feuer selbst gelegt hätte. Seit dem Angriff wohnt sie in einer vorübergehenden Unterkunft, einer acht Quadratmeter großen Wohnung hinter einer Tierklinik. Während beinahe eine Million tschechische Kronen (etwa 37.411 Euro) Spenden in der Stadt gesammelt wurden, um ihnen den Kauf einer neuen Bleibe zu ermöglichen, möchte niemand, dass die Familie in seiner Nachbarschaf einzieht. Den wenigen Immobilien-Angeboten, die sie erhalten haben, folgten stets Gruppen von Nachbarn, die im Rathaus dagegen protestierten, dass die Familie dort einzieht. Inzwischen drohen Neonazis in tschechischen Internet-Chatrooms, die "Sache zu Ende zu bringen".

Genau wie die zweijährige Natálka hängt die Familie in der Schwebe, ohne klaren Weg aus ihrer verzwickten Situation. Diesem Brandanschlag folgte im Mai im Dorf Zdiby nicht allzu weit von Prag entfernt ein weiterer auf eine andere Roma-Familie - glücklicherweise erfolglos. Diese Anschläge, der Anstieg von Neonazi-Aktivitäten im ganzen Land während des vergangenen Jahres und die Straflosigkeit, mit der die Täter rechnen können, sind ein Grund, warum wieder einmal so viele tschechische Roma nach Kanada fliehen. Die Situation ähnelt einem Exodus Mitte der 1990er Jahre, das Kanada dazu bewegte, allen tschechischen Bürgern eine Visumspflicht aufzuerlegen (2007 wurde diese wieder aufgehoben).

Neonazi-Demonstrationen und versuchte Pogrome in der Tschechischen Republik kosteten die Steuerzahler während der kürzlichen Europawahlen Millionen tschechische Kronen. Mit dem Einsatz von 1.000 Polizisten waren die Neonazi-Krawalle im November 2008 die größte Polizeiaktion im Land seit den Anti-IWF/Weltbank-Demonstrationen in Prag im Jahr 2000. Die neonazistische Arbeiterpartei (Delnická strana) war der Hauptorganisator der jüngsten Veranstaltungen, die von Neonazis mit dem Ziel Gewalt auszuüben, besucht werden. Die Partei kann sich nun über dreiviertel Millionen Kronen vom tschechischen Staat freuen, da sie in der letzten Wahl die Ein-Prozent-Hürde bewältigt hat. Unter den jüngsten Roma-Asylbewerbern aus der Tschechischen Republik war auch Anna Poláková, eine bekannte Roma und Programmdirektorin von Czech Radio. Sie flüchtete aus dem Land aus Angst um die Sicherheit ihrer Familie. Ihre Erfahrung mit dem tschechischen Justizsystem ist ziemlich aufschlussreich: Skinheads schlugen ihren Sohn bewusstlos und wurden glücklicherweise dabei von der Polizei festgenom- men. Zivil- und Strafgerichte stellten die Schuld der Angreifer fest. Das Zivilgericht entschied außerdem, dass das Opfer Entschädigung für die Verletzung seiner Rechte erhalten sollte. So weit, so gut. Als jedoch zwei der Täter nicht zahlten und die Familie sie daraufhin verklagte, wurde die Familie verfolgt.

Ihre Adressen wurden den Übeltätern und ihren Verbündeten verraten, die daraufhin begannen, Polákovás Mann zu verfolgen, ihn zu bedrohen und anzugreifen - mit dem Ziel, ihn zur Rückgabe der bereits an die Familie ausgezahlten Entschädigung zu zwingen. Die Po- lizei war nicht in der Lage, die Familie zu beschützen. Deshalb lebt die Familie jetzt zusammen mit anderen Asylbewerbern in Hamilton, in der Nähe von Toronto.

