Von Wolfgang Mayr
Bozen, Januar 2007
Inhalt
Bosnien: Das Schweigen der Linksradikalen | Tschetschenien - verweigerte Solidarität | Blinde Linke! | Für die
UN-Genozid-Konvention | Der Massenmord an den
Hereros - Deutschlands erster Völkermord | Sinti und Roma - in Auschwitz vergast, dann
vergessen | Anti-Fa - Auch sie sind
Verharmloser | Biafra - Schon damals schwieg
die Linke | Im Stich gelassen
Lange hat es gedauert, bis deutsche Linksradikale den
Genozid - das Verbrechen des Völkermordes - entdeckten.
Beschämend lange. Das neue Bewusstsein bleibt aber
folgenlos.
Die "anti-imperialistische" Linke sieht die USA und Israel als
"Völkermörder", sammelt Spenden für den
sogenannten irakischen Widerstand, unterstellt Israel in den
Palästinensergebieten eine naziähnliche
Vernichtungspolitik. Diese Linke steht in der Tradition jener,
die in den 70er Jahren recht ungeniert Diktatoren wie Saddam
Hussein im Irak, den Putschisten Menghistu in Äthiopien oder
die Roten Khmer in Kambodscha "solidarisch" unterstützten
und zujubelten. Die "Antiimperialisten", Leugner von
Menschenrechtsverletzungen, von Völkermord-Praktiken. Ein
Kriegsverbrecher wie Milosevic war für die
"anti-imperialistische" Linke ein "heldenhafter Verteidiger des
Völkerrechts". Trotz seiner "ethnischen Säuberungen" in
Kroatien, Bosnien und im Kossovo - oder vielleicht gerade
deshalb. Milosevic verbindet diese Szene mit den anderen
Linksradikalen, den "Anti-Faschisten" und den "Antideutschen",
die sich von den "Antiimperialisten" ansonsten strikt
abgrenzen.
In seinem "Testament" an die "Serben" warf Milosevic dem Westen
die "Entnationalisierung" Serbiens vor, "das Aufdrängen
fremder Sprachen" und die "Zerstörung der Charaktere der
Völker". Aussagen, die bei den Linksradikalen
überraschenderweise auf Zustimmung stoßen, Aussagen,
die diese Szene zurecht als völkischen Wahn kritisiert. Den
ehemaligen Bündnispartner von Milosevic, Vojislav Seselji,
beschreibt Heribert Schiedel im Buch "Irak - Von der Republik der
Angst zur bürgerlichen Demokratie?" von Mary Kreutzer und
Thomas Schmidinger (caira-Verlag) als einen serbischen
Faschisten, der sich mit seinen Gesinnungsgenossen in Bagdad mit
Saddam Hussein solidarisierte. Seselji und seine Serbische
Radikale Partei vereinbarten einst mit der irakischen
Ba'ath-Partei ein weitreichende Zusammenarbeit, eine Kooperation
der "patriotischen Kräfte, die die amerikanische Hegemonie
ablehnen".
Seselji-Partner Milosevic hielten "Anti-Fa" und "Anti-Deutsche"
aber außen vor. Die Verbrechen von Milosevic, eindrucksvoll
dokumentiert vom us-amerikanischen Journalisten Roy Gutman
"Augezeuge des Völkermordes", werden von den Linksradikalen
kleingeredet, verharmlost, die Opfer lächerlich gemacht. Die
"ethnischen Säuberungen" in Kroatien, in Bosnien, im Kossovo
waren für die Linksradikalen - Antiimperialisten, Anti-Fa
und Anti-Deutsche - kein Thema.
Warum auch? Milosevic, seine Volksbefreiungsarmee und die
vielen paramilitärischen Verbände schrieben diese
Linksradikalen als antinazistische Widerstandskämpfer hoch.
Es kümmerte sie wenig, dass der ehemalige Kommandant des
jüdischen Ghetto-Aufstandes von Warschau, Marek Edelmann,
solidarisch mit den Bosniern war, wie unzählige
jüdische Organisationen in den USA auch. Marek Edelmann
protestierte gemeinsam mit der GfbV im KZ Buchenwald gegen den
Krieg in Bosnien. "Ohne Umschweife gesagt: Was sich im ehemaligen
Jugoslawien abspielt, ist mit den Ereignissen im Warschauer
Ghetto vergleichbar", kritisierte Edelmann auf der Konferenz
"1000 Tage Belagerung Sarajewos" im Europaparlament die Haltung
des Westens.
