Am 23. März werden
die Tschetschenen über eine Verfassung abzustimmen haben,
die Tschetschenien theoretisch ein gewisses Maß an
Autonomie, einschließlich einem eigenen Präsidenten
und einem eigenen Parlament einräumt. Der Abstimmung
über das Referendum werden gegen Ende des Jahres Wahlen
folgen.
Inhalt der vorgeschlagenen Verfassung
Für viele, die sich eine politische Lösung für
Tschetschenien wünschen, mag es sich hoffnungsvoll
anhören, dass Russland bestrebt scheint, einen politischen
Prozess anzustossen. Der Verfassungstext wurde jedoch ohne die
Mitarbeit der gewählten Vertreter Tschetscheniens unter
ihrem Präsidenten Aslan Maschadow ausgearbeitet. Bis heute
fand keine- von russischer Seite zuvor angekündigte- Debatte
über den Text der Verfassung statt. Vertreter der Regierung
Maschadow machten darauf aufmerksam, dass Tschetschenien ja eine
Verfassung habe, die 1996 unter Vermittlung der baltischen
Staaten geschrieben und durch Wahlen anerkannt wurde. Das
Referendum, welches die russische Regierung nun initiiert,
entbehre jeglicher völkerrechtlichen Grundlage, so die
tschetschenische Seite.
Der tatsächliche Text der Verfassung löst in einigen
Punkten Kontroversen aus. So erlaubt der Artikel 72 dem
russischen Präsidenten den tschetschenischen
Präsidenten abzusetzen. Artikel 95 sieht vor, dass in der
Folge solch einer Entmachtung auch das gesamte Kabinett
aufgelöst werden soll. Artikel 91 bestimmt, dass das
tschetschenische vom russischen Parlament aufgelöst werden
kann. In Artikel 103 wird festgelegt, dass Tschetschenien der
russischen Staatsanwaltschaft untersteht. Auch nach Ansicht
russischer Politiker scheinen weitere Artikel des Referendums
geradezu illusorisch, so schreibt der Menschenrechtler und
Duma-Abgeordnete Sergej Kowaljow in der Novye Izvestia am 7.
Februar: "Sehen sie sich zum Beispiel den Artikel über die
freie politische Debatte, über Presse- und Medienfreiheit,
die Freiheit, Parteien zu gründen, an. Welche politischen
Parteien werden gemeint? In Tschetschenien ist ein Guerilla
Krieg, Parteien können nicht agieren." Ein weiteres Beispiel
ist der Artikel 22 über die Unverletzbarkeit des Eigentums,
des Hauses. Im Moment finden täglich so genannte
Säuberungen statt, während derer russische
Armeeangehörige in die Häuser und Wohnungen der
Zivilbevölkerung eindringen, plündern und
zerstören.
Motive Russlands für die Durchführung des
Referendums
Nach dem Geiseldrama in Moskau im Oktober 2002, wurde der
Weltöffentlichkeit deutlich, dass die russische Aussage, in
Tschetschenien sei kein Krieg mehr und der Zustand in der
Republik sei normal, nicht den Tatsachen entspricht. Mit der
Durchführung eines Referendums will Moskau mehrere Ziele
erreichen: Indem ein vordergründig demokratischer
Prozeß angestoßen wird, soll der eigenen
Bevölkerung aber besonders den ausländischen,
europäischen Regierungen signalisiert werden, dass in
Tschetschenien die Normalität einkehren wird und Russland
entgegen der Behauptung von Menschenrechtlern den politischen
Willen zu einer friedlichen politischen Lösung hat.
Ein weiteres Ziel ist es, für jeden offensichtliche Fakten
zu schaffen: Eine pro-russische Regierung wird Tschetschenien
verwalten, jegliche Vorstellungen der Selbstbestimmung
Tschetscheniens sind somit obsolet. Nachdem die Tschetschenen in
den beiden letzten Kriegen 160.000 Opfer zu beklagen haben,
nachdem gemordet, gefoltert und vergewaltigt wurde, wird das
Ergebnis des unfreiwilligen Referendums sein, dass die
Tschetschenen zustimmen, Teil der Russischen Föderation zu
bleiben. Von vornherein scheint klar, dass um dieses Ergebnis zu
erzielen, keine gleiche, geheime und freie Abstimmung
ermöglicht werden wird.
