Bozen, Göttingen, 10. Juni 2005
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat am
Freitag vor neuen ethnischen Konflikten in dem
Vielvölkerstaat Äthiopien gewarnt, sollte sich die
Protestbewegung der politischen Oppositionsparteien durchsetzen.
"Diese Protestbewegung steht nicht für eine Demokratisierung
Äthiopiens, sondern für eine Rückkehr zur alten
Vorherrschaft der wohlhabenden amharischen
Bevölkerungsminderheit", sagte der GfbV-Afrikareferent
Ulrich Delius. So habe die oppositionelle "Koalition für
Einheit und Demokratie" (CUD) angekündigt, im Falle ihres
Wahlsieges das föderale Verfassungssystem abzuschaffen,
Amharisch erneut als alleinige Amtssprache einzuführen, das
in der Verfassung verbriefte Recht auf Selbstbestimmung aller
Nationalitäten abzuschaffen und das Landeigentum zu
privatisieren.
"Statt auf die Probleme des Vielvölkerstaates Antworten von
heute zu finden, wartet die CUD mit Konzepten von vorgestern auf,
die die Gewalt weiter eskalieren lassen werden", kritisierte
Delius. Die größte Unterstützung bekomme die CUD
von den wohlhabenderen Bürgern der Hauptstadt Addis Abeba.
Viele CUD-Politiker seien erst in den letzten Jahren wieder nach
Äthiopien zurückgekehrt. Viele hatten sich während
der Diktatur Mengistu Haile Mariams (1977-1990) ins Exil
zurückgezogen - vor allem in die USA und nach Kanada.
Es sei jedoch auch unerträglich, dass die äthiopischen
Behörden mit Gewalt gegen CUD-Anhänger vorgingen und
dabei systematisch die Presse- und Demonstrationsfreiheit
unterdrücken. Seit vergangenem Montag wurden mehr als 600
CUD-Anhänger verhaftet. Nachdrücklich appellierte die
GfbV an Premierminister Meles Zenawi, die inhaftierten Studenten
sofort freizulassen und die Pressefreiheit nicht länger zu
unterdrücken. Wegen so genannter "Verbreitung falscher
Informationen" über die Demonstrationen hatten die
Behörden in dieser Woche fünf einheimischen
Journalisten, die auch für die Radiosender "Deutsche Welle"
und "Voice of America" tätig waren, die Arbeitserlaubnis
entzogen. Auch waren Speicherkarten von Foto-Journalisten
beschlagnahmt worden.
Mehr als 70 ethnische Gruppen leben in Äthiopien, in dem
286 Sprachen gesprochen werden. Die unter Kaiser Haile Selassie
(1939-1974) und Diktator Mengistu Haile Mariam dominierenden
Amharen stellen nur 25 Prozent der 70 Millionen Einwohner des
Vielvölkerstaates. Die übrigen Nationalitäten,
insbesondere die mit 40 Prozent größte
Bevölkerungsgruppe der Oromo, fordern ein Ende der
Diskriminierung und Marginalisierung. Zwar sieht die Verfassung
von Äthiopien offiziell ein föderales System mit
breiten Volksgruppen-Rechten vor, doch tatsächlich wurden
die meisten Nationalitäten vom Volk der Tigray und ihrer
regierenden EPRDF dominiert. Organisationen und politische
Bewegungen anderer Nationalitäten wurden von der EPRDF
gleichgeschaltet.
Unter Menschenrechtsverletzungen leidet besonders die Oromo-
Mehrheitsbevölkerung, die pauschal der Unterstützung
der Freiheitsbewegung Oromo Liberation Front verdächtigt
wird. Mehr als 300 Oromo-Studenten wurden im Jahr 2004 nach
Protesten gegen die Verletzung der Menschenrechte der Oromo von
äthiopischen Universitäten zwangsexmatrikuliert. Noch
immer befinden sich vier am 18. Mai 2004 festgenommene
Führer der Oromo-Wohlfahrtorganisation Macha Tulama in Haft,
obwohl der Oberste Gerichtshof ihre Freilassung angeordnet
hat.