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Zu den Wahlen in Brasilien am 1. Oktober 2006

Gesicherter Landbesitz ist der Schlüssel für das Überleben der indigenen Völker - Menschenrechtler fordern endlich wirksame Maßnahmen für Brasiliens 235 indianische Völker

Bozen, Göttingen, 28. September 2006

Guaranì Junge Als Hoffnungsträger für die Schwachen hat Präsident Lula da Silva vor vier Jahren sein Amt in Brasilien angetreten. Doch die Situation der Indianer Brasiliens hat sich nach Recherchen der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) nicht wesentlich verbessert. Zwar sei im März 2006 die Nationale Kommission für Ureinwohnerpolitik gegründet worden, doch bislang bestehe sie nur auf dem Papier, kritisiert die internationale Menschenrechtsorganisation für ethnische und religiöse Minderheiten sowie Ureinwohnergemeinschaften und fordert endlich wirksame Maßnahmen für die 235 indianischen Völker in Brasilien. Für eine Verbesserung der Bildungssituation und eine Senkung der Kindersterblichkeit unter den indigenen Völkern sei bisher viel zu wenig getan worden. Obwohl den Macuxi, Wapixana, Ingarikó, Taurepang und Patamona nach 30 langen Jahren endlich der Landtitel über ihr gut 1,6 Millionen Hektar großes Gebiet Raposa Serra do Sol im Bundesstaat Roraima zuerkannt worden sei, verlaufe der Prozess der Anerkennung indianischer Landansprüche viel zu schleppend. Denn Land sei für diese noch immer eng an ein Leben in der Natur angepassten Menschen die Voraussetzung für ihr Überleben.

Ein Bericht des Indianermissionsrates CIMI, einer der wichtigsten Menschenrechtsorganisation in Brasilien für die Unterstützung der indigenen Völker und Partnerorganisation der GfbV, belegt, dass Landkonflikte in Brasilien seit 2003 wieder zunehmen. CIMI hat u.a. durch eigene Teams die Situation der mehr als 730.000 Angehörigen indigener Völkern Brasiliens untersucht. Demnach war die Lage im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, der an Paraguay und Bolivien grenzt, besonders dramatisch. Nirgendwo sonst in Brasilien verfügen die Indigenen über so wenig Land. Am Schlimmsten ist die Situation der 37.000 Guaraní-Kaiowá. In 64 ihrer 87 Territorien hat der Prozess zur offiziellen Anerkennung ihres Landes (Demarkierung) noch nicht einmal begonnen. Wenn sie aber nicht auf dem Land ihrer Ahnen leben können, dann können sie auch ihre traditionelle Wirtschaftsweise nicht ausüben, haben oft weder Zugang zu ihren Heilpflanzen noch zu sauberem Wasser. Stattdessen sind die Indianer abhängig von der Verteilung von Lebensmitteln und Kleidung, Alkoholmissbrauch, Prostitution, Gewalt und Suizide sind weit verbreitet. Aus Mato Grosso do Sul stammten 29 der 43 im Jahre 2005 in Brasilien getöteten Indianer, 28 der 31 Indianer, die sich in jenem Jahr das Leben nahmen, und 31 der 43 indianischen Kinder, die im Jahre 2005 an Mangelernährung starben.

Besorgnis erregend bleibt die Lage der Yanomami im Bundesstaat Roraima. 20 Prozent ihrer Kinder haben Untergewicht und leiden an Krankheiten, die von Goldsuchern eingeschleppt wurden. Ihre Nahrungsversorgung wird immer schwieriger. Fischfang ist kaum noch möglich, denn die Flüsse wurden durch die Goldgräber mit Quecksilber verseucht. Dramatisch ist auch die Situation der etwa 60 in freiwilliger Isolation lebenden indianischen Völker, die dem CIMI bekannt sind. Sie versuchen, den Kontakt zu Außenstehenden bewusst zu meiden, doch auch ihr Land ist vor Holzhändlern und Großgrundbesitzern nicht sicher. 17 dieser Völker drohen nach Einschätzung von CIMI auszusterben. Schlagzeilen auch in Deutschland macht derzeit vor allem der Konflikt zwischen den Tupinikim und Guarani im Bundesstaat Espirito Santo nördlich von Rio de Janeiro an der Küste Brasiliens und dem Unternehmen Aracruz Celulose. 1967 erkannte die Behörde für indianische Angelegenheiten Brasiliens FUNAI den Indianern 18.070 Hektar Land zu, von denen Aracruz Celulose ca. 11.000 Hektar besetzt hält. Das Unternehmen baut dort Eukalyptus-Monokulturen für die Herstellung von Zellstoff an, aus dem Taschentücher und andere Wegwerfartikel aus Papier entstehen. Hauptabnehmer von Aracruz sind die Konzerne Kimberly-Clark und Procter and Gamble (P&G), die ihre Produkte auch in Deutschland verkaufen.