Jeder soll davon überzeugt werden, dass, nachdem
Tschetschenien dann eine neue Regierung hat, nicht mehr mit den
moderaten Kräften in Tschetschenien, mit Aslan Maschadow und
seinen Vertretern verhandelt werden muss.
In anderen Worten scheint Moskau besonders den
westeuropäischen Regierungen seine Tschetschenienpolitik
durch dieses Referendum schmackhaft machen zu wollen. Ein
weiterer Schachzug zur Gewinnung westlicher Sympathien war der
groß angekündigte Abzug von 1000 in Tschetschenien
stationierten Soldaten Anfang März 2003. In Anbetracht der
Gesamtzahl von 100.000 russischen Soldaten in der Republik
erscheint dieser Schritt als eine reine Propagandamaßnahme,
dessen erwartete Wirkung allerdings ausblieb.
Das Referendum erinnert an die Abstimmungen etwa in den
baltischen Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als
vordergründig die Zustimmung der Bevölkerung zum
Anschluß an die Sowjetunion eingeholt wurde.
Leider muß man diese Politik im Zusammenhang mit einer
zunehmenden, Besorgnis erregenden "Sowjetisierung" der russischen
Politik sehen: Die Pressefreiheit ist stark eingeschränkt,
das Parlament mehr oder weniger gleichgeschaltet, die Justiz
nicht mehr unabhängig und vermehrt übernehmen ehemalige
Geheimdienstmitarbeiter Aufgaben in der zivilen Verwaltung.
Eine typische Entscheidung Putins in diesem Zusammenhang ist die
Mitte März durchgeführte Strukturreform des
Inlandsgeheimdienstes FSB. Die Umstrukturierung macht die
Ausgliederungen bestimmter Dienste aus dem FSB
rückgängig, die Jelzin unternahm, um den Geheimdienst
in seiner Allmacht zu beschränken. Putin erweiterte dadurch
die Kompetenz des FSB, indem er die Grenztruppen dem FSB
zuordnete, inklusive ziviler Mitarbeiter und dem Budget, welches
fast doppelt so hoch ist wie das des FSB. Weiterhin unterstehen
nun wieder Teile der "Regierungsbehörde für
Regierungskommunikation" (FAPSI) dem Geheimdienst. Die
Auflösung der Steuerpolizei bewirkt einen zusätzlichen
Machtanstieg des FSB.
Für die Situation in Tschetschenien wirkt sich vor allem der
Kommandowechsel über die Grenztruppen aus, welche auch in
Tschetschenien operieren. Durch die Umstrukturierung hat der FSB
nun einen erheblich vergrößerten Einfluss auf das
Geschehen im Kaukasus.
Menschenrechtsorganisationen vor Ort zum Referendum
Die Organisation Memorial und die "Gesellschaft der Opfer des
Krieges" sammelt zur Zeit Unterschriften unter einen Brief an den
russischen Präsidenten Putin. Schon Tausende Unterschriften
konnten in Tschetschenien gesammelt werden. In dem Brief werden
vier Bedingungen genannt, ohne deren Realisierung das Referendum
nicht als freie Meinungs- und Willensäußerung des
tschetschenischen Volkes angesehen werden kann:
- Ab dem 1. März soll die russische Armee alle Operationen
in Tschetschenien einstellen.
- Die Sicherheit der Zivilisten muß garantiert
werden.
- Die Ausgangssperre muß aufgehoben werden.
- Informationen über willkürlich Festgenommene und dann
Verschwundene müssen öffentlich gemacht werden.
Auf diese Art und Weise bemühen sich die
Menschenrechtsorganisationen vor Ort, die Durchführung des
Referendums zu beeinflussen, bzw. zu verdeutlichen, dass dieses
Referendum als Farce bezeichnet werden muß, solange der
Alltag der Zivilbevölkerung von der vollkommenen
Willkür und Brutalität der russischen Soldaten
geprägt ist.