Die radikale Linke schwieg, schlimmer noch, sie verbündete
sich mit den Tätern, mit den Architekten der "ethnischen
Säuberungen", der Massenvergewaltigungen. "Nie wieder
Faschismus"? Die radikale Linke schlug sich auf die Seite des
Milosevic-Faschismus, nicht auf jene der Opfer des
Eroberungskrieges, nicht auf die Seite der serbischen
Milosevic-Kritiker wie Sonja Biserko vom Belgrader
Helsinki-Komitee. Die radikale Linke und mit ihr die radikale
Rechte wurden zu Bündnispartnern für das
Milosevic-Regime. Was soll das für eine
Vergangenheitsbewältigung sein, wenn man Opfern einer
menschenverachtenden Politik heute Hilfe und Solidarität
verweigert? In Bosnien fielen dem völkischen Wahn der
serbischen Nationalisten 200.000 Menschen zum Opfer. Tausende
Frauen wurden vergewaltigt, 2,5 Millionen vertrieben.
Einzelschicksale, die die radikale Linke kalt ließen, weil
die Opfer der "falschen Nationalität" angehörten?
Deutsche Linksradikale haben mit Menschenrechten wenig im
Sinn.
Verfolgungsschicksale von Völkern, ethnischen Gruppen und
Minderheiten trifft Millionen von einzelnen Menschen. Auch
deshalb appellierte die GfbV gemeinsam mit dem American Jewish
Congress 1993 mit ganzseitigen Zeitungsanzeigen an den damaligen
US-Präsidenten Bill Clinton, mit Waffengewalt den Genozid in
Bosnien zu stoppen.
Für Opfer von Vertreibungen und Völkermord ging kein
Pazifist, kein Linksradikaler auf die Straße.
Tschetschenien ist ein weiteres Beispiel dafür. Der
ehemalige deutsche Bundeskanzler, Gerhard Schröder,
versuchte sich als Friedenspolitiker, grenzte sich von der
Bush-USA und dem Krieg im Irak ab, pflegte aber eine enge
Männerfreundschaft mit dem russischen Präsidenten
Putin, verantwortlich für 80.000 ermordete tschetschenische
Bürger. Während im Frühjahr 2002 die
Friedensbewegung den Irak-Krieg verhindern wollte, lässt sie
den anderen, den tschetschenischen Krieg geschehen, nimmt sie
Zusammenarbeit der Armeen und Geheimdienste Deutschlands und
Russlands auf dem Rücken der Tschetschenen hin.
Französische Intellektuelle wie Alain Finkielkraut, Andre'
Glucksmann oder Bernard-Henri Levy hielten sich mit Kritik am
Tschetschenienkrieg nicht vornehm zurück. Im Gegenteil,
diese jüdischen Persönlichkeiten sprachen offen von
einer Genozid-Politik der russischen Staatsführung und ihres
Militärapparates. Was macht die radikale deutsche Linke?
Nichts. Für sie fand der Krieg in Tschetschenien nicht
statt. Verdrängen, verschweigen, die Linke steht in der
"deutschen Tradition" des Leugnens, des Verharmlosens. Das gilt
für die "antiimperialistische" Linke genauso wie für
die "antideutschen" Linksradikalen, deren "symbolischer
Widerstand gegen Hitler und die Nazis von Tag zu Tag stärker
wird" (aus: "Volk und Wahn", von Henryk Broder).
"Spiegel"-Autor Broder kritisiert die deutsche
"Vergangenheitsbewältigung" als eine "Germanisierung des
Holocaust": "Natürlich sagt kein vernünftiger
Deutscher: Der Holocaust war eine tolle Sache, ich bin stolz,
dass er auf unser nationales Konto geht! Aber er sagt: Kein Volk
hat eine so schreckliche Geschichte wie wir, und kein Volk hat
aus seiner Geschichte so viel gelernt, so klare Schlüsse
gezogen wie wir. So kommt es, dass deutsche Pazifisten unter
Berufung auf die deutsche Geschichte jedem Völkermord in der
Welt lieber zuschauen, als dass sie sich damit einverstanden
erklären, dass ein paar deutsche Sanitäter den Opfern
helfen".
Broder wirft deshalb der deutschen Linken und den deutschen
Pazifisten vor, sie seien "durch die vage Aussicht auf ein Ende
des Massenmordens (Bosnien) mehr aufgeschreckt worden als durch
die Metzeleien". Die Linke verbat sich im Falle Bosnien, das gilt
aber auch für Ruanda oder Tschetschenien, von
Völkermord zu sprechen. Die Frage von Broder an die Szene:
"Müssen wieder lange Güterzüge rollen, Gaskammern
dampfen und Verbrennungsöfen qualmen, bis für einen
deutschen Berufspazifisten der Tatbestand des Völkermordes
erfüllt ist? Auschwitz - ein Glücksfall der deutschen
Geschichte, das Nonplusultra auf der nach oben offenen Skala der
angewandten Barbarei?"
