Wolfgang Mayr
Bozen, 1.8.2006
Die
türkische Menschenrechtlerin Eren Keskin ist wegen
"Beleidigung der Armee" zu einer Geldstrafe von 3.700 Euro
verurteilt worden. Die Trägerin des Aachener Friedenspreises
2004 wurde für schuldig befunden, vor vier Jahren bei einer
Konferenz in Köln türkischen Soldaten sexuellen
Missbrauch an Frauen "unterstellt" zu haben. Diese
Äußerung ist laut Gericht eine Demütigung der
Streitkräfte. Keskin, Leiterin des Istanbuler Büros der
Menschenrechtsorganisation IHD, setzt sich besonders für die
Rechte der Kurden ein. Gegen sie laufen eine Reihe weiterer
Verfahren, unter anderem wegen der Unterstützung eines
Hungerstreiks linksgerichteter Gefangener.
Menschenrechtler werden in der Türkei immer wieder
strafrechtlich verfolgt. Das beklagt auch der Europäische
Menschenrechtgerichtshof. Kein Europaratsland ist im vergangenen
Jahr so häufig wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt
worden wie der NATO-Partner und EU-Anwärter Türkei. Die
meisten anhängigen Menschenrechtsbeschwerden betreffen mit
mehr als 10.000 Klagen das größte Europarats-Mitglied
Russland, gefolgt von der Türkei (9.600) und Rumänien
(6.700). Die Urteile gegen die Türkei betrafen unter anderem
ein unfaires Verfahren gegen den inhaftierten PKK-Vorsitzenden
Abdullah Öcalan, ferner das Folterverbot, das Recht auf
Leben und die Meinungsfreiheit. Die Türkei geht nicht nur
gegen PKK-Mitglieder militant vor. Betroffen von der
"Staatsgewalt" sind auch demokratische Politiker, kritisiert der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
So verstößt die Türkei mit der Verurteilung von
neun Kurden wegen der Veröffentlichung eines "Offenen
Briefes" an den Staatspräsidenten gegen das Recht auf
Meinungsfreiheit. Die Mitglieder der Kurdenpartei HADEP
kritisierten 1996 in einem "Offenen Brief für Frieden und
Freiheit" die Politik der Regierung gegenüber der kurdischen
Minderheit. Im September 1998 wurden die Autoren von einem
Staatssicherheitsgericht zu zwei Jahren Haft verurteilt. Mit dem
Hinweis auf eine "kurdische Nation innerhalb der Türkei"
hätten sie Propaganda betrieben und zu "rassistisch
motivierter Diskriminierung" aufgerufen, befand das Gericht. Der
Gerichtshof für Menschenrechte betonte hingegen, in dem
Offenen Brief sei weder zu Gewalt noch zu bewaffnetem Widerstand,
Aufruhr oder Hass aufgerufen worden.
Der Staat und seine "Sicherheitskräfte" helfen bei Bedarf
auch nach, die Stimmung in Kurdistan aufzuheizen. So geschehen in
der Stadt Semdinli. Polizeibeamte sollen in einem Buchladen eine
Bombe gezündet haben. Sie stehen vor Gericht. Das
Militär will einen Urteilsspruch verhindern. Die
Staatsanwälte stehen unter dem Druck der Militärs, die
Rechtmäßigkeit der Anklage wird in Zweifel gezogen.
Kein Wunder: Die Angeklagten sind Mitglieder der
Sicherheitskräfte, die mit einem Bombenanschlag versucht
haben sollen, neue Unruhen im Kurdengebiet zu provozieren.
Staatsanwalt Ferhat Sarikaya beschuldigte den designierten
Generalstabschef Yasar Büyükanit, von Aktivitäten
illegaler Gruppen innerhalb der Sicherheitskräfte zumindest
gewusst zu haben. Büyükanit kennt den Hauptangeklagten
aus einer gemeinsamen Dienstzeit im Kurdengebiet in den neunziger
Jahren und nannte den Agenten öffentlich einen "guten
Jungen". Die Militärs beschwerten sich bei der Regierung;
wenig später verlor Sarikaya seinen Job. Die Verteidigung
erklärte, nach Sarikayas Rausschmiss sei auch dessen
Anklageschrift hinfällig. Bei der Verlesung der
Anklageschrift wurden jene Passagen weggelassen, in denen es um
die dunkle Rolle von General Büyükanit ging. Demokraten
befürchten, dass es den Militärs gelingen wird, den
Prozess versanden zu lassen.