Bezeichnend ist auch das Ergebnis einer Konferenz in Nasran vom
2. März 2003. An der Konferenz nahmen 30
Nichtregierungsorganisationen (NRO), sowie Vertreter der pro-
russischen Verwaltung Tschetscheniens teil. Die Vertreter der
NROs äußerten die Meinung, das Referendum würde
von Russland durchgeführt, um eine tatsächliche
politische Lösung zu vermeiden. Die Schlussresolution der
Konferenz beinhaltete zwei Punkte: 1. Die NROs werden in keinster
Weise bei der Vorbereitung des Referendums helfen und auch nicht
die Wahlen beobachten. 2. Die NROs werden die Ergebnisse des
Referendums nicht anerkennen.
Etwa 80 bekannte russische Persönlichkeiten unter ihnen der
Duma-Abgeordnete und Menschenrechtler Sergej Kowaljow, die Witwe
von Andrej Sacharow, Jelena Bonner, Svetlana Gannushkina und
andere haben einen Appell an westliche Regierungschefs
unterzeichnet, in dem sie Russland vorwerfen, eine Parodie eines
Plebiszits durchzuführen. Die Unterzeichner fordern, dass es
den Tschetschenen ermöglicht werden soll, selbst zu
bestimmen, in welcher Staatsform sie leben wollen. Sie rufen die
westlichen Regierungschefs weiterhin dazu auf, sich für eine
tatsächliche politische Lösung einzusetzen und ihre
Aktivitäten zur Beendigung des Krieges nicht nach der
Durchführung des Referendums zu stoppen.
Sicherheitslage in Tschetschenien
Die Sicherheitslage ist das größte Hindernis für
die Durchführung eines tatsächlichen Referendums. Im
Gegensatz zu der von der russischen Seite erstrebten
"Normalisierung" berichtete die tschechische
Menschenrechtsorganisation "Prague Watchdog" von vermehrten
Kämpfen zwischen Tschetschenen und russischen Soldaten
Anfang März. Sichere Quellen hätten vorausgesagt, die
Angriffe der Tschetschenen würden tagtäglich zunehmen.
Ein weiteres Anzeichen für jegliches Fehlen von Sicherheit
und Frieden ist die Ermordung des zur russischen Seite
übergelaufenen tschetschenischen Kämpfers Dzhabrail
Yamadaev in der Nacht vom 5. auf den 6. März. Nach Meinung
der Zeitung "Isvestia" stellt sein Tod für die
tschetschenischen Kämpfer einen größeren Sieg
dar. Die Zeitung berichtet ferner von einem im März
abgeschossenen Militärhubschrauber und einer bewaffneten
Auseinandersetzung mit sechs Toten und zehn Verwundeten auf
russischer Seite.
Auch eine gemeinsame Mission vom Europarat und der OSZE, welche
Anfang März nach Tschetschenien reiste, um auf Einladung der
Wahlkommission und dem Verwaltungschef der tschetschenischen
Republik die Lage vor dem Referendum zu untersuchen, stellte
fest, dass Verschleppungen, Attentate und andere Arten von
Körperverletzungen weiter anhalten. Ferner heißt es in
dem Bericht der Mission, die Vorbereitung des Referendums liefe
unter "außergewöhnlichen Umständen" ab, dasselbe
werde auf die spätere Durchführung zutreffen.
Eine kurze Zusammenstellung der
Menschenrechtsverletzungen
Am 4. Januar wurden Salman Bantaev, 40 und Bakar Bantaev, 42 aus
ihrem Haus im Grosnyer Stadtteil Komsomolskoe verschleppt. Ihr
Aufenthaltsort ist bis dato unbekannt.
Im Rahmen einer so genannten Säuberung am 4. Januar wurde in
Raduschnoe der 28-jährige Zivilist Saidulli Arsanukaev
verschleppt.
Im tschetschenischen Flüchtlingslager Karabulak wurde am 4.
Januar Timur Muradalov ermordet. Seit zwei Jahren lebte dieser
Flüchtling aus dem Dorf Avtury in Tschetschenien.