Eine berechtigte Provokation. Deutsche Linke und Pazifisten
schauen gerne weg, wenn Menschen vertrieben oder massakriert
werden. Von nicht akzeptablen Krieg wird dann gesprochen, wenn
Nato-Staaten oder die USA eingreifen, um Gewalt zu stoppen. Nach
Berechnungen des us-amerikanischen Friedensforschers Kende vom
Brooking-lnstitut in Washington wurden zwischen 1945 und 1980 in
127 Kriegen und Konflikten mindestens 32 Millionen Menschen
getötet. Die Zahl der Getöteten, überwiegend
Zivilisten Opfer von Völkermord, Massenmord und
Kriegsverbrechen, scheint eher auf zurückhaltenden
vorsichtigen Schätzungen zu beruhen.
In der ersten Hälfte der achtziger Jahre hat sich die Reihe
der Kriege, Bürgerkriege und Völkermorde fortgesetzt.
In Afghanistan erreichte die Zahl der Opfer der sowjetischen
Okkupation mehrere Hunderttausend - meist Zivilisten - , in
Osttimor wurde seit 1975 etwa ein Drittel der 750.000 Einwohner
von der indonesischen Armee mit Förderung und Duldung der
Staaten des Westens - unter ihnen die Bundesrepublik -
vernichtet. Der irakisch-iranische Konflikt hat sich über
die Jahre hinweg zu einem grauenhaften Stellungskrieg
entwickelt.
Unter dem Eindruck des größten systematischen
Völkermordes des 20. Jahrhunderts, der Ausrottung der
europäischen Juden durch das nationalsozialistische
"Groß-Deutschland", wurde 1948 die Konvention der Vereinten
Nationen gegen Völkermord verabschiedet. Die UNO honorierte
damit auch den beispielhaften "Ein-Mann-Kreuzzug" des
amerikanischen Journalisten Richard Lemkin, der sich bereits 1933
für eine derartige internationale Konvention gegen
Massenmord eingesetzt hatte. Den Begriff Genozid
(Völkermord) schuf er jedoch erst 1944 unter dem Eindruck
der nationalsozialistischen Verbrechen (nach dem altgriechischen
Wort Genos = Geschlecht, Stamm und dem lateinischen caedere =
töten).
Vierzig Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft müssen wir
heute feststellen, dass die Absicht mindestens eines Teiles der
internationalen Staatengemeinschaft, mit der UN-Konvention gegen
Völkermord von 1948 für die Zukunft Konsequenzen aus
den Massenmorden des Dritten Reiches zu ziehen, gescheitert ist.
Man hat weder Völker- und Massenmorde verhindern können
oder wollen. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, die
weltweit nicht nur als Rechtsprechung der Siegermächte
über ein extrem verbrecherisches System verstanden, sondern
zunächst auch als Wegweiser betrachtet wurden, in der
Zukunft Angriffskriege, Völkermord, Sklavenarbeit und
Massendeportationen als Verbrechen zu verurteilen und zu
bekämpfen, diente dem Internationalen Strafgerichtshof als
Modell der Bestrafung zukünftiger Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, auch wenn in Nürnberg nach Gesetzen
geurteilt wurde, die zum Teil erst nachträglich und zu
diesem Zweck geschaffen worden waren (Verurteilung des
Angriffskrieges) und die Urteile von Militärtribunalen
gefällt wurden.
Die ersten Verhandlungen über die Einrichtung eines
Kriegsverbrechertribunals wurden von den vier Siegermächten
bei der Konferenz von San Francisco geführt, auf deren
Schlusssitzung 50 Staaten die Verfassungsurkunde der Vereinten
Nationen unterzeichneten. Die Gründung der UNO und die
Bildung des Nürnberger Militärgerichtshofes sollten
zwei gleichgerichteten Zielen dienen: der Erreichung einer
zukünftig friedlichen Lösung internationaler
Streitfragen und der Förderung humanitärer
Staatspolitik. Leider hatten die Nürnberger Prozesse
genausowenig Konsequenzen wie die UN-Genozid-Konvention.
"Irgendwie haben wir es versäumt, die Lektionen, die wir in
Nürnberg gelehrt haben, selber zu lernen. Das ist heute
Amerikas Tragödie", schrieb der ehemalige Chefankläger
der Vereinigten Staaten bei den Nürnberger Prozessen,
Telford Taylor, 1970 in seinem Buch "Nürnberg und Vietnam"
entsetzt über die Kriegsverbrechen der amerikanischen
Armee.
