Bozen, Göttingen, 28. September 2006
Als
Hoffnungsträger für die Schwachen hat Präsident
Lula da Silva vor vier Jahren sein Amt in Brasilien angetreten.
Doch die Situation der Indianer Brasiliens hat sich nach
Recherchen der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)
nicht wesentlich verbessert. Zwar sei im März 2006 die
Nationale Kommission für Ureinwohnerpolitik gegründet
worden, doch bislang bestehe sie nur auf dem Papier, kritisiert
die internationale Menschenrechtsorganisation für ethnische
und religiöse Minderheiten sowie Ureinwohnergemeinschaften
und fordert endlich wirksame Maßnahmen für die 235
indianischen Völker in Brasilien. Für eine Verbesserung
der Bildungssituation und eine Senkung der Kindersterblichkeit
unter den indigenen Völkern sei bisher viel zu wenig getan
worden. Obwohl den Macuxi, Wapixana, Ingarikó, Taurepang
und Patamona nach 30 langen Jahren endlich der Landtitel
über ihr gut 1,6 Millionen Hektar großes Gebiet Raposa
Serra do Sol im Bundesstaat Roraima zuerkannt worden sei,
verlaufe der Prozess der Anerkennung indianischer
Landansprüche viel zu schleppend. Denn Land sei für
diese noch immer eng an ein Leben in der Natur angepassten
Menschen die Voraussetzung für ihr Überleben.
Ein Bericht des Indianermissionsrates CIMI, einer der wichtigsten
Menschenrechtsorganisation in Brasilien für die
Unterstützung der indigenen Völker und
Partnerorganisation der GfbV, belegt, dass Landkonflikte in
Brasilien seit 2003 wieder zunehmen. CIMI hat u.a. durch eigene
Teams die Situation der mehr als 730.000 Angehörigen
indigener Völkern Brasiliens untersucht. Demnach war die
Lage im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, der an Paraguay und
Bolivien grenzt, besonders dramatisch. Nirgendwo sonst in
Brasilien verfügen die Indigenen über so wenig Land. Am
Schlimmsten ist die Situation der 37.000
Guaraní-Kaiowá. In 64 ihrer 87 Territorien hat der
Prozess zur offiziellen Anerkennung ihres Landes (Demarkierung)
noch nicht einmal begonnen. Wenn sie aber nicht auf dem Land
ihrer Ahnen leben können, dann können sie auch ihre
traditionelle Wirtschaftsweise nicht ausüben, haben oft
weder Zugang zu ihren Heilpflanzen noch zu sauberem Wasser.
Stattdessen sind die Indianer abhängig von der Verteilung
von Lebensmitteln und Kleidung, Alkoholmissbrauch, Prostitution,
Gewalt und Suizide sind weit verbreitet. Aus Mato Grosso do Sul
stammten 29 der 43 im Jahre 2005 in Brasilien getöteten
Indianer, 28 der 31 Indianer, die sich in jenem Jahr das Leben
nahmen, und 31 der 43 indianischen Kinder, die im Jahre 2005 an
Mangelernährung starben.
Besorgnis erregend bleibt die Lage der Yanomami im Bundesstaat
Roraima. 20 Prozent ihrer Kinder haben Untergewicht und leiden an
Krankheiten, die von Goldsuchern eingeschleppt wurden. Ihre
Nahrungsversorgung wird immer schwieriger. Fischfang ist kaum
noch möglich, denn die Flüsse wurden durch die
Goldgräber mit Quecksilber verseucht. Dramatisch ist auch
die Situation der etwa 60 in freiwilliger Isolation lebenden
indianischen Völker, die dem CIMI bekannt sind. Sie
versuchen, den Kontakt zu Außenstehenden bewusst zu meiden,
doch auch ihr Land ist vor Holzhändlern und
Großgrundbesitzern nicht sicher. 17 dieser Völker
drohen nach Einschätzung von CIMI auszusterben. Schlagzeilen
auch in Deutschland macht derzeit vor allem der Konflikt zwischen
den Tupinikim und Guarani im Bundesstaat Espirito Santo
nördlich von Rio de Janeiro an der Küste Brasiliens und
dem Unternehmen Aracruz Celulose. 1967 erkannte die Behörde
für indianische Angelegenheiten Brasiliens FUNAI den
Indianern 18.070 Hektar Land zu, von denen Aracruz Celulose ca.
