Von Irena Brezna
Januar 2001
Ach, der erste Krieg, da hat keiner Schuld
Ach, der zweite Krieg, da hat einer Schuld
Ach, der dritte Krieg, ist schon meine Schuld
ist ja meine Schuld, meine Mordsgeduld
Von Bulat Okudschawa, russischer Bard, stammt aus dem
Kaukasus
Das nordkaukasische Bergvolk der Tschetschenen hat sich seit
Jahrhunderten auf die Gewalt von Aussen eingestellt. Die
Häuser hatten typische kaukasische Wehrtürme, in denen
sich die Familien versteckten und die Angriffe aus Schiesscharten
abwehrten. Der russische General Jermolow, der vor
hundertfünfzig Jahren für die Zarin Katharina den
Kaukasus bezwang, steckte die Dörfer in Brand, mordete,
plünderte und vertrieb die Bergleute in die Ebene. Die
letzten zwei Kaukasusfeldzüge machten es ihm gleich, die
Flächenbombardierungen sollten nicht nur die Lebensgrundlage
sondern auch die Volkskultur zerstören. Schon die
Sowjetmacht brannte die Wehrtürme nieder, und Stalin lies
1944 das ganze Volk in Viehwaggons in die zentralasiatischen
Steppen deportierten. Diese "Feinde der Sowjetunion" mussten sich
dort Erdlöcher graben und hatten keine Bewegungsfreiheit.
Ein Drittel starb unmittelbar während oder nach der
Deportation.
Erst dreizehn Jahre später durften sie zurückkehren,
mit vielen Einschränkungen allerdings, so durften sie eine
bestimmte Höhe beim Hausbau nicht überschreiten. Ihr
Stolz sollte gebrochen werden. Aber den Wehrturm trägt jeder
Tschetschene, jede Tschetschenin in sich - als Bereitschaft,
für sich, den Clan und die Nation einzustehen. Der typische
tschetschenische Gang - ob Mann oder Frau - ist ein betont
aufrechter mit erhobenem Haupt. Daran werden sie in Russland
erkannt, verhaftet, getreten, ermordet. Das Geschichtsbewusstsein
der dauernden Verfolgung stärkt zwar, aber der Zwang zur
Selbstverteidigung wird zum Verhängnis, wenn dieser
über allem steht.
Eine tschetschenische Legende erzählt, dass sich am Anfang
der Schöpfung ein starker Wind erhob, der alle Tiere zu Tode
fegte, nur der Wolf, das Wappentier der Tschetschenen, trotzte
fest stehend der ungeheuren Gewalt. Als der Wolf, dem der Sturm
das Fell abgezogen hatte, begriff, dass er alleine
übriggeblieben war, fühlte er nicht sein
Zerschundensein, sondern seine Kraft. So deuten die Tschetschenen
ihr hartes Schicksal, trösten sich mit ihren
Überlebensgeschichten, beklagen aber bitter, dass die Welt
sie ein weiteres Mal einem zahlen- und materialmäßig
weit überlegenen und skrupellosen Besatzer alleine
überlässt.
Zerbombt, vertrieben, hungrig, physisch und psychisch
traumatisiert, in Ungewissheit vor dem nächsten Tag,
betrachten sie es als Glück, wenn der Sohn nicht von der
Folter verunstaltet in der Erde der Vorfahren bestattet wird. Die
eskalierende Gewalt in Tschetschenien kommt vom kolonial
handelnden und denkenden Russlands, das kein autonomes
Gegenüber erträgt. Die Tschetschenen reagieren auf die
Niederwerfungsversuche entsprechend ihrer Kultur, vom Standpunkt
der praktischen Vernunft, nicht immer besonnen.
Im Zuge des postkommunistischen Zerfalls der Sowjetunion hat auch
der erste tschetschenische Präsident Dschochar Dudajew 1991
die Unabhängigkeit der Tschetschenischen Republik Itschkeria
ausgerufen. Im Dezember 1994 marschierten russische Truppen ein,
um das Territorium zurückzugewinnen. Viele Dörfer waren
zunächst verhandlungsbereit, bezahlten der russischen Armee
hohe Summen, lieferten Waffen ab, um den Bombardierungen zu
entkommen, aber der Besatzer kassierte und griff ein.
Scharfschützen schossen auf Fliehende, Offiziere liessen
ihre Soldaten für sie plündern und in Südrussland
entstanden große Märkte mit dem Diebesgut. Die Russen
errichteten "Filtrationslager", und jeder tschetschenische Mann
zwischen 15 und 65 Jahren galt als "Terrorist", der in diesen
Folterstätten "herausgefiltert" wurde. Zur Unkenntlichkeit
verprügelt, mit herausgerissenen Nägeln, vergewaltigt,
galt er in seiner Kultur als gebrochen, als kein Mann mehr.
Lieber ging er vorher zu den Kämpfern, um ehrenvoll zu
sterben und seiner Familie Achtung zu verschaffen.
Je systematischer Moscheen als erstes Ziel der Luftwaffe zu Asche
gemacht wurden, umso stärker wuchs der Glaube. Der
Volkswille äußerte sich in der geballten Faust und dem
Ruf Allahu Akbar, Gott ist groß, eine Geste, die die Kinder
den Panzern zeigten. "Nochtschi", Menschen, wie sich die
Tschetschenen in ihrer kaukasischen Sprache, die mit dem
Russischen nichts Gemeinsames hat, selbst nennen, entdeckten in
den Trümmern ihre Religion neu und stärker. Angesichts
der Vernichtung fühlten sie nur den Beistand Gottes. Der
Sufismus, der sich bei ihnen seit dem 17 Jahrhundert verbreitet
hatte - eine milde und mystische Form des Islams - hatten sie gut
mit dem kaukasischen Verhaltenskodex "adat" vereinbaren
können. Die Tschetschenin ging nie verschleiert, und der
Stolz auf ihr Tschetschenentum, das Befolgen der uralten
kaukasischen und immer noch lebendigen Bräuche stand
über der Religion. Auch Frauen kämpften von 1994 bis
1996 mit der Waffe und genossen Hochachtung.