Taylors Feststellung kann ohne weiteres für alle jene
Regierungen verallgemeinert werden, die seither an
Kriegsverbrechen und Massenmorden beteiligt waren oder noch
beteiligt sind, und sie müsste auch für Regierungen
gelten, die verbrecherischen Regimes in der Dritten Welt mit
Waffenlieferungen, Wirtschaftshilfe oder politischer
Unterstützung den Rücken freihalten.
Für die GfbV ist das das Thema, das Anliegen für das
Engagement, und das seit 1968. Anfang der siebziger Jahre
thematisierte die GfbV bereits den Völkermord des deutschen
Kaiserreichs in der Kolonie "Deutsch-Südwestafrika", ein
Verbrechen, das die Linksradikalen erst jetzt entdeckten und
akademisch zerreden. Der Massenmord der kaiserlichen Truppen
dient ideologischen Elfenbeinturm-Disputen. In der
"pogrom"-Ausgabe 16 von 1972 analysierte der britische
Süd-Afrika-Experte Basil Davidson die kaiserliche
"Südwest"-Afrikapolitik als einen "Völkermord in der
Wüste".
Im Editorial heißt es, dass es der GfbV darum ging, den
"Mythos des besonders humanen deutschen Kolonialismus zu
zerstören, andererseits soll auch die historische
Fragwürdigkeit des Herrschaftsanspruchs der nach wie vor
durch forcierte Einwanderung verstärkten weißen
Minorität hervorgehoben werden". Die Verbrecher des
deutschen Kolonialismus, von der GfbV schon 1972 problematisiert.
Die Linksradikalen brauchten weitere 30 Jahre, um diesen
deutschen Völkermord an den Hereros aufzuarbeiten.
Linke erschöpfen sich nun im akademischen Zerreden, ob der
kaiserliche Völkermord ein Vorläufer des NS-Genozids an
den europäischen Juden oder des NS-Vernichtungskrieges in
Ost-Europa war. Der Wiener Autor Gerhard Scheit wirft in den
blättern des iz3w Genozid-Forschern vor, den Holocaust
relativieren zu wollen. In seinem Visier Jürgen Zimmer, der
strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Genozid an den
Herero und den Nama und dem Holocaust entdeckt hatte. Die Opfer
interessieren Scheit nicht, noch viel weniger jene Opfer, die im
Gulag-System umkamen.
Totalitarismustheoretische Analysen sind für Scheit die
Gleichsetzung von Shoah und Gulag. Scheit kennt offensichtlich
nicht die Arbeiten von Gustav Herling (Welt ohne Erbarmen)
über die Opfer der Mythen von "Klasse" und "Rasse", von
Wassilij Grosmann (z.B. Leben und Schicksal), der von einem
heimlichen Einverständnis zwischen Nazismus und Kommunismus
schrieb, von Arno Lustiger (Rotbuch: Stalin und die Juden), der
zwar vor einer Gleichsetzung von Nationalsozialismus und
Stalinismus warnte, aber Stalin vorwarf, gegen die russischen
Juden ein "Kulturozid" mit mörderischen Mitteln betrieben zu
haben. Die stärkste Gleichsetzung betrieb Hannah Arendt in
"Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft - Antisemitismus,
Imperalismus, totale Herrschaft".
Es war auch die GfbV, die gemeinsam mit
Genozid-Überlebenden den zweiten Völkermord
Nazi-Deutschlands in die Öffentlichkeit brachte: Den
Massenmord an Sinti und Roma. Um an dieser Stelle das absolut
unbegreiflichste Ausbleiben von "Vergangenheitsbewältigung"
deutlich zu machen, sei eine Begebenheit aus dem Beginn unserer
Bürgerrechtsarbeit vom Deutschen Evangelischen Kirchentag
1979 in Nürnberg erwähnt. Auf dem Kirchentag ist es
seit Jahrzehnten gute Tradition, mit Podiumsdiskussionen (auf
Großveranstaltungen mit jeweils Tausenden von
Zuhörern) Themen der nationalsozialistischen Herrschaft und
der Judenverfolgungen im Rahmen der christlich-jüdischen
Verständigung zu behandeln. Mitwirkende dieser
Veranstaltungen sind Persönlichkeiten, die sich in der
Aufarbeitung des Nationalsozialismus ausgezeichnet haben.
Begleitet von Romani Rose, damals in der Bundesrepublik noch
unbekannter Vorsitzender des bis 1979 ebenso unbeachtet
gebliebenen Verbandes Deutscher Sinti, und zwei älteren
Sinti, Überlebenden der NS-Konzentrationslager, bat
GfbV-Gründer Tilman Zülch vor ihrem Beginn die Sprecher
der Veranstaltungen ("Christsein nach Auschwitz" und
"Arierparagraph") um einige Minuten Gehör für
Angehörige einer Volksgruppe, "die als zweite Minderheit
neben dem jüdischen Volk Opfer des Holocaust geworden war,
was selbst bei Kirchentagen tabuisiert würde oder
völlig unbekannt sei."
