Bozen, Göttingen, 3. Mai 2005
Das Öcalan-Urteil des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte in Straßburg muss nach Auffassung
der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) Anlass
dafür sein, schnell ein internationales Tribunal zur
Aufklärung von Kriegsverbrechen im türkisch-kurdischen
Bürgerkrieg 1985-1999 einzusetzen. "Jetzt sollten die
Umstände des gewaltsamen Todes der rund 40.000 Opfer dieses
Krieges schonungslos geklärt und die jeweiligen Täter
zur Verantwortung gezogen werden", sagte der Präsident der
GfbV International, Tilman Zülch am Freitag in
Göttingen. Inzwischen gebe es ausreichende Zeugenaussagen
von ehemaligen Angehörigen türkischer Spezialtruppen
über Planung und Ausführung von Kriegsverbrechen ihrer
Einheiten.
"Ein solches Tribunal ist schon deshalb von Nöten, weil bis
heute über 3.000 junge Kurdinnen und Kurden in dubiosen
Schnellverfahren zu langjährigen Haftstrafen verurteilt in
türkischen Gefängnissen sitzen", meinte Zülch. Ein
internationales Tribunal könnte wesentlich dazu beitragen,
endlich rechtsstaatliche Maßstäbe bei allen
türkischen Gerichten durchzusetzen. Zülch kritisierte
in diesem Zusammenhang auch die widersprüchliche und zum
Teil inhumane Politik deutscher Innenminister gegenüber
Kurden, die als Dissidenten von der totalitären PKK verfolgt
werden. Statt ihnen ausreichend Schutz vor PKK-Attentaten in
Deutschland zu gewähren, käme es immer wieder zur
Androhung der Auslieferung an die Türkei. Die GfbV hatte in
den vergangenen Jahren wiederholt Listen mit Namen von Kurden
veröffentlicht, die Opfer von Mordanschlägen der PKK
geworden sind, und sich gleichzeitig bei Gerichten und
Innenministerien gegen die Auslieferung von PKK-Dissidenten
eingesetzt. Seit 1997 hat es die GfbV immer ausdrücklich
befürwortet, diesen Kurden in Deutschland Schutz zu
gewähren. Obwohl die PKK in Deutschland offiziell verboten
ist, kann sie Bürger kurdischer Abstammung weiter unter
Druck setzen. Dabei scheut sie vor Gewalttaten nicht
zurück.
Selbst für Türkei-Experten ist die Beziehung zwischen
dem inhaftierten PKK-Führer Öcalan und dem
türkischen Militär undurchschaubar, sagte Zülch.
Einerseits vertritt Öcalan inzwischen Positionen der
kemalistischen Staatsideologie andererseits darf er periodisch
Befehle an seine stark zusammengeschmolzenen Einheiten
übermitteln und zum Kampf gegen dieselbe Armee aufrufen, die
den Zugang seiner Rechtsanwälten zu seiner
Gefängniszelle auf der Insel Imrali kontrolliert. Kritische
türkische Journalisten unterstellen dem Militär, es
wolle durch entstehende Kampfhandlungen die liberale islamische
Regierung unter Druck setzen.