Im Rahmen einer so genannten Säuberung in der
tschetschenischen Stadt Argun wurden am 4. Januar um 6 Uhr
früh folgende Personen festgenommen und verschleppt: Kaluga
Mollaev, Letschi Mollaev, Gajsum Mollaev. Sie wurden am selben
Tag wieder auf freien Fuß gesetzt.
4. Januar 2003 Folgende Personen wurden während einer
Säuberung in Grosny verschleppt und sind seither
verschwunden:
- Alik Denievich Maschiew, geb, 1948
- Hasan Maschiev, geb. 1974
- Husein Maschiev, geb. 1975
- Arbi Maschiev, geb. 1983
- Ajschat Maschieva, geb. 1948
- Angela Bagaeva, die Ehefrau von Hasan Maschiev
Am 5. Januar 2003 fuhren Militärfahrzeuge in den Hof der
Familie Dschantemirow. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich dort der
Vater Sulumbek, die Mutter Deschi und der Sohn Deni, geb. 1975
auf. Als Sulumbek die Soldaten hörte, ging er auf den Hof.
Die Soldaten befahlen ihm, sich auf den Boden zu legen, die
Hände über dem Kopf zu verschränken und sich ruhig
zu verhalten. Nach ihm kam der Sohn Deni aus dem Haus, auch er
wurde aufgefordert, sich auf den Boden zu legen. Soldaten drangen
dann in das Haus ein und durchsuchten es. Nach vierzig Minuten
kamen sie wieder auf den Hof, holten den Vater und befahlen ihm,
sich im Haus auf den Boden zu legen. Als die Soldaten wieder auf
den Hof gingen, folgte ihnen jedoch Sulumbek und sah, dass sein
Sohn nicht mehr da war. Die Soldaten erklärten, sie
würden ihn zur Wache mitnehmen. Seither fehlt jede Nachricht
von Deni Dschantemirow. Deni studierte und lebte in der
Türkei und war nur nach Grosny gefahren, um seien Pass
verlängern zu lassen;
Am 6. Januar um drei Uhr nachts verschleppten russische Soldaten
Abdul-Reschida Dschunidowitsch Saraliev, geb. 1941. Sie nahmen
auch den geistig behinderten Sohn, Ramzan, geb. 1968 mit und den
Neffen, Vacha Hasanovitsch Kuraschew, geb. 1954. Am 11. Januar
fanden Einwohner Grosnys einen Leichnam eines jungen Mannes im
Fluss Neftnaja. Diese Leiche konnte als Ramzan Saraliev
identifiziert werden. Der Leichnam wies deutliche Folterspuren
auf. Von den beiden anderen Verschleppten fehlt bislang jede
Spur.
Am 6. Januar fanden Bewohner eine männlichen Leichnam in
Grosny in der Nähe des Marktes. Experten gehen davon aus,
dass der Tod drei Monate zurück liegt.
Ab dem 8. Januar wurden im Laufe von drei Tagen 22 Person aus
Argun verhaftet und mehr als 50 Bewohner brutal
zusammengeschlagen. Nachts wurden die Menschen aus den Betten
geholt, als eine Mutter darum bat, dass ihr Sohn sich noch
anziehen dürfe, schütteten russische Soldaten einen
Eimer Wasser über ihr aus. Alle Festgenommenen wurden in
einen nahegelegenen Steinbruch gebracht und dort mehrere Stunden
festgehalten und gefoltert. Nachdem sich die Soldaten von dort
zurückgezogen hatten, fanden Frauen dort die Überreste
von zwei Leichen, die unkenntlich gemacht worden waren. Die
übrigen Festgenommenen hatte man in das Militärlager
Chankalla gebracht. Nur ein Leichnam konnte anhand der Kleidung
identifiziert werden: Almanzor Orzuchaev, 36 Jahre alt. Am Abend
des 8. Januar wurden acht der Festgenommenen freigelassen. Alle
von ihnen mussten medizinisch behandelt werden. Sie berichteten,
dass sie sich in dem Steinbruch auf den verschneiten Boden legen
mußten, über ihre Köpfe wurden Plastiktüten
gezogen, und auf sie wurde Wasser geschüttet, dadurch
schmolz der Schnee zuerst, dann fror das Wasser um die Menschen
herum zu Eis. Die Soldaten liefen auf diesem Eis und schlugen die
Liegenden mit Stöcken. Am 15. Januar wurden weitere
Personen, die am 8. Januar festgenommen worden waren,
freigelassen. Zwei Personen verschwanden.