Nur um den Preis eines erbittert geführten Streits gelang es
schließlich, bei einer der Veranstaltungen einige Minuten
Redezeit für Romani Rose buchstäblich zu erzwingen. Das
Beispiel dieser überwiegend besonders kritischen
Persönlichkeiten, deren menschliche und politische
Integrität nicht in Frage steht, macht deutlich, dass
selbstverständlich erscheinende Konsequenzen aus der
Vergangenheit selbst dann ausbleiben können, wenn, wie in
diesem Falle, die in Auschwitz gequälten, überlebenden
Opfer eines Volkes, das nicht nur den Holocaust erleben musste,
sondern nach 1945 zum Teil von derselben Verwaltung und Polizei
erwiesenermaßen weiterverfolgt wurde - auch im
Frühjahr 1979 - eine der wichtigsten Bühnen des Landes
betreten, wo die Schrecken des Dritten Reiches alle zwei Jahre
verhandelt werden, und wo von diesen Verbrechen gegen Sinti und
Roma bis dahin noch nie die Rede war.
Der Kirchentag hat seither jeweils eine Großveranstaltung
über das Schicksal der Sinti und Roma in sein Programm
aufgenommen, und gerade einige der Redner der genannten
Diskussionsforen sind inzwischen zu Fürsprechern der Sinti
geworden. Sinti-Vergangenheitsbewältigung Teil zwei!
Jahreskongress der "Deutschen Gesellschaft für Anthropologie
und Human-Genetik". Auf diesem Kongress (1981) hatte sich neben
etwa 100 ausländischen Gästen auch Prof. Sophie
Erhardt, angesagt, frühere Mitarbeiterin der Berliner
Zigeunerzentrale des Dritten Reiches, welche die der Vernichtung
vorausgehende Totalerfassung aller Sinti und Roma
"Großdeutschlands" betrieben hatte.
Feierliche Eröffnung des Kongresses in der
Universitätsaula der Universität in Göttingen: Als
Redner sind vorgesehen der Vorsitzende der
Anthropologie-Gesellschaft, der jüdische
Oberbürgermeister Göttingens, der Rektor der
Universität. Zwar nicht vorgesehen, jedoch ungehindert,
haltet Zülch zwischen zweien der drei eingeplanten Redner
ein zehnminütiges Referat über die Rolle der
rassenbiologisch orientierten Anthropologie im Dritten Reich.
Damals daran beteiligte Wissenschaftler sollten zumindest heute
nicht mehr reden dürfen. Zülch und sein Schlusssatz
fallen aus dem Rahmen des ansonsten wissenschaftlich gehaltenen
Referats: "Es ist an der Zeit, den Stall der deutschen
Anthropologie endlich einmal auszumisten!"
Betretenes Schweigen des kleineren, Applaus des
größten Teils der Anwesenden. Das Referat der
belasteten Professorin fiel aus, verschiedene der anwesenden
Professoren haben seitdem wegweisende Seminare zur
NS-Zigeunerpolitik abgehalten. Aber es hat 36 Jahre gebraucht.
Erst die GfbV hat, in enger Zusammenarbeit mit den Verbänden
der Sinti und Roma, den Tatbestand des Völkermords in der
deutschen und zum Teil in der internationalen Öffentlichkeit
bekannt gemacht. Die Vorherrschaft der bis 1979 dominierenden,
rassenbiologisch orientierten "Tziganologie" (Wissenschaft von
den Zigeunern), deren Hauptrepräsentant Hermann Arnold
offizieller Berater des Bundes-Familienministeriums (zu CDU- wie
SPD-Zeiten) und der Katholischen Kirche (90% der Sinti sind
katholisch) war, konnte gebrochen werden.
Diese Kampagne für Sinti und Roma setzte die
öffentliche Finanzierung von bisher sechs selbstverwalteten
sozialen Beratungszentren der Volksgruppe durch. In verschiedenen
Städten wurden seither Siedlungen für Sinti gebaut. Die
Übernahme der nationalsozialistischen, seit Jahrzehnten von
Polizei, Behörden und Wissenschaftlern missbrauchten
"Zigeunerakten" durch das Koblenzer Bundesarchiv konnte durch
verschiedene Aktionen endlich durchgesetzt werden. Innerhalb von
fünf Jahren wurde somit nachgeholt, was in Deutschland 35
Jahre lang versäumt worden war, der zweiten, von den Nazis
zur Ausrottung bestimmten Volksgruppe wenigstens ein wenig Recht
zu verschaffen.