Die tschechischen Behörden sind kürzlich hart gegen einige Rädelsführer der Neonazi-Bewegung vorgegangen. Die Polizeieinheit für die Ermittlung organisierten Verbrechens führte in den Wohnungen von zehn Neonazis, die in die Organisation "Nationaler Widerstand" (Národní odpor) verwickelt sind, Razzien durch, darunter auch der Hate Core Shop in Prag. Fünf befinden sich jetzt in Untersuchungshaft, während die anderen unter Auflagen wieder freigelassen wurden. Neonazis im ganzen Land protestierten gegen die Polizeiaktion und die Presse berichtete kürzlich, dass die Kinder des tschechischen Premierministers Fischer und des Innenministers Pecina nun unter Polizeischutz stehen, da sich die Extremisten für das rächen wollen, was sie auf ihren Internetseiten das "pro-zionistische System" nennen.

Eine gemeinsame Anstrengung muss von den Behörden in Österreich, der Tschechischen Republik, Deutschland und der Slowakei unternommen werden, um die Förderer des Nazismus hinter Gitter zu bringen und sie von ihren gewalttätigen Absichten abzuhalten. Selbst, wenn sie nicht das Ziel von Gewalt sind, leiden Roma in der Tschechischen Republik unter der Anti-Roma-Haltung der breiten Öffentlichkeit, die sich in Diskriminierungen in allen Bereichen des Alltags zeigt und stillschweigende Unterstützung für das Verhalten der Neonazis signalisiert. Die meisten Leute in der Tschechischen Republik interessiert nicht, was die Hintergründe von Natálkas Angreifern waren; alles, was sie wissen, ist, dass sie keine Roma als Nachbarn haben wollen.

Gwendolyn Albert ist Menschenrechtsaktivistin und lebt in Prag.

Roma in Bosnien-Herzegowina [ oben ]

Von Fadila Memisevic und Belma Zulcic

Von Karadczic zerstört, doch nun wiederaufgebaut: Roma-Siedlung bei Bijeljina. Von Karadczic zerstört, doch nun wiederaufgebaut: Roma-Siedlung bei Bijeljina.

Die Roma Bosnien-Herzegowinas sind eine der größten, aber auch bedrohtesten ethnischen Minderheiten des Landes. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt, Schätzungen gehen jedoch von etwa 50.000 aus. Die in Bosnien-Herzegowina lebenden Roma sind sesshaft und führen kein Nomadenleben. Ihre Siedlungen be- finden sich meist am Rande der Städte. In den meisten gibt es weder Kanalisation noch Wasser- und Stromzufuhr. Sie leben größtenteils in selbstgebauten Bretterverschlägen ohne Küche, Bad und Toilette. Die meisten Familien sichern sich ihren Unterhalt durch das Sammeln und den Verkauf von Altmetall sowie durch kleine Gelegenheitsarbeiten als Tagelöhner oder durch Bettlerei. Etwa 70 Prozent von ihnen könnten ohne die monatlichen 20 Euro Sozialhilfe, die jedoch nur unregelmäßig ausgezahlt werden, nicht überleben. In Bosnien-Herzegowina haben 90 Prozent der Roma keine Krankenversicherung, die Analphabetenrate unter ihnen ist mit 60 Prozent sehr hoch. 80 Prozent von ihnen verfügen über keine Berufsausbildung oder sonstige berufliche Qualifikationen.

