Ulrich Delius
Bozen, Göttingen, Februar 2008
INDEX
Interview mit Temtsiltu Shobtsood
Hirten sollen sesshaft werden | Siedler fördern Wüstenbildung | Nomaden werden zwangsweise umgesiedelt | Regierung will Mongolen assimilieren
Im Jahr 2007 hat China mit
großem Pomp das 60 jährige Bestehen der Autonomen
Region Innere Mongolei gefeiert. Ist dies tatsächlich eine
Erfolgsgeschichte?
Temtsiltu: Nein, die chinesischen Machthaber
verstehen es aber perfekt, ein schönes Bild zu entwickeln.
Hinter der Fassade sieht es anders aus. Die mongolische Kultur
wird systematisch zerstört. Es gibt Menschen, die sich
einsetzen, damit bestimmte Tiere und Pflanzen nicht aussterben.
Aber wer kümmert sich schon darum, dass die Mongolen in
China aussterben?
Was ist die größte Gefahr für die
Mongolen?
Temtsiltu: Die Nomaden in der Inneren Mongolei
werden für die Umweltprobleme Chinas verantwortlich gemacht.
Um die Versteppung der Landschaft zu verhindern, sollen sie nun
keine Tiere mehr halten dürfen. Denn China fürchtet,
Sandstürme während der Olympiade könnten das Image
des Landes beeinträchtigen. Doch auch nach der Olympiade
wird es keine Rückkehr zur alten Nomadenwirtschaft mehr
geben. Gegen eine kleine Entschädigung sollen die ehemaligen
Nomaden sich nun in Städten und Dörfern ansiedeln. So
verlieren sie ihre alte Kultur, ihre Identität und ihr
Zusammenleben als Gruppe. Denn in der Stadt lebt nur jeder
für sich.
Was berichten die ehemaligen Nomaden, die sich in der Stadt
niedergelassen haben?
Temtsiltu: Das Leben dort ist schwer. Es gibt
viele Arbeitslose und Migranten aus den ländlichen Gebieten.
Nomadenkinder haben einen schlechten Ruf in der Stadt. Denn viele
schließen sich in Gangs zusammen, weil sie sonst keine
Möglichkeit sehen zu überleben. Viele Familien
können wegen der immer mehr steigenden Schulgebühren
ihre Kinder nicht zur Schule schicken. Andere lassen ihre Kinder
den oft langen Schulweg nicht machen - aus Angst, ihnen
könnte dabei etwas passieren. An den Schulen nimmt die
Korruption stark zu, so dass Kinder aus ärmeren Familien zum
Teil benachteiligt werden. Deshalb bleiben viele mongolische
Kinder zu Hause und erhalten keine ausreichende
Schulbildung.
Wird die mongolische Sprache an den Schulen
gefördert?
Temtsiltu: Offiziell gibt es zwar kein Verbot
der mongolischen Sprache, aber die Behörden tun alles, um
das Chinesische systematisch zu fördern. So heißt es,
es gebe nicht genug Lehrer, um das Mongolische zu unterrichten.
Mongolische Schulen wurden geschlossen. Viele Eltern entscheiden
sich auch für eine chinesische Ausbildung ihrer Kinder, weil
sie fürchten, dass sie sonst später keine Arbeitsstelle
bekommen. In Tibet wird über die Sinisierung geklagt, in der
Inneren Mongolei kann man sie im Endstadium erleben.
Angelina Jolie und andere Hollywood-
Stars wurden bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin
2007 nicht ausgezeichnet, sondern unbekannte Viehhirten und
Laiendarsteller aus der Inneren Mongolei, einer der großen
Minderheitenregionen Chinas.
Sie spielten in dem chinesischen Film "Tuyas Hochzeit" mit, der
den "Goldenen Bär" bekam. Der Film fängt in
großartigen Bildern das traditionelle Nomadenleben in der
Inneren Mongolei ein. Regisseur Wang Quan'an entschloss sich zu
den Dreharbeiten, als er davon hörte, dass die
Industrialisierung die Nomaden immer mehr verdrängt und die
chinesischen Behörden die Mongolen zwingen, ihr Hirtenleben
aufzugeben. Mit dem Film wollte er diese alte Kultur festhalten,
bevor sie ganz verschwindet. Tatsächlich ist die
Nomadenkultur heute massiv bedroht. Seit dem Jahr 2001 haben die
chinesischen Behörden 650.000 Nomaden und Halbnomaden in
Städten und Dörfern angesiedelt. Begründet wird
diese Zwangsmassnahme mit dem zunehmenden Vordringen der
Wüste in der Inneren Mongolei.