Die Frage ist deshalb mehr als berechtigt, ob das Wiederaufleben
der PKK politisch gewollt ist. Steckt hinter den
Bombenanschlägen in Istanbul tatsächlich die
Kurdengruppe "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK). Die
TAK-Terroristen sollen der westliche Arm der PKK sein, die in den
osttürkischen Bergen, in Kurdistan, wieder den Aufstand
wagt. PKK-Anhänger werden für Überfalle auf
Soldaten und Armeeposten verantwortlich gemacht. Kann das die
PKK?
Bei Anschlägen und gewalttätigen Demonstrationen in
Istanbul und im Kurdengebiet im Südosten sind in den
vergangenen Wochen 20 Menschen ums Leben gekommen; noch einmal so
viele Menschenleben kosteten die neu aufgeflammten; Kämpfe
zwischen der türkischen Armee und der PKK. Die Gründe
für die jüngste Eskalation der Gewalt liegen unter
anderem in der miserablen wirtschaftlichen Lage des
Kurdengebietes. Kein anderer Teil der Türkei ist so arm,
nirgendwo sonst ist die Arbeitslosigkeit so hoch, die
medizinische Versorgung so schlecht, die Hoffnungslosigkeit so
groß. Das ist der Nährboden für die PKK. Die
Rebellen verlangen von der türkischen Regierung, sie als
Verhandlungspartner zu akzeptieren und eine Generalamnestie
für alle 5.000 PKK-Kämpfer zu erlassen.
Nach der Zunahme von Anschlägen der verbotenen
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und gewalttätigen
Demonstrationen in Kurdengebieten hat die Regierung eine
Ausweitung des Anti-Terror-Gesetzes beschlossen. Der Entwurf
sieht Gefängnisstrafen für Eltern vor, die ihre Kinder
zur Teilnahme an Aktionen terroristischer Organisationen
anstiften. Die konservative Regierung nutzte die Unruhe in
Kurdistan, um mehr als eine Viertel Million Soldaten an die
irakische Grenze zu verlegen. Sie sollen der PKK den Rückzug
ins irakische Kurdistan abschneiden. Türkische Zeitungen
berichten, die Einheiten könnten sich bei der Verfolgung von
PKK-Trupps erstmals auf Daten von US-Spionageflugzeugen
stützen. Auch Syrien will sich an der Jagd auf die PKK im
Nordirak beteiligen. Das autonome Kurdistan im Irak, eine stabile
Friedenszone im Kriegsland und ein treuer Verbündeter der
USA, ist den regionalen Mächten unangenehm.
Offiziell geht es der Türkei und dem Iran nur um
Selbstschutz. Inoffiziell stört es die beiden Staaten, dass
der nordirakische Regionalpräsident Massud Barzani von der
Demokratischen Partei Kurdistans die nordirakische Ölstadt
Kirkuk der autonomen Region einverleiben will. Kirkuk war Teil
Kurdistans, wurde aber vom Baath-Regime "ethnisch
gesäubert". Die Ölvorräte von Kirkuk könnten
einen in der Zukunft möglichen - aber von der Türkei
unerwünschten -Kurdenstaat wirtschaftlich lebensfähig
machen. Die Iraner biedern sich mit ihren Militäraktionen
der Türkei an. Diese Geste ist für den Iran bedeutsam,
weil das Land wegen seines Atomprogramms gegen eine zunehmende
internationale Isolierung kämpft. Da ist jeder
Verbündete willkommen. Die Türkei scheint keine
Berührungsängste im Umgang mit Teheran zu haben.
Deshalb wundert es auch nicht, dass die türkische Regierung
im Nahost-Konflikt aus der Anti-Hamas-Front des Westens
ausgeschert ist und eine hochrangige Delegation der militanten
Palästinensergruppe in Ankara empfangen hatte. Der Iran
zählt zu den Hauptsponsoren der Hamas.
Anschlag auf Kurden
Türkische Soldaten verurteilt
Wegen ihrer Beteiligung an einem Bombenanschlag im
türkischen Kurdengebiet hat ein Gericht in der Stadt Van
zwei türkische Soldaten zu jeweils fast 40 Jahren
Gefängnis verurteilt. Ali Kaya und Ozcan Ildeniz wurde
vorgeworfen, sie hätten mit dem Attentat auf eine
Buchhandlung in der Stadt Semdinli nahe der Grenze zum Irak
Unruhen unter der kurdischen Bevölkerung schüren
wollen. Bei der Bombenexplosion in der Buchhandlung eines
ehemaligen Rebellen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) waren im
November ein Mensch getötet und sechs weitere verletzt
worden. Das Attentat löste in der Kurdenregion schwere
Unruhen aus.
Aus pogrom-bedrohte Völker 237 (3/2006).