So ist es nicht verwunderlich, dass rund 95 Prozent der Roma in dem Balkanstaat keine feste Anstellung und somit auch über kein gesichertes Einkommen verfügen. Die wenigen, die Arbeit haben, sind meist in den Betrieben der Stadtreinigung beschäftigt. Die Vorurteile in der Gesellschaft gegenüber den Roma sind groß. Als Nachbarn oder Arbeitskollegen wer- den sie nicht gern gesehen, nicht selten wird ihnen der Zugang zu Restaurants oder Schwimmbädern verwehrt. Oftmals werden sie grundlos der Kriminalität bezichtigt. Selbst Roma mit Schul- und Hochschulausbildung finden nur schwer Arbeit. Die GfbV-Sektion in Bosnien-Herzegowina verzeichnete allein Anfang 2009 mehrere Entlassungen von Roma mit Hochschulabschluss. Besonders brisant ist der Fall des Rom Muhamed Mujic aus Tuzla, der aus seinem Job als Roma-Beauftragter der Gemeinde Tuzla entlassen wurde. Eine Neubesetzung seiner Stelle ist nicht vorgesehen. Somit bleibt die Gemeinde Tuzla - wo derzeit die meisten Roma in Bosnien-Herzegowina leben - nun ohne Roma-Beauftragten, trotz der andauernden Roma-Dekade 2005-2015, die eine verstärkte Einbeziehung von Roma in die Gesellschaf anstrebt.

Erst Ende 2008 hat sich Bosnien-Herzegowina nach beinahe vierjähriger Laufzeit der internationalen Initiative "Dekade der Roma-Integration 2005-2015" angeschlossen. Die Roma Bosniens erhoffen sich viel von dieser Initiative: Mit Hilfe von Geldern aus den EU-Fonds sollen Projekte zur Verbesserung des Lebensstandards der Roma in allen Unterzeichnerstaaten unterstützt werden. Beinahe täglich werden viele Roma im Land Opfer von Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung: Häufig werden Roma grundlos von der Polizei verdächtigt und mit auf die Wache genommen oder auf der Straße zusammengeschlagen, ohne dass die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaf gezogen würden. Man verweigert ihnen selbst einfachste Dienstleistungen.

Ein Lichtblick ist jedoch die Ende 2008 vorgenommene Gesetzesänderung über die Anerkennung der Roma (und 16 weiterer Volksgruppen) als Minderheit in ganz Bosnien-Herzegowina. Damit einher geht die erste Beteiligung von Roma als Vertreter ihrer Minderheit an den letzten Kommunalwahlen in Bosnien-Herzegowina im Oktober 2008. Bei diesen Wahlen wurden von den 22 Roma-Vertretern, die sich in den einzelnen Gemeinden zur Wahl gestellt hatten, acht in die Gemeindeparlamente gewählt. Positiv ist auch die Initiative der Grundschule "Dzemaludin Causevic" in Sarajevo, an der Roma verlorene Schuljahre in einem Sonderkurs kostenlos absolvieren können. Diese Initiative half vielen Roma, ihren Grundschulabschluss nachzuholen. Die Sektion der GfbV in Bosnien-Herzegewonina unterstützt aktiv die Integration der Roma in eine Gesellschaf, in der sie gleichberechtigt sind, jedoch ihre eigene Kultur, Tradition und Sprache pflegen und ausleben können.

Vor dem Bosnien-Krieg (1992-1995) lebten die meisten Roma im Gebiet der heutigen Republika Srpska, insbesondere in den Städten Bijeljina, Zvornik, Doboj, Modrica und Prijedor. Im Krieg wurden sie jedoch wie die Bosniaken vertrieben, deportiert, ermordet und gefoltert. Untersuchungen der GfbV Bosnien-Herzegowina zeigten, dass auch Roma in den berüchtigten Konzentrationslagern gefangen gehalten wurden. Wegen seiner strategischen Lage im Nordosten Bosnien-Herzegowinas an der Grenze zu Serbien war Bijeljina eine der ersten Städte, die im Krieg angegriffen wurden. Gerade auch Roma waren unter den ersten Opfern der Truppen Arkans, einem berüchtigten Führer serbischer Paramilitärs. Am 3. April 1992 wurde der Rom Zehudin Hasimovic bei einer Polizeiwache in der Jozef-Konkala-Straße nahe der Roma-Siedlung Sljunkara von Arkans Männern erschossen. Er starb mit einer Flasche Cognac in der Hand. Hinter- blieben sind seine Frau und fünf Kinder. Das Roma-Ehepaar Milkic, eine der reichsten Familien der Stadt, wurde in seinem eigenen Haus massakriert.