Unverständlich bleibt das jahrelange Desinteresse der
Progressiven im Lande am Schicksal der Sinti und Roma im Dritten
Reich. Unter den Tausenden deutschsprachigen Publikationen
über den Nationalsozialismus gab es neben mehreren
apologetischen rassebiologisch orientierten "Werken" nur ein
einziges Büchlein einer Wiener Autorin über diesen
Genozid. In den fünfziger und sechziger Jahren fand das
Schicksal einer "zwar nicht offen als Untermenschen bezeichneten,
aber so empfundenen und behandelten" Volksgruppe (Ernst
Tugendhat), die in ihrer großen Mehrheit an den Rand der
Gesellschaft gedrängt worden war, nachdem ihre
überlebenden Angehörigen nach der Rückkehr aus den
KZ's sofort Objekte neuer Repressionen geworden waren, auch kein
Interesse bei der linken "Vergangenheitsbewältigung".
Die vielen Anti-Faschismus-Gruppen brachten ebenfalls kaum
Interesse für eine vermeintlich soziale Randgruppe auf. Zur
Instrumentalisierung für eine antifaschistische Ideologie
ließen sich Sinti und Roma nicht gut benutzen. Für den
anti-imperialistischen Kampf der K-Gruppen war eine derart
winzige ethnische Minderheit uninteressant. Nicht nur das
Beispiel der Sinti und Roma lässt einiges an 'linker'
Vergangenheitsbewältigung der letzten Jahre und Jahrzehnte
fragwürdig erscheinen.
Die Anti-Fa-Gruppen beschäftigen sich erst jetzt mit dem
Sinti- und Roma-Genozid, werfen der GfbV aber gleichzeitig vor,
sich aus "nicht-emanzipatorischen" Gründen dafür
engagiert zu haben. Anti-Fa nahe Autoren unterschlagen die
GfbV-Initiativen zur Anerkennung des Völkermordes an Sinti
und Roma. Stellvertretend dafür genannt Ännecke
Winckel, die in ihrem Buch (Unrast-Verlag) "Antiziganismus" die
GfbV in einer Fußnote anführt. "In Auschwitz vergast
bis heute verfolgt", ein Rowohlt-Band von Tilman Zülch
(bereits 1979 erschienen), wird in der angeführten
Literatur-Liste versteckt zitiert. Die Berichterstattung
über die von ihrem Roma-Lebensgefährten ermordete
GfbV-Mitarbeiterin Katrin Reetsma wird als rassistisch entlarvt.
Winckel verliert aber kein Wort über die
Menschenrechtsarbeit von Katrin Reetsma für Sinti und Roma.
Es passt wohl nicht ins Scheuklappen beschränkte
Anti-Fa-Bild, dass die GfbV schon vor drei Jahrzehnten mit
NS-Opfern gemeinsam Wiedergutmachung und Anerkennung
forderte.
Die politischen Vorfahren der heutigen Linksradikalen der
"antiimperialistischen" und der "antideutschen Anti-Fa"-Szene,
die Neue Linke der sechziger Jahre, machte es vor. Die damals
"Neue Linke" entdeckte in der BRD die "Wiederauferstehung" des
Faschismus, verharmloste damit den Nationalsozialismus als
Faschismus. Antifaschistische Traditionen wurden nicht nur in den
Staaten des realen Sozialismus, sondern auch von Teilen der
westlichen Linken immer wieder missbraucht - das haben auch
manche der Feiern zum 8. Mai gezeigt - um andere Verbrechen, vor
allem des Stalinismus, zu tabuisieren.
Dazu gehört auch, dass man den Nationalsozialismus mit
anderen reaktionären und Militärregimes unter dem
Begriff Faschismus subsummierte und somit zu einem allgemeinen
Phänomen erklärt. Hermann Langbein, langjähriger
Vorsitzender des internationalen Auschwitzkomitees, wehrt sich
gegen den Ausdruck "antifaschistisch": "Der Nationalsozialismus",
so Langbein, "unterscheidet sich wesentlich von allen anderen
faschistischen Systemen, und das ist für uns in Deutschland
und Österreich interessant: Kein anderes faschistisches
System hat aus rassischen Gründen nicht nur seine Feinde,
sondern Millionen Menschen nur deswegen in wahren Todesfabriken
ermordet, weil sie als Juden oder als Zigeuner auf die Welt
gekommen waren."