Am 8. Januar fanden Zivilisten vier Kilometer vom Dorf
Kjurtschaloj entfernt die Überreste eines Leichnams der
offensichtlich durch den Einsatz von Handgranaten unkenntlich
gemacht worden war.
Gegen drei Uhr nachts am 8. Januar drangen russische Soldaten in
der Stadt Urus-Martan gewaltsam in ein Haus ein. Ein Teil der
Soldaten trug Masken. Sie verschleppten den Einwohner Lom-Ali
Achilgov, geb. 1986. Sein Aufenthaltsort ist bis dato
unbekannt.
Am 10. Januar wurde der Einwohner des Dorfes Belty, der
43-jährige Ibragim Matschuev vom russischen Geheimdienst FSB
verhaftet. Für seine Verhaftung wurden keinerlei Gründe
angegeben.
Am 11. Januar wurden zwei Brüder aus dem Dorf Batschi-Jurt,
Magomed Kasbekov, geb. 71 und Kantasch Kasbekov, geb. 1986
festgenommen. Noch am selben Tag wandte sich der Vater der
Verhafteten an den russischen Geheimdienst. Dort wurde ihm
gesagt, dass sie sich für seinen dritten Sohn interessieren
würden, mit dem aber die Familie keinen Kontakt mehr
hat.
Am 11. Januar wurden aus Grosny Arbi Karimov, geb, 1981 und
Schaarani Chuseinowitsch Isaev, geb. 1963 verschleppt. Isaev
wurde am 12. Januar im Staropromyslowski Rajon in Grosny wieder
auf freien Fuß gesetzt
Am 11. Januar wurde um sieben Uhr morgens in Grosny Arbi Aguev,
geb. 1960 verhaftet. Zu der Zeit befanden sich auch Arbis Frau
und die drei minderjährigen Kinder in der Wohnung. Die
Soldaten, die in Masken in die Wohnung eindrangen, schlugen den
11-jährigen Sohn. Die Familie war erst vor kurzen aus dem
russischen Rostov zurückgekehrt, wo sie als Flüchtlinge
gelebt hatten.
Am 13. Januar wurde in der Nähe der Stadt Grosny ein
Massengrab gefunden, welches 10 Leichen enthielt. Diese wurden
zur Identifikation in eine Moschee in Tolstoj Jurt gebracht. Am
17. Januar erklärte der tschetschenische Staatsanwalt,
Kravtschenko, diese Leichen seien Opfer von tschetschenischen
Kämpfern. Dies stimmte jedoch nicht, es konnten Leichen von
Personen identifiziert werden, die während einer so
genannten Säuberungsaktion Anfang Januar 2003 von russischen
Einheiten verschleppt worden waren. Erst nach und nach konnte die
Wahrheit herausgefunden werden: Zwei der Leichen waren Opfer
einer so genannten Säuberung im Dezember 2002. Es konnte
weiterhin die Leiche von Kagermanov identifiziert werden, dem
ehemaligen Direktor eines kollektivierten
Landwirtschaftsbetriebs, der auch von russischen Soldaten
verschleppt worden war. Ein weiterer Leichnam war der des
Einwohners von Grosny, Herrn Tepsuev, er war am 22.12. von
russischen Soldaten verschleppt worden. Die übrigen vier
Leichen waren mit Hilfe von Explosionen unkenntlich gemacht
worden und konnten nicht identifiziert werden.