Besonderes Leid erfuhren die Roma aus Prijedor und seinen umliegenden Dörfern sowie aus Vlasenica, Rogatica und Srebrenica. In Srebrenica wurden 1995 während des Massenmordes an über 8.000 bosnischen Moslems 70 Roma umgebracht. In der Zeugenaussage von Bego Beganovic (1) aus Srebrenica heißt es: "Im Juli 1995 fand in Srebrenica ein Massaker an 70 Roma statt. Unter den Ermordeten war auch mein Schwager Mustafa Beharic. Gleichzeitig wurden im Dorf Skelani - 10 Kilometer entfernt von Srebrenica -50 Roma getötet, darunter auch die beiden Söhne meiner Schwester, Beharic Mujo und Beharic Haso. In Skelani wurden vier weitere meiner Verwandten aus der Familie Mehic von den Arkan-Truppen getötet. Auch in den Roma-Siedlungen Bjelovac (Bratunac) und Drinjaca (14 Kilometer entfernt von Zvornik, d. Red.) wurden Massaker begangen. Die Roma litten besonders viel in Potocari, wo auch mein Sohn und mein Bruder getötet wurden."

Aus dem Dorf Skocic bei Zvornik wurden alle Roma vertrieben, anschließend wurden die Kinder von den Müttern getrennt und entführt. Die Familie Aganovic vermisst fünf Kinder, die Familie Ribic acht. Es wird angenommen, dass sich ihre Kinder in Sabac und Krusevac unter anderem Namen befnden. Denn das Schicksal zweier minderjähriger Roma-Mädchen, Aganovic Izeta (14) und Aganovic Safeta (16), ist kein Einzelfall: Sie wurden in die erwähnten Städte gebracht, dort zwangsverheiratet und erhielten serbische Namen. Über das Internationale Rote Kreuz konnten ihre Eltern die beiden nach zwei Jahren ausfindig machen und in den Familienkreis zurückholen.

Die Roma aus Doboj wurden in das serbische Konzentrationslager Miljkovci deportiert. Auch das Ehepaar Osmanovic, die 64jähruige Pasa und der 75jährige Osman, wurde im April 1992 mit seinen acht Kindern von serbischen Milizen in dieses Lager gebracht. Sie waren bereits beide im Zweiten Weltkrieg zusammen mit ihren Eltern im Konzentrationslager Jasenovac des faschistischen Kroatien. Die Eltern wurden damals getötet und sie als Kinder gefoltert. Im Miljkovci-Lager musste Pasa alles tun, was die Tschetniks von ihr verlangten. Sie wurde geschlagen, besonders auf den Kopf, sie wurde so stark an den Haaren gezogen, dass ihr Kopf bis heute stellenweise kahl ist.

Unter den in Miljkovci gefangenen Roma war auch die zehnköpfige Familie von Hasan Hasanovic (2) aus Modrica. Hier nur ein Auszug aus seiner Aussage: "In diesem Lager - dies war ein großer Lagerraum - waren rund 700 Menschen, davon etwa 300 Roma. Meine älteste Tochter H. war 13 Jahre alt. Sie wurde ständig vor unseren Augen vergewaltigt. Meine Ehefrau musste danach Kafee kochen und die Tschetniks bedienen. Ich musste die Leichen der Getöteten in den Fluss Bosna werfen. Ich warf sie runter wie Baumstämme; ich durfte weder hinschauen, noch etwas fragen. An einem Tag habe ich 120 Leichen gezählt. Ich wartete darauf, selbst an die Reihe zu kommen ..." (3).

Anmerkungen:
1) Name von der Redaktion geändert.
2) Name von der Redaktion geändert.
3) August 1992 (Dokumentation Nummer 86 / 94, Archiv der GfV-BiH).

Roma in Serbien [ oben ]

Eine Bestandsaufnahme

Von Stephan Mueller

Zwischen 600.000 und 800.000 Roma leben in Serbien. Zwischen 600.000 und 800.000 Roma leben in Serbien.