Die sowjetische Armee hat gemeinsam mit den Armeen des Westens
das nationalsozialistische Regime beseitigt, nicht dank Stalin
und seines verbrecherischen Regimes, sondern trotz des Diktators,
der vor Kriegsausbruch den begabten Oberkommandierenden seiner
Armee Tschutschatschewski, zusammen mit der Mehrheit der
sowjetischen Generalität, liquidieren ließ, und dann,
ein Jahr vor Kriegsbeginn, sich mit dem Hitler-Stalin-Pakt an der
Aufteilung der osteuropäischen Staaten beteiligte, Finnland
mit einem Krieg überzog und Hunderttausende Balten, Bewohner
Ostpolens und der Moldau deportieren und liquidieren ließ.
Die Ausführung des Hitlerschen Vernichtungswerks wäre
früher gestoppt worden und Hunderttausende sowjetische
Soldaten wären zu Kriegsbeginn nicht desertiert, hätte
es den stalinistischen Terror und den Gulag nicht gegeben.
Die politischen Vorfahren der heutigen antiimperialistischen
und antideutschen Linken war - wie die Erben heute - auf einem
Auge blind. Stichwort Biafra. Die Linke verschloss damals, 1968,
die Augen vor diesem Völkermord , wie übrigens auch vor
vielen Stammes- und Gruppenmorden auf ethnischer Grundlage, die
sich in Afrika und Südamerika ereignen und ereigneten. "Der
Kampf Biafras ist heute der Kampf der Linken in der ganzen Welt.
Wenn die Linke so tut, als gehe sie daran vorbei und wenn sie die
Augen vor diesem Völkermord verschließt wie
übrigens vor vielen Stammes- und Gruppenmorden auf
ethnischer Grundlage, die sich heute in Afrika und
Südamerika ereignen, wird sie ihre anderen Aktionen in
unheilvoller Weise pervertieren, d.h sie wird als Linke gar nicht
mehr existieren".
Diese Erklärung von 22 französischen
Linksintellektuellen (November 1968) veröffentlicht in "Le
Monde" weist auf eine wunde Stelle der europäischen Linken.
Wo sich an Völkern der Dritten Welt begangene
Kriegsverbrechen, wo sich der Befreiungskampf nationaler
Widerstandsbewegungen nahtlos in den antiimperialistischen Kampf
fügen ließ - in Algerien, Vietnam, Kambodschda oder
Mocambique - , veranstaltete die Linke gewaltige
Solidaritätsaktionen: Informationskampagnen,
Demonstrationen, materielle Hilfe. Wo hingegen ethnische Gruppen
sich gegen Unterdrückung erhoben, wo sie
völkermordartigen Verbrechen ausgesetzt waren, wo sich
Befreiungsbewegungen nationaler Minderheiten gegen Regimes der
Dritten Welt und - häufig gegen deren Alliierte in West oder
Ost zur Wehr setzen, versagte die orthodoxe Linke im großen
und ihre Solidarität. Die Probleme der Biafraner, Kurden,
Südsudanesen, Eritreer, der Nagas wurden kaum beachtet,
häufig genug wurde ihre Unterdrückung oder Verfolgung
zudem zynisch legitimiert, wurde die denunzierende Propaganda der
Verfolger kritiklos übernommen.
Die Standpunkte der orthodoxen Linken Moskauer oder Pekinger
Richtung, etwa die hasserfüllte Kampagne der DKP-treuen
Organisationen und Blätter der BRD gegen die kurdische
Befreiungsbewegung 1974/75, die die an den Kurden begangenen
zahlreichen Kriegsverbrechen bewusst unterschlug, als auch die
Solidarität "maoistischer" Gruppierungen mit den
chinesischen Waffenlieferungen an die pakistanischen Generale
während des Überfalls auf Ostbengalen (1971),
orientierten sich konsequenterweise an den strategischen
Interesse der jeweiligen sozialistischen Metropole. Wie ist die
Zurückhaltung der organisierten orthodoxen Linken
erklärbar? Warum wird dem Wiederstand vieler ethnischer
Minoritäten die Solidarität versagt, derer sie
häufig um des bloßen physischen Überlebens
willens so dringend bedürfen, warum wird die objektivierbare
nationale ökonomische und politische Unterdrückung
nationaler Minoritäten so selten untersucht, warum werden
Halbwahrheiten und Entstellungen so bereitwillig
übernommen?
Einige dieser immer wiederkehrenden, an der Oberfläche
bleibenden Interpretationsraster sollen hier erwähnt werden.
Die Berechtigung des Wiederstandes einer unterdrückten oder
verfolgten ethnischen Minderheit wird an denjenigen Kräften
gemessen, die sie militärisch oder politisch
unterstützen. Beispiel: das iranische Schahregime
unterstützte die kurdische Bewegung des Irak, also ist diese
"pro-imperialistisch". Hinterfragt wird nicht die kurdische
Situation im Irak, sondern vielmehr wird von den zufälligen
Allianzen, die im Falle der Kurden je nach den strategischen
Interesse der beteiligten Mächte ständig wechselten,
auf den Charakter der Befreiungsbewegung geschlossen.
