Gerhard Baumgartner
Die europäischen Roma und Sinti werden auf acht Millionen
geschätzt. Sie sprechen verschiedene Sprachen, die zum Teil
beträchtlich voneinander abweichen. Obwohl all diese
Sprachen einen gemeinsamen indischen Ursprung haben - mit
unterschiedlich vielen Lehnwörtern aus dem Persischen,
Armenischen und Griechischen - haben sie im Laufe der
Jahrhunderte unterschiedliche grammatikalische und lexikalische
Systeme entwickelt. In Nord- und Westeuropa werden verschiedene
Sinti-Sprachen gesprochen, wogegen die Romani-Sprachen Zentral-
und Südeuropas sehr stark von den sie umgebenden Sprachen
wie Albanisch und Türkisch auf dem Balkan, sowie von
Rumänisch, Ungarisch und slawischen Sprachen beeinflusst
wurden. Diese Romani-Sprachen werden im Wesentlichen in zwei
Hauptgruppen unterteilt, die Vlax- und Non-Vlax Romani-Sprachen.
Vlax-Romani-Sprachen - wie sie u.a. von den Roma in Rumänien
und von vielen Lovara-, Gurbet- und Kalderasch-Gruppen in Ungarn,
der Slowakei, Serbien und Österreich gesprochen werden -
weisen einen starken Einfluss des Rumänischen auf,
wohingegen Non-Vlax-Romani Sprachen (Südpolen, Tschechien,
Teile der Slowakei und Ostkarpaten) oder die
Süd-Zentralen-Romani Sprachen (Ungarn, Slowakei, Slowenien
und Österreich) weisen keine Einflüsse des
Rumänischen auf, beinhalten aber viele ungarische und
slawische Lehnwörter. Einige Gruppen haben so genannte
Para-Romani-Sprachen entwickelt, die einen gewissen Grad an
Romani-Wörter beinhalten, die aber streng genommen keine
Romani-Sprachen sind. Dies trifft auf Sprachen zu, die von
einigen Gruppen in Spanien und Skandinavien gesprochen werden,
auf den von den Jenischen in Österreich, Süddeutschland
und der Schweiz gesprochenen Dialekt und besonders auf die "Cant"
oder "Gamon" genannte Sprache der britischen und irischen
Travellers.
Die Mehrheit der europäischen Sinti und Roma lebt im
östlichen Mittel- und Südosteuropa, Länder, die -
wie z.B. Ungarn, die Slowakei oder die Tschechische Republik - am
1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten oder die in
Beitrittsverhandlungen eingetreten sind. Offizielle
Volkszählungsangaben und Schätzungen von
Menschenrechtsorganisationen sowie von Vertretungsorganisationen
der Sinti und Roma weichen drastisch voneinander ab. Offizielle
Volkszählungsangaben beruhen zum Teil auf Sprachangaben,
aber nicht alle Angehörigen der Sinti- und Roma-Gruppen
sprechen auch heute noch die Sprache ihrer Minderheit.
Ausgelöst durch die traumatisierenden Erfahrungen des
Holocausts und aufgrund anhaltender Diskriminierung und
Verfolgung bevorzugen es viele Angehörige der Minderheit,
überhaupt nicht als solche registriert zu werden.
Der Großteil der acht Millionen Roma lebt in Mittel- und
Osteuropa sowie auf dem Balkan. Dort untersuchte im vergangenen
Jahr die Entwicklungs-Abteilung der UNO die Lage der
Angehörigen der Roma-Bevölkerungen. Die UNDP kommt zum
Schluss, dass ein beunruhigend hoher Anteil der Roma - in einigen
Fällen bis zu 70% - sein Einkommen aus staatlichen Mitteln
bezieht - Kindergeld, Arbeitslosenunterstützung und Renten.
Der Gesundheitszustand der Roma ist überdurchschnittlich
schlecht, das Bildungsniveau dürftig. All das erhöht
die Abhängigkeit vom Staat, die Lage wird dabei in keinster
Weise verbessert, im Gegenteil: Die Kluft zwischen
Angehörigen der Roma und der Mehrheitsbevölkerung wird
ständig größer, mit verheerenden sozialen und
politischen Konsequenzen.