Die wenigen verfügbaren Daten zur Situation der Roma in Serbien zeigen ein erschreckendes Bild. Beispielhaft sollen die verfügbaren Daten zum Erziehungswesen und zum Arbeitsmarkt angeführt werden, die jedoch auch noch durch Zahlen zur Wohnungssituation, Gesundheitslage, zu Übergriffen auf Roma, zu Roma, die ohne Papiere sind oder zur miserablen Lage der aus dem Kosovo vertriebenen Roma, ergänzt werden können. Die letzte Volkszählung in Serbien (ohne Kosovo) wies ca. 108.000 Roma aus. Die tatsächliche Anzahl dürfe aber zwischen 600.000 bis 800.000 liegen.

Die Roma sind eine relativ junge Bevölkerungsgruppe. Das Durchschnittsalter der Roma liegt bei 27,5 Jahren während es im Landesdurchschnitt bei 40,2 Jahren liegt. Der Anteil der unter 25-jährigen liegt bei knapp über 50 Prozent, während er bei der Gesamtbevölkerung bei knapp unter 30 Prozent liegt. Auf der anderen Seite beträgt der Anteil der über 60-jährigen unter der Gesamtbevölkerung bei 17,2 Prozent, während unter Roma nur 6 Prozent dieses Alter erreichen.

Arbeitsmarkt und Armut
Die Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNDP) stellte in einem Bericht zur Lage der Roma in Mittel- und Südosteuropa fest, dass die Lebensbedingungen vieler Roma mit den Bedingungen in den schlimmsten Slums in den Entwicklungsländern zu vergleichen sind; eine Aussage, die auch auf viele Roma Gemeinschafen in Serbien zutrifft. So leben einer UNDP-Untersuchung zufolge, 63 Prozent der Roma unter der Armutsgrenze, während nur 13% der Mehrheitsbevölkerung unter der Armutsgrenze leben.

68 Prozent der 15-24-Jährigen (36 Prozent unter Nicht-Roma), 36 Prozent der 25-54-Jährigen (13 Prozent unter Nicht-Roma) und 57 Prozent der über 55-Jährigen (13 Prozent unter Nicht-Roma) sind arbeitslos. Einer weiteren Untersuchung zufolge, hatten 70 Prozent der Roma zwischen 15 und 49 Jahren noch nie eine Arbeitsstelle. Diese Daten sagen jedoch noch wenig über die "Qualität" der Arbeit derjenigen aus, die eine Beschäftigung haben. Natürlich gibt es auch Roma, die als Ingenieure, Anwälte, Lehrer, Geschäftsleute arbeiten. Der größere Teil ist jedoch in unqualifizierten Berufen tätig. Einer Untersuchung von 2006 zufolge dienten folgende Tätigkeiten als Haupteinnahmequellen: bei jeweils 21 Prozent sind dies informelle Arbeit bei Bekannten und Nachbarn und der Verkauf von gesammelten Papier, Glas, Metall, Kupfer, etc; reguläres Einkommen aus Arbeit in einem Staats- oder kommunalen Betrieb bezogen 12 Prozent, als Marktverkäufer auf regulären Märkten, Flohmärkten, Straßen waren 10 Prozent tätig; Kinderbeihilfe und Mutterschafsgeld diente 10 Prozent, als Haupteinnahmequelle und 5 Prozent erzielten ein reguläres Einkommen aus Arbeit in einem Privatbetrieb.

Dabei erzielten nur 15 Prozent ein Einkommen von mehr als 150 Euro im Monat, während 25 Prozent weniger als 30 Euro im Monat zur Verfügung hätten. 66 Prozent gaben an, dass sie im Monat vor der Befragung keinerlei Ein- kommen erzielt hätten. Erschreckend ist auch, dass 14 Prozent der Kinder zwischen sechs und fünfzehn Jahren zum Einkommen ihrer Familien beitragen.