Der Widerstandskampf war im ersten Krieg getragen von der
Sehnsucht nach völkischer Selbstbestimmung, vom Glauben an
Gott und an sich selbst. Der Unterschied zwischen den hungrigen,
unmoralischen russischen Soldaten und den gelassenen
Kämpfern, die jede Kugel mit Allahu Akbar abfeuerten,
könnte nicht größer sein. Der erste Krieg dauerte
21 Monate und kostete über 100 000 Zivilisten das Leben,
Zehntausende blieben invalid. Tschetschenien hatte eine über
90% Arbeitslosigkeit und war das drittgrößte mit Minen
verseuchte Land der Welt. Die ganze Infrastruktur war
zerstört, die jungen Männer besaßen nebst ihrem
Triumph über den Sieg nur ihre Kalaschnikow, litten an
unbehandelten Unterkühlungen und trugen Gewaltbereitschaft
und Granatsplitter im ganzen Körper.
Obwohl sich Russland vertraglich zur Wiederaufbauhilfe und
Entminung verpflichtet hatte, hat es diese nicht geleistet,
sondern die Republik von der Welt abgeschottet und entlang der
Grenzen Truppen zusammengezogen, die die Versorgung blockierten.
Zur völligen Isolation des Landes trugen die zum
Geschäft gewordenen Geiselentführungen bei, vor allem
von Ausländern, für deren Freilassung hunderttausende
von Dollars verlangt wurden. Der russische Geheimdienst FSB ging
den tschetschenischen Kriminellen dabei zur Hand. Aus Angst vor
Entführungen verließen humanitäre Organisationen,
auch das IKRK, die leidende Zivilbevölkerung. Im Inneren
stritten die Feldkommandanten um die Macht und bereicherten sich.
1999 explodierten einige Hochhäuser in Russland, und dies
wurde, obwohl bis heute unbewiesen, den Tschetschenen
angelastet.
Inzwischen setzte eine religiöse Kolonisierung aus Saudi
Arabien und Pakistan ein. Grosse Summen flossen in die verarmten
Dörfer. Anhänger des sogenannten "Wahhabismus", einer
strengen Auslegung des Korans, wurden unter einigen jungen
Männern gekauft. Des undifferenzierten und
propagandistischen Begriffes "Wahhabismus" wird jedoch das ganze
tschetschenische Volk beschuldigt, obwohl der religiöse
Rigorismus der Volksseele fremd bleibt und bei guten
Lebensbedingungen keine Chancen bei den Tschetschenen
hätte.
Moskau braucht einen "islamistischen" Feind, um den Krieg als
heilige Pflicht des christlichen Russlands fortzusetzen. Der
russische Präsident Wladimir Putin verdankt ihm seinen
höchsten Posten, und die Brutalität ist eine
Machtdemonstration für andere Völker im Imperium, wie
auch für den Westen. Ferner lenkt der Krieg von der Misere
im Russland ab, und er nützt auch der Heerschar krimineller
Söldner, die sich in diesem gesetzlosen Raum auf eigene
Faust "verpflegen". Neue Waffen werden ausprobiert, denn die
freie Presse und internationale Beobachter haben hierher keinen
Zutritt. Der Kreml erzeugt selbst bewusst das, was er zu
bekämpfen vorgibt - Willkür, Radikalismus,
Terrorismus.
Der Feldkommandant Schamil Bassajew fing erst nach dem ersten
Krieg an, sich stark religiös zu gebärden und sein
Einfall nach Dagestan im Sommer 1999, um in Bergdörfern den
islamischen Staat auszurufen, verlief wie bestellt vom Kreml. Die
russische Regierung setzte sich über das 1997 abgeschlossene
Friedensabkommen zwischen Boris Jelzin und dem gewählten
tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow hinweg, in dem
sich beide Parteien zum Gewaltverzicht verpflichtetet hatten. Der
dritte, grausamste Genozid an den Tschetschenen innerhalb eines
halben Jahrhunderts fing an.
Das arme Nachbarsland Inguschetien beherbergt heute 180.000
Flüchtlinge aus Tschetschenien - Frauen, Kinder, alte
Menschen am Rande des Hungers. Der Flüchtlingsstatus wird
ihnen verweigert, wodurch sie kein Anrecht auf humanitäre
Hilfe haben. Ausgezehrt und krank fürchten sie sich
zurückzukehren, denn in jedem tschetschenischen Dorf gibt es
wieder "Filtrationslager" und es werden regelmäßig
"Säuberungen" durchgeführt - außergerichtliche
Hinrichtungen, Plünderungen. Noch kein Soldat wurde
dafür verurteilt. Die russische Armee hat aus der
tschetschenischen Totenverehrung ein lukratives Geschäft mit
Leichnamen aufgezogen, die sie an die Familien des Ermordeten
verkauft. Jede Verhaftung dient nicht nur einem Erfolgsrapport
von gefassten "Terroristen" nach Moskau, sondern vor allem dem
Geschäft.