Auch die demographische Struktur der Roma in den mittel- und
osteuropäischen Ländern weicht von jener der
Mehrheitsbevölkerung ab. In allen Ländern mit Ausnahme
Bulgariens haben Romahaushalte durchschnittlich drei bis vier
Kinder. In einigen Romasiedlungen der Slowakei liegt der
Durchschnitt sogar bei fast acht Kindern pro Familie. Zur
großen Kinderzahl tragen vor allem das frühe
Heiratsalter und das Fehlen von Verhütungspraktiken bei.
Angehörige der Roma sind im Durchschnitt sehr jung.
Die UNDP-Studie bestätigt, dass das Bildungsniveau der Roma
erschreckend niedrig ist. Romakinder brechen allzuhäufig die
Grundschule ab. Armut, fehlende Sprachkenntnisse, die Mitarbeit
der Kinder beim Broterwerb der Erwachsenen führen zum
Schulabbruch. Bereits die vorschulische Bildung ist für
Roma-Kinder begrenzt; 1998 genossen nur 17% der Romakinder
vorschulischen Unterricht - verglichen mit 60% der
Gesamtbevölkerung. Wenn Kinder in diesem Alter keine
Sprachfähigkeiten in der Sprache der
Mehrheitsbevölkerung erwerben, bleiben sie in der
Grundschule zurück und enden in segregierten "Romaschulen"
oder "Romaklassen". Die ethnische Segregation von Romakindern ist
in der gesamten Region weit verbreitet. Der Prozentsatz von
ethnisch segregierten Klassen ereicht in Bulgarien 49 %, in der
Tschechischen Republik 28 %, in Rumänien 32 %, in der
Slowakei 40 % und in Ungarn 28%.
Seit Jahrzehnten werden Romakinder ungeprüft in Schulen
für geistig behinderte Kinder abgeschoben - eine Praxis, die
in Mittel- und Osteuropa ebenso verbreitet ist wie in vielen
westeuropäischen Ländern. Das Ausmaß dieses
Phänomens variiert von Land zu Land, doch in allen
Ländern sind Romakinder in solchen Spezialschulen über-
und in Normalschulen unterrepräsentiert. Dauert diese
wirtschaftliche und schulische Ausgrenzung weiter an,
könnten in zehn bis 15 Jahren die meisten arbeitssuchenden
Roma nicht mehr vermittelt werden. Heute ist fast die Hälfte
der Roma arbeitslos, viele bereits seit Jahren und haben deshalb
den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung verloren und
erhalten nur mehr die geringe Sozialhilfe.
Die Armut unter den Roma ist in allen fünf Ländern
vergleichbar. Selbst in den reichsten dieser Länder leidet
eine große Zahl von Romakindern häufig an Hunger, mit
negativen Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihre
Bildungschancen. Der Gesundheitszustand der Roma ist wesentlich
schlechter als jener der Mehrheitsbevölkerung. Die
Hauptursachen dafür sind Armut, schlechte sanitäre
Einrichtungen in den Romasiedlungen. Romakinder leiden unter
infektiösen und parasitären Krankheiten, die in der
Mehrheitsbevölkerung nur selten auftreten. Unter der
Roma-Bevölkerung grassieren die virale Meningitis, Hepatitis
B und C, sexuell übertragbare Krankheiten und AIDS. Armut
und Diskriminierung treiben Roma in die Kriminalität,
Drogenhandel und Prostitution. Die Kindersterblichkeit ist
drastisch hoch. In einigen Ländern werden Roma medizinisch
nicht versorgt, weil ihnen die notwendigen Personaldokumente und
Geburtsurkunden für die Anmeldung zur
Gesundheitsversicherung fehlen. Die UNO forderte rasche
Maßnahmen - Schulen für die Roma-Kinder, Jobs für
Erwachsene, eine garantierte medizinische Versorgung und
politische Mitbestimmung.
Gerhard Baumgartner & Florian Freund: "Roma-Politik in Österreich, in der EU und im übrigen Europa", Kulturverein Österreichischer Roma & Fraktion der Sozialdemokratischen Partei im Europäischen Parlament.
Aus pogrom-bedrohte Völker 225 (3/2004)