Bildung
Der Volkszählung von 2002 zufolge haben 62 Prozent der Roma die Grundschule nicht beendet; 29 Prozent haben die Grundschule abgeschlossen, 7,8 Prozent haben eine weiterführende Schule absolviert und 0,3 Prozent haben ein Studium oder einen ähnlichen Abschluss vorzuweisen. Eine im Jahre 2002 durchgeführte Studie zeigte, dass nur 48,4 Prozent der Kinder aus den interviewten Familien regelmäßig in die Schule gehen. Einer Studie aus dem Jahre 2004 zufolge, besuchen nur 69 Prozent beziehungsweise 88 Prozent der siebenjährigen beziehungsweise achtjährigen Roma Kinder die Schule, während der Anteil bei den Kindern der Mehrheitsbevölkerung bei 89 Prozent bzw. 100 Prozent liegt. Der Mangel an finanziellen Mitteln (49 Prozent) und an Dokumenten (20,2 Prozent) stellen die Hauptgründe dafür dar, dass Eltern ihre Kinder nicht zur Schule schicken.

Allerdings geben diese Daten keinen Aufschluss darüber, wie viele der Kinder in Sonderschulen und wie viele reguläre Grundschulen besuchen, denn ein großer Teil der Roma Kinder besucht Sonderschulen für geistig und körperlich Behinderte ohne selbst behindert zu sein. Es wird geschätzt, dass zwischen 50 Prozent und 80 Prozent aller Kinder in Sonderschulen, Angehörige der Roma sind. Weitere Probleme sind die Existenz von Schulklassen, die nur von Roma Kindern besucht werden und Gewalt und Diskriminierung in der Schule. Zudem verfügen Roma, im Gegensatz zu den anderen Minderheiten nicht über ein Netz von Schulen oder zu- mindest Unterrichtsklassen in ihrer Muttersprache, was die Leistungen der Kinder vor allem in den ersten Schuljahren sehr stark beeinträchtigt.

Ausblick
Die serbische Regierung hat in letzter Zeit Anstrengungen unternommen, die Situation im Erziehungswesen (Unterstützung des Besuches von Vorschuleinrichtungen und von Grundschulen, Roma Assistenten in Schulen, Romani-Unterricht, Stipendien, etc) oder auch auf dem Arbeitsmarkt (Beschäftigungs- und Ausbildungsprogramme) anzugehen. Zudem wird demnächst auch Geld zur Verbesserung der Wohnungssituation zur Verfügung gestellt. Sie hat inzwischen auch die umfassende Strategie zur Integration der Roma angenommen und nimmt in der "Decade of Roma Inclusion" teil.

Wie die oben erwähnten Daten zeigen, sind die Probleme immens. Daher kann nur die schnelle, umfassende und konsequente Umsetzung der Strategie, die alle Lebensbereiche mit einbezieht, eine dauerhafte Verbesserung der Lage erreichen. Vereinzelte Maßnahmen werden nicht helfen, sondern nur ein langfristiges Programm, das zugleich die Probleme im Erziehungswesen, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitsbereich und auf dem Wohnungsmarkt angreift. Gleichzeitig müssen Roma verstärkt in den Entscheidungsfindungsprozess und die eigentliche Umsetzung der Programme miteinbezogen werden. Zudem muss auch die Mehrheitsbevölkerung davon überzeugt werden, dass die Verbesserung der Lage der Roma der gesamten Gesellschaf dient.

Gerade bei letzterem ist aber noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Als vor kurzem eine gesundheitsgefährdende Slumsiedlung aufgelöst wurde, konnten die Behörden keine alternative Wohnmöglichkeit für die Roma finden, da bei jedem Vorschlag zur Neuansiedlung heftiger Widerstand von Seiten der dort bereits lebenden Nicht-Roma, eine Neuansiedlung verhinderte. Um ein solches umfassendes Programm umzusetzen, braucht die serbische Regierung die ausreichende finanzielle und organisatorische Unterstützung der Europäischen Union; eine Unterstützung, die sie bisher noch nicht erhalten hat und ohne die sie nicht in der Lage sein wird, die Situation der Roma entscheidend und dauerhaft zu verbessern.