Weiterhin wird Widerstands- oder Bürgerrechtsbewegungen ein
sozialistisches oder marxistisches Bekenntnis abverlangt und eine
Bewegung, die solches nicht erbringt, für reaktionär
befunden, Beispiel: die Befreiungsbewegung fast durchweg
analphabetischer südsudanesischer Bauern und Hirten wurde
zwei Jahrzehnte nicht zur Kenntnis. genommen, obwohl sie ohne
irgendwelche nennenswerte Hilfe von außen sich der
Unterstützung der südsudanesischen Bauernmassen
erfreute und militärisch wesentlich erfolgreicher war als
manche der von links favorisierten Befreiungsbewegungen.
Schließlich werden sezessionistische Bewegungen verdammt,
weil ihr "Separatismus" die "antiimperialistische Front" der
Länder der Dritten Welt schwächt, die jeweilige
Begründung des sezessionistischen Anspruchs aber wird
außer acht gelassen, obwohl der Ruf nach der Separation
gewöhnlich das totale Scheitern eines multinationalen
Staatskonzeptes offenbart.
Dieses Beharren auf einstmals von den Kolonialmächten
gezogenen Grenzen auch gegen den ausdrücklichen Willen
unterdrückter Völker der Dritten Welt, widersprach
selbst Lenin, der entschieden das Postulat Recht auf Sezession
befürwortete: "Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
bedeutet ausschließlich das Recht auf Unabhängigkeit
im politischen Sinne, auf die Freiheit der politischen Abtrennung
von der unterdrückenden Nation. Konkret bedeutet diese
Forderung der politischen Demokratie die volle Freiheit der
Agitation für die Abtrennung und die Lösung der Frage
über die Abtrennung durch das Referendum der betreffenden,
d.h. der unterdrückten Nation. Sie ist nur ein
folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche
nationale Unterdrückung", und fügte hinzu, es sei
selbst dann nicht auf die Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechtes der Nationen zu verzichten, wenn der
Kampf 'für die nationale Freiheit' unter bestimmten
Bedingungen von einer anderen Großmacht für ihre
ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenutzt werden kann."
Das Unvermögen der meisten orthodoxen linken Gruppierungen,
Solidarität gegenüber ethnischen Minoritäten zu
üben, denen Ethnozid oder Genozid oder auch nur nationale
Unterdrückung droht, offenbart ein gebrochenes
Verhältnis zur Humanität. Während sich etablierte
Parteien und Regierungen vor ihrer nationalen Öffentlichkeit
durch die Leistung humanitärer Hilfe von der Bürde der
Humanität freikaufen - statt für den Stopp britischer
Waffenlieferungen an Nigeria zu sorgen, erhielten deren
biafranische Opfer Milchpulver -, nehmen viele orthodoxe linke
Gruppen im Namen des Dogmas von der Humanität Abschied. Nur
so ist zu erklären, dass große TeiIe der Linken vor
vielen Gruppen- und Stammesmorden auf ethnischer Grundlage die
Augen verschließen.
Ein skurriles Beispiel: Als die britische Labourregierung die
Agonie Biafras inszenierte und der britische Premier seine
nigerianischen Vasallen im Hafen von Lagos auf einem Kriegsschiff
empfing, veranstaltete die britische Linke
Vietnam-Massendemonstrationen, von den leidenden biafranischen
Brüdern, den Opfern von Shell-BP, Unilever, von Labour und
Breschnew war nicht die Rede. Dieser verweigerten
Solidarität stehen zwei wegweisende Beispiele auch für
die Zukunft gegenüber. Chile und Prag, zwei durch den
lmperialismus zu Fall gebrachte Versuche, demokratischen
Sozialismus zu verwirklichen, bewältigten ihre
Minderheitenprobleme und nahmen politische Nachteile in Kauf, um
für die Interessen von Minderheiten in Übersee
einzutreten.
Die sozialistische Regierung Chiles gab den Mapuche ihre
Ländereien zurück - später nach dem faschistischen
Putsch wurden zweieinhalbtausend von ihnen ermordet - Allende
protestierte bei der sowjetischen Regierung gegen die
Diskriminierung der Juden. In Prag sorgte man für die
Gleichberechtigung der ungarischen, polnischen und deutschen
Minderheit - die Regierung Dubcek stoppte als erstes Land aus
humaner Motivation die Waffenlieferungen an Nigeria - nach der
sowjetischen Invasion wurden sie im Februar 1969 wieder
aufgenommen.