Nach offiziellen Schätzungen
dehnen sich die Wüsten in China jedes Jahr um 3.500
Quadratkilometer aus. Rund 400 Millionen Menschen sind von den
vorrückenden Wüsten in der Volksrepublik bedroht. 81%
der Fläche der Inneren Mongolei hätten sich bereits in
Wüsten verwandelt, beklagen chinesische Offizielle. Doch mit
keiner Silbe erwähnen sie, dass für die
"Verwüstung" vor allem die staatlich geförderte
intensive landwirtschaftliche Bewirtschaftung der Region
verantwortlich ist, die von eingewanderten chinesischen Siedlern
seit den 60er Jahren betrieben wird.
Lebten 1949 nur 200.000 Angehörige der chinesischen
Han-Mehrheitsbevölkerung in dem Gebiet, so sind heute fast
80% der 24 Millionen Bewohner der Inneren Mongolei eingewanderte
Han. Die chinesischen Siedler sollten die strategisch bedeutsame
Region für China sichern und die vier Millionen Mongolen zu
einer bedeutungslosen Minderheit in ihrer eigenen Heimat machen.
Die Felder dieser Siedler und verfehlte Aufforstungsprojekte
ließen die Grundwasserreserven weiter schrumpfen.
Doch offiziell werden nur die
Nomaden für die ökologische Katastrophe verantwortlich
gemacht. Ihr Vieh habe das Weideland zerstört, heißt
es in Erklärungen der Behörden. Daher müssten die
Nomaden nun ihre "veraltete" Wirtschaftsweise aufgeben und
dauerhaft in Städten und Dörfern angesiedelt werden.
Nur so könne man ihren Lebensstandard erhöhen und eine
bessere Versorgung der Bevölkerung gewährleisten. Erste
Planungen für die Umsiedlungen begannen im November
1998.
Im Juli 2001 wurde offiziell das große "ökologische
Umsiedlungsprojekt" von der Provinzregierung der Autonomen Region
Innere Mongolei beschlossen. Mindestens 180.000 Nomaden und
Halbnomaden, deren Vertreter in dem Entscheidungsprozess nicht
berücksichtigt wurden, sollten gemäß diesem Plan
in Städten angesiedelt und weitere 470.000 in neuen
Dörfern zusammengefasst werden. In weiten Teilen der Inneren
Mongolei wurde es verboten, Viehherden grasen zu lassen.
Nomaden, die eine kleine Entschädigung erhalten wollten,
mussten sich verpflichten, vorerst nicht mehr auf ihr
traditionelles Land zurückzukehren. Nur in Einzelfällen
kann eine Rückkehr nach fünf Jahren gestattet werden.
Wer Widerstand oder Protest gegen die Sesshaftmachung
äußert, muss mit Haftstrafen rechnen. Öffentliche
Kritik an dem umstrittenen Projekt wird unterdrückt. So
wurden mehrfach Internetseiten mongolischer
Bürgerrechtsorganisationen geschlossen, die zu Protesten
gegen das Projekt aufriefen. Viele Umsiedler beklagen, dass sich
ihre Versorgung in den neuen Dörfern nicht verbessert hat.
Im Gegenteil, viele von ihnen sind durch die Vertreibung noch
weiter verarmt. Die von den Behörden versprochene bessere
Versorgung mit Krankenhäusern, Schulen und anderen sozialen
Einrichtungen ist oft nur Wunschtraum geblieben.
Das Umsiedlungsprogramm fördert die Assimilierung und Sinisierung der mongolischen Minderheit, die seit Jahrzehnten systematisch von den chinesischen Behörden betrieben wird. Mit dieser Zwangsesshaftmachung verlieren die Mongolen nicht nur ihre Landrechte, sondern noch viel mehr: Wie bei allen indigenen Völker ist ihre Kultur eng mit dem Land ihrer Ahnen verknüpft. Ein Verlust dieses Landes bedeutet für sie zum einen, dass sie ihre traditionelle Lebens- und Wirtschaftsweise aufgeben müssen. Zum anderen wird auch ihre Identität zerstört und ihre Jahrhunderte alte Kultur vernichtet.
Aus pogrom-bedrohte Völker 246 (1/2008)