Die Europäische Kommission kritisiert regelmäßig in ihren Fortschrittsberichten zu Serbien die Lage der Roma. Unter den Projekten, die im Rahmen des Erweiterungsprozesses mit finanzieller Unterstützung der Kommission durchgeführt werden (Instrument of Pre-Accession; "Finanzinstrument zur Heranführungshilfe"), finden sich aber kaum welche, die der Verbesserung der Lage der Roma dienen würden. Geschweige denn, dass die EU eine konsistente und überzeugende Politik entwickelt hätte, wie die Situation der Roma in Serbien oder in allen Staaten im westlichen Balkan, die der EU beitreten möchten, verbessert werden kann oder dass sie die tatsächliche Verbesserung der Lage der Roma zu einem ernsthaften Beitrittskriterium machen würde.

Roma in Russland [ oben ]

Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit am Rande der Gesellschaft

Von Sarah Reinke

Sie leben in selbst gebauten Siedlungen, und sind dennoch in ständiger Gefahr, vertrieben zu werden. Sie leben in selbst gebauten Siedlungen, und sind dennoch in ständiger Gefahr, vertrieben zu werden.

Am 14. Mai 2009 - ein Run- der Tisch ist in Verchnaja Elschanka im Oblast Wolgograd anberaumt worden zur Schulbildung von Kelderari (russ. "zyganskij"), einer besonders benachteiligten Roma-Gruppe in Russland. An der Veranstaltung, die von der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" organisiert wurde, nahmen auch Schulleiter aus Wolgograd, Rjasan, Tula, Lipizka und Astrachan, teil. Die Initiative zur Verbesserung der Bildungschancen von Roma-Kindern wird von der schwedischen Organisation "Rettet die Kinder!" finanziert. In Russland, wie in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks, sind gesonderte "Zigeunerklassen" üblich. Die meisten Roma-Kinder verlassen nach nur sechs Jahren die Schule. Entsprechend schlecht sind ihre Chancen auf eine Ausbildung und einen Arbeitsplatz. Häufig können die Schulanfänger kein Russisch, Schulbücher in den verschiedenen Roma-Sprachen gibt es nicht. Nun sollen neue Fibeln helfen, die für Russisch als Fremdsprache ausgelegt sind. Die schwerste Form der Diskriminierung der Roma in Russland sind jedoch die gewaltsamen Vertreibungen aus ihren sie zumeist selbst aufgebauten Siedlungen.

Nach seinem Russlandbesuch 2006 schrieb der sichtlich betroffene UN-Sonderberichterstatter für Rassismus Doudou Diène, dass die Roma des Landes "in einer von hoher Verletzlichkeit und Diskriminierung geprägten Situation leben, die besonders Frauen und Kinder betrifft. Die Diskriminierung ist im Bereich Wohnen, Erziehung, Gesundheit und Arbeit besonders eklatant und hängt of damit zusammen, dass die Betroffenen weder die Staatsbürgerschaf noch die Registrierung am Wohnort erhalten." Er führte weiter aus, dass Roma-Gruppen zunehmend unter rassistischer Gewalt von Seiten russischer Ultranationalisten, aber auch der Polizei litten. Geschürt würde diese Gewalt durch negative Stereotypen, die die Roma mit Kriminalität und Drogenhandel in Verbindung brachten. Dies nutzten auch Politiker zu Wahlkampfzwecken aus - ein leichtes Spiel, betrachtet man eine Umfrage des unabhängigen "Levada" Meinungsforschungsinstituts aus dem Jahr 2005: Über 40 Prozent der Befragten sagten, sie fänden es besser, wenn keine Roma in Russland lebten, 50 Prozent würden sich weigern, mit einem Roma zusammenzuarbeiten.