Vier Expertenkommissionen der FUNAI haben in den vergangenen zehn Jahren bestätigt, dass die Tupinikim und Guarani seit altersher auf diesem Gebiet leben. Studien der FUNAI beweisen, dass das physische und kulturelle Überleben der Indianer von der ungestörten Nutzung dieses Landes abhängt. Aracruz hat bei der FUNAI trotzdem Protest gegen die Demarkierung des Gebiets eingelegt. Anfang September ergriffen die Tupinikim und Guarani schließlich in ihrer Not selbst die Initiative. Sie fällten Eukalyptusbäume in dem umstrittenen Gebiet und verbrannten sie. Inzwischen hat die FUNAI ihr für die Indianer positives Gutachten an den Justizminister weitergeleitet, der bis zum 12. Oktober seine Entscheidung bekannt geben muss. Auch die GfbV hat die Indianer mit mehreren Protestbriefkampagnen unterstützt. "Aracruz reagierte mit einer Verleumdungskampagne und versucht zurzeit, die lokale Bevölkerung gegen die Indianer aufzuhetzen", schildert Geertje van der Pas, Europasprecherin des CIMI, die explosive Situation. "In einer Plakatierungsaktion und Anzeigenserie werden sie als Pseudo-Indianer, Barbaren, Kriminelle und Diebe beschimpft. Informationsblätter, die in der Stadt Aracruz verteilt werden, verkünden zum Beispiel die Parole: Aracruz brachte den Fortschritt, FUNAI die Indianer. Genug von diesen Indianern,, die unsere Arbeiter bedrohen."

Die Ureinwohnerpolitik Brasiliens sehen auch die UN kritisch. "Die indigenen Völker fühlen sich allein gelassen und von den Behörden verfolgt", sagt der UN-Sonderberichterstatter zu Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenangst und jeder Form der Diskriminierung Doudou Diène, der im Oktober 2005 eine Untersuchungsmission in Brasilien durchführte und im Februar 2006 einen Bericht vorlegte. "Ein Dialog zwischen Indigenen und Regierung findet nicht statt und das Verhältnis zur staatlichen Indianerbehörde FUNAI ist angespannt. Der Präsident der FUNAI behauptet, dass das Treuhandverhältnis noch immer existiert und bricht damit geltendes Recht, er äußert sich diskriminierend gegen die Indianer, entscheidet selbst, wer Indianer ist und wer nicht und verletzt damit die Konvention 169 zu Indigenen und in Stämmen lebenden Völkern der International Labour Organisation, und er leistet den Indigenen nicht die erforderliche Unterstützung."

Deshalb fordern die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und der CIMI, dass die neue Regierung Brasiliens, die von 122 Millionen brasilianischen Wahlberechtigten am kommenden Sonntag, dem 1. Oktober, bestimmt werden wird, ihren aus der Konvention 169 der ILO erwachsenen Verpflichtungen endlich zügig und wirksam nachkommt: volle Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Durchsetzung des Rechts auf Gestaltung der eigenen Zukunft, kulturelle Identität und gemeinschaftliche Strukturen und Traditionen, Land und Ressourcen, Beschäftigung und angemessene Arbeitsbedingungen, Ausbildung und Zugang zu den Kommunikationsmitteln, Beteiligung bei der Findung von Entscheidungen, die diese Völker betreffen. Gleichberechtigung vor Verwaltung und Justiz. Brasilien hat die Konvention 169 der ILO im Juli 2002 ratifiziert.

Der CIMI-Bericht ist in der brasilianischen Originalfassung 'Violência contra os Povos Indígenas no Brasil' veröffentlicht bei www.cimi.org.br. Auf der Homepage der GfbV www.gfbv.de sind eine Zusammenfassung in deutscher und englischer Fassung sowie weitere Informationen zu den indigenen Völkern Brasiliens zu finden.


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/2c-stampa/2006/060807de.html | www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/brasilien.html | www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/0608report-de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/2006/060630ade.html | www.gfbv.it/2c-stampa/2005/051021de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/2005/050808de.html | www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/dekade.html

* www: www.cimi.org.br | www.socioambiental.org/pib/english/source/outros_sitesi.shtm | http://de.wikipedia.org/wiki/Indigene_Bev%C3%B6lkerung_Brasiliens | www.ohchr.org/english/issues/indigenous/groups/groups-01.htm

Letzte Aktual.: 4.10.2006 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/2c-stampa/2006/060928de.html | XHTML 1.0 / CSS / WAI AAA | WEBdesign: M. di Vieste; E-mail: info@gfbv.it.

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