Am 14. Januar wurden in Grosny folgende Personen verhaftet und
sind seither verschwunden:
- Hasan Usterchanov, geb. 1974
- Aslan Sultanowitsch Muzaev, geb. 1977
- Anschela Schachmurzaeva, geb. 1971
- Aslan Bajsultanov
Am 10. Februar wurde in den Außenbezirken des Dorfes
Belgatoi im Distrikt Schali der Leichnam einer jungen Frau
gefunden. Sie wurde in die Moschee gebracht und nach drei Tagen
beerdigt, ohne dass sie identifiziert werden konnte. Die
Nachricht von dem Leichenfund verbreitete sich schnell und die
Verwandten von Seda Khurikova, geb. 1977 aus Urus Martan, die im
Januar 2003 aus ihrer Wohnung verschleppt worden war, kamen nach
Schali und identifizierten Seda Khurikova anhand von
Überresten der Kleidung. Das Grab wurde geöffnet und
die Verwandten berichteten, dass Seda enthauptet worden sei.
Beide Hände waren abgehackt worden und der Leichnam war von
Wunden übersät. Seda war die Mutter eines kleinen
Kindes.
Am 17. Februar wurde ein Einwohner des Dorfes Wedeno beim
Beschuß seines Ortes schwer verletzt. Seit zwei Wochen
setzt die russische Armee Artillerie und Granaten beim
Beschuß des Dorfes ein. Die Bewohner haben in dieser Zeit
ihre Keller nicht verlassen. Als der eine Verletzte auf der
Straße lag und ihm Anwohner zur Hilfe eilen wollten,
eröffneten die russischen Soldaten auf die Hilfeleistenden
das Feuer. Nur unter Lebensgefahr gelang es, den
Schwerverletzten. Die Bewohner hatten den Eindruck, die Soldaten
seien betrunken
Außergewöhnlich sind auch die Berichte über
Schullehrer in Grozny, welchen angeordnet wurde, jeweils 50 Rubel
zur Finanzierung des Referendums zu zahlen. Seit zwei Monaten
erhalten diese Lehrer keine Gehälter von der pro-russischen
Verwaltung mehr.
Am 18. Februar wurde der Bauer Kharon Dzabrailov von einem
Artilleriegeschoss getötet, während er auf seinem Feld
in der Nähe des Dorfes Dzugurty arbeitete. Das erste
Geschoß traf seinen Traktor, er versuchte sich dann durch
einen Sprung aus dem Traktor zu retten, als das zweite
Geschoß neben ihm einschlug und ihn tötete. Kharon
Dzabrailov ist der Vater von vier Kindern.
Neben der fehlenden Sicherheit gibt es auch keine freie Presse,
keine Möglichkeit einer öffentlichen Debatte, so ist
klar, dass der Text der vorgeschlagenen Verfassung nicht verteilt
wurde. Nach einer Umfrage ist nur ein Drittel der
Wahlberechtigten mit den Grundzügen des Verfassungsentwurfes
vertraut.
Zugang zur Wahl
In Tschetschenien selbst existiert keine Transparenz in Bezug auf
die Wählerlisten, d.h. es ist nicht klar, nach welchen
Prinzipien die Wähler ausgesucht werden und wie viele
Personen an dem Referendum überhaupt teilnehmen werden
können. Nach Angaben der anerkannten russischen
Menschenrechtsorganisation Memorial führte eine fehlerhaft
durchgeführte Volkszählung zu 200.000
überzähligen Verzeichneten auf den
Wählerlisten.
Etwa 40.000 russische Soldaten, ein Teil der im Moment in
Tschetschenien stationierten Truppen, sollen an dem Referendum
teilnehmen dürfen. Im Gegensatz dazu dürfen
tschetschenische Flüchtlinge in der südrussischen
Provinz Stavropol Krai – wie die Nachrichtenagentur
"Novosti" berichtet - nicht abstimmen, weil ihr
Langzeitaufenthalt in Stavropol ihnen das Recht nehme, an einem
Referendum in Tschetschenien teilzunehmen.