In Russland leben rund 500.000 Roma. Während der Sowjetzeit wurde ihre Nationalität mit "Zigeuner" (russ. Zygane) bezeichnet. Sie selbst legen jedoch Wert auf differenzierte Begriffe, die ihre Herkunft verdeutlichen. So leben im Nordwesten vier Gruppen: die russischen Roma, (lettische, estnische, litauische und polnische Roma), die Kelderari, die Magyaren (Immigranten aus den Karpaten), die Luli oder Mugat (aus Zentralasien). In anderen Teilen der Russischen Föderation leben weitere große Gruppen wie die Krimroma, die Servi, Kischinevzi, Plazschuni, Lovari und Wlachen. 30 Prozent aller russischen Roma behaupten von sich, Kelderari zu sein. Die Kelderari sind laut den Menschenrechtsorganisationen "Memorial" und "FIDH" (Fédération internationale pour les Droits de l'Hommes) der stärksten Diskriminierung ausgesetzt.

In einem Dekret des Obersten Sowjet aus dem Jahr 1956 wurden die Roma gezwungen, einen festen Wohnsitz zu nehmen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion weigerten sich die Behörden, die Land- und Wohnrechte der Roma zu legalisieren. Nach dem Landgesetz aus dem Jahr 2001 kann Land in Russland per Auktion an den Höchstbietenden verkauf werden. Unternehmen und Privatpersonen kaufen so Land, z.B. an den Stadträndern, das zudem Teil der Bebauungspläne der Städte ist, ohne die dort lebenden Roma zu fragen.

Sind die Entscheidungen dann rechtskräftig, rücken Bulldozer aus und zerstören die Roma-Siedlungen. Häufig haben die Familien nicht einmal Zeit, ihre wenigen Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen. Die Ruinen der ärmlichen Behausungen werden dann meist angezündet. Bei der Räumung gehen die Behörden mit großer Brutalität vor und bringen of auch die berüchtigten OMON-Spezialeinheiten (Sondereinheit des Innenministeriums, die im Tschetschenienkrieg für massive Menschenrechtsverletzungen verantwortlich war) zum Einsatz, die das Gelände weiträumig absperren, die Bewohner, unter ihnen auch Kinder, mit ihren Maschinengewehren bedrohen und beschimpfen.

Von einem festen Wohnsitz, der in Russland Pflicht ist, hängt der Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt ab. Deshalb versuchen Roma-Gemeinschaften mit den lokalen Behörden Absprachen zu treffen. Die jedoch halten vor keinem Gericht stand. Denn die Gerichte spielen hier wie so of in Russland die unrühmliche Rolle des Erfüllungsgehilfen. Sie verabschieden Urteile, dass "illegale Gebäude" abgerissen werden sollen, nachdem die betroffene Stadt bzw. Privatpersonen gegen die Roma-Siedlung geklagt haben. Dass diese Verfahren nicht internationalen Standards entsprechen, muss fast nicht erwähnt werden. Viele Roma-Gruppen bewegen sich also in einem Teufelskreis: Ihre Siedlungen, in die sie durch das Dekret aus dem Jahr 1956 gezwungen wurden, sind illegal.

Deshalb erhalten sie keine städtische Registrierung, ohne die sie keinen Zugang zu Krankenversorgung, Arbeitsmarkt und Bildung haben. Durch die Vertreibungen droht ihnen Obdachlosigkeit und die völlige Verarmung. Die sich in Russland besonders stark auswirkende Weltwirtschafskrise droht diesen Zustand sogar noch zu verschlimmern, denn sie trief die Ärmsten am härtesten. Und sie leistet denjenigen Vorschub, die Sündenböcke für die derzeitige schlechte wirtschaftliche Lage ihres Landes suchen und somit Rassismus schüren.

Pogrom-bedrohte Völker 254 (3/2009)