11.000 Hektar besetzt hält. Das Unternehmen baut dort
Eukalyptus-Monokulturen für die Herstellung von Zellstoff
an, aus dem Taschentücher und andere Wegwerfartikel aus
Papier entstehen. Hauptabnehmer von Aracruz sind die Konzerne
Kimberly-Clark und Procter and Gamble (P&G), die ihre Produkte
auch in Deutschland verkaufen.
Vier Expertenkommissionen der FUNAI haben in den vergangenen zehn
Jahren bestätigt, dass die Tupinikim und Guarani seit
altersher auf diesem Gebiet leben. Studien der FUNAI beweisen,
dass das physische und kulturelle Überleben der Indianer von
der ungestörten Nutzung dieses Landes abhängt. Aracruz
hat bei der FUNAI trotzdem Protest gegen die Demarkierung des
Gebiets eingelegt. Anfang September ergriffen die Tupinikim und
Guarani schließlich in ihrer Not selbst die Initiative. Sie
fällten Eukalyptusbäume in dem umstrittenen Gebiet und
verbrannten sie. Inzwischen hat die FUNAI ihr für die
Indianer positives Gutachten an den Justizminister
weitergeleitet, der bis zum 12. Oktober seine Entscheidung
bekannt geben muss. Auch die GfbV hat die Indianer mit mehreren
Protestbriefkampagnen unterstützt. "Aracruz reagierte mit
einer Verleumdungskampagne und versucht zurzeit, die lokale
Bevölkerung gegen die Indianer aufzuhetzen", schildert
Geertje van der Pas, Europasprecherin des CIMI, die explosive
Situation. "In einer Plakatierungsaktion und Anzeigenserie werden
sie als Pseudo-Indianer, Barbaren, Kriminelle und Diebe
beschimpft. Informationsblätter, die in der Stadt Aracruz
verteilt werden, verkünden zum Beispiel die Parole: Aracruz
brachte den Fortschritt, FUNAI die Indianer. Genug von diesen
Indianern,, die unsere Arbeiter bedrohen."
Die Ureinwohnerpolitik Brasiliens sehen auch die UN kritisch.
"Die indigenen Völker fühlen sich allein gelassen und
von den Behörden verfolgt", sagt der
UN-Sonderberichterstatter zu Rassismus, Rassendiskriminierung,
Fremdenangst und jeder Form der Diskriminierung Doudou
Diène, der im Oktober 2005 eine Untersuchungsmission in
Brasilien durchführte und im Februar 2006 einen Bericht
vorlegte. "Ein Dialog zwischen Indigenen und Regierung findet
nicht statt und das Verhältnis zur staatlichen
Indianerbehörde FUNAI ist angespannt. Der Präsident der
FUNAI behauptet, dass das Treuhandverhältnis noch immer
existiert und bricht damit geltendes Recht, er äußert
sich diskriminierend gegen die Indianer, entscheidet selbst, wer
Indianer ist und wer nicht und verletzt damit die Konvention 169
zu Indigenen und in Stämmen lebenden Völkern der
International Labour Organisation, und er leistet den Indigenen
nicht die erforderliche Unterstützung."
Deshalb fordern die Gesellschaft für bedrohte Völker
(GfbV) und der CIMI, dass die neue Regierung Brasiliens, die von
122 Millionen brasilianischen Wahlberechtigten am kommenden
Sonntag, dem 1. Oktober, bestimmt werden wird, ihren aus der
Konvention 169 der ILO erwachsenen Verpflichtungen endlich
zügig und wirksam nachkommt: volle Gewährleistung der
Menschenrechte und Grundfreiheiten, Durchsetzung des Rechts auf
Gestaltung der eigenen Zukunft, kulturelle Identität und
gemeinschaftliche Strukturen und Traditionen, Land und
Ressourcen, Beschäftigung und angemessene
Arbeitsbedingungen, Ausbildung und Zugang zu den
Kommunikationsmitteln, Beteiligung bei der Findung von
Entscheidungen, die diese Völker betreffen.
Gleichberechtigung vor Verwaltung und Justiz. Brasilien hat die
Konvention 169 der ILO im Juli 2002 ratifiziert.
Der CIMI-Bericht ist in der brasilianischen Originalfassung 'Violência contra os Povos Indígenas no Brasil' veröffentlicht bei www.cimi.org.br. Auf der Homepage der GfbV www.gfbv.de sind eine Zusammenfassung in deutscher und englischer Fassung sowie weitere Informationen zu den indigenen Völkern Brasiliens zu finden.