In Inguschetien, so berichtet die russische
Menschenrechtsorganisation Memorial, sie die Aufstellung der
Wählerlisten transparent. Es seien jedoch zahlreiche
fälle bekannt geworden, in denen auf die Flüchtlinge
Druck ausgeübt wurde, sich für die Teilnahme am
Referendum registrieren zu lassen. So seien in der Woche vom
10.-16. März in den Flüchtlingslagern "Rassvet ",
"Mezrayonnoe ob ’edenenie ", "Conservny zavod ", "SMU-4 "
an den Ausgabestellen für Nahrungsmittel die
Flüchtlinge aus Tschetschenien aufgefordert worden, sich in
Wählerlisten einzutragen, sonst bekämen sie keine
Nahrungsmittel. Nach Protesten jedoch sei dieser Druck
eingestellt worden.
Parallel dazu versuchen die russischen Autoritäten und ihre
Verbündeten den Eindruck zu erwecken, das Referendum
würde auf Seiten der Bevölkerung auf große
Zustimmung stoßen. Die regierungstreue Webseite Strana.ru
zitierte den Chef der tschetschenischen Administration Kadyrov,
nach dessen Schätzungen 96 Prozent der tschetschenischen
Bürger bereit wären, an dem Referendum teilzunehmen.
Arsakhanov, Chef der Wahlkomission, berichtete von 10.000
Flüchtlingen, welche bereits den Wunsch geäußert
hätten, in dem Referendum zu wählen. Ob dies freiwillig
geschah, ist jedoch mehr als fraglich.
Position der OSZE, Parlamentarischen Versammlung des
Europarates, der Bundesregierung
Schon seit der Termin des Referendums feststeht, warnen
tschetschenische, russische und westeuropäische
Menschenrechtsorganisationen vor den möglichen negativen
Folgen des Referendums. Die GfbV appellierte im Februar an die
OSZE und den Europarat, die Abstimmung nicht durch
Wahlbeobachtung zu legitimieren. Es stehe zu befürchten,
dass sich durch das Referendum der Krieg in Tschetschenien
verlängere und die Radikalisierung der tschetschenischen
Kämpfer drohe zuzunehmen. In dieser Hinsicht bewertete es
unsere Menschenrechtsorganisation als großen Fehler, dass
der Menschenrechtsbeauftragte des Europarates, Alvaro Gil-Robles,
bei seinem letzten Tschetschenien-Besuch das Referendum lobte.
Die tschetschenischen Opfer des Krieges empfinden es als Schlag
ins Gesicht, wenn sich Europa auf diese Art und Weise nochmals
von ihnen abwendet, ja sie in solcher Manier verhöhnt.
Sowohl die OSZE als auch die Parlamentarische Versammlung des
Europarates haben sich zum Referendum geäußert und
waren auch in der Vorphase der Durchführung in
Tschetschenien.
Im Zusammenhang mit der Russlandpolitik der Bundesregierung ist
es alarmierend, wenn der deutsche Botschafter im Moskau auf einer
Pressekonferenz am 6. März angibt, die Auffassungen der
Bundesrepublik Deutschland und der Russischen F öderation
"decken sich komplett", was das Thema Referendum in
Tschetschenien angehe. Das Referendum schaffe nach dieser Ansicht
eine rechtliche Basis für ein friedliches Leben in
Tschetschenien.
Schließlich wird man doch anerkennen müssen, dass hier
ein zweiter Schritt vor dem ersten, nämlich vor der
Aushandlung eines Waffenstillstands und tats ächlichen
Friedensverhandlungen gegangen wird. Erst wenn sich die
relevanten Kr äfte Russlands und Tschetscheniens über
eine politische Lösung geeinigt haben, kann eine
Bevölkerung, die in Sicherheit lebt, über ihre eigene
Zukunft, über die Form des Staates, den Grad der Autonomie
und den Status Tschetscheniens entscheiden. Es ist die Aufgabe
der europäischen Regierungen und ihrer
Zusammenschlüsse, wie dem Europarat und der OSZE diesen
Verhandlungsprozeß anzustoßen und den
tatsächlichen Austausch mit der Russischen Regierung und dem
Parlament zu suchen, nicht den einfachen Weg der blinden
Akzeptanz eines Scheinreferendums zu gehen. Dies, so warnen
zahlreiche Tschetschenienexperten, wird die Gräuel in
Tschetschenien verlängern und die Suche nach einer
politischen Lösung noch schwieriger machen.