GfbV Logo HOME | INFO | NEWS | DOSSIER | BACHECA / TERMINE | EDICOLA / KIOSK | LADIN

Tschetschenienkonferenz in Rom (Nov. 2000)

Lässt Presse und humanitäre Hilfe nach Tschetschenien durch!

Von Irena Brezna

Bozen, Rom, 9 Januar 2001

In Tschetschenien wütet straflos die russische Armee, verübt Morde an der Zivilbevölkerung, plündert, handelt mit Leichen und verhindert, dass dies an die Öffentlichkeit kommt. Eine Zerstörungsmaschinerie, die vor sechs Jahren begann. Die Radikale Partei Italiens, derer Mitarbeiter der Journalist und Tschetschenienspezialist Antonio Russo kürzlich bei Tiflis umgebracht worden war, veranstaltete in Rom eine internationale Konferenz über die Verbrechen in Tschetschenien, gewidmet Antonio Russo.

"Was gibt's Neues in Tschetschenien?", fragt der russische Radio-Journalist Andrei Babitzki an der November-Konferenz "Tschetschenien - ein versteckter Krieg" in Rom und antwortet sich selbst: " Nichts. Alles beim Alten wie schon im ersten Krieg." Im "Filtrationslager" Tschernokosowo, wohin der russische Geheimdienst FSB vor ein paar Monaten den beharrlichen Tschetschenienberichterstatter verschleppt und ihn erst auf Druck der Oeffentlichkeit freigelassen hat, foltert man willkürlich tschetschenische Zivilisten weiter. Aber dies ist nur eine Folterstätte unter vielen im Nordkaukasus, und die seit Ausbruch des zweiten Krieges wiedererrichteten Lager, wo "Terroristen herausgefiltert" werden, sind wiederum bloss ein Aspekt der ganzen Zerstörungsmaschinerie, die vor sechs Jahren begann.

Ende Dezember 1994 marschierten russische Truppen in Grosny ein, um der 1991 vom tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew erklärten Unabhängigkeit ein Ende zu setzen. Die Frauenkette, die sich ihnen auf den verschneiten Strassen in den Weg gestellt hatte, hat sie nicht aufhalten können. Der russische General Worobjow verweigerte damals als einziger beim Anblick der ihm vertrauten Bevölkerung den Okkupationsbefehl. Bei der erneuten seit September 1999 in Gang gesetzten "antiterroristischen Operation" weigert sich niemand mehr gegen ein Volk vorzugehen, das die russische Propaganda als Ganzes des "internationalen Terrorismus und des islamischen Fundamentalismus" beschuldigt.

Der russische Mitarbeiter der Moskauer Menschenrechtsorganisation "Memorial" Andrei Mironow schildert in Rom die Entwicklung von tschetschenischen Bergbauern zu "islamischen Rebellen". Erst durch die Gräuel der russischen Armee sei das Geschäft der Geiselnahme und der früher im Nordkaukasus unbekannte religiöse Rigorismus entstanden, allerdings nur bei einem kleinen Bevölkerungsteil. Der tschetschenische Feldkommandant Schamil Bassajew fing nach dem ersten Krieg an, sich stark religiös zu gebärden und sein Einfall nach Dagestan im letzten Sommer, um in Bergdörfern den islamischen Staat auszurufen verlief wie nach einem Geheimdienstdrehbuch. In Tschetschenien witzelt die ausgezehrte Bevölkerung, dass Wladimir Putin, der dem Krieg seinen höchsten Regierungsposten verdankt, Schamil Bassajew einen FSB-Orden verleihen sollte. Ein sich fanatisch gebährdender Feind ist der Fortsetzung des Krieges dienlich. Wladimir Putin schlägt immer wieder die Friedensvorschläge des legitimen tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadows aus, eines kompromissbereiten Gegners.

Die von der Radikalen Partei Italiens und den "Reporters sans frontières (Italien)" organisierte Konferenz macht deutlich, dass dieser Kolonialkrieg nur vordergründig eine Bekämpfung der Unabhängigkeitskämpfer im Sinne hat, vielmehr weitet er sich zu einem vielfältigen Beutezug mit politischem Kalkül aus, bei dem systhematisch die gesamte Zivilbevölkerung samt Fauna und Flora vernichtet werden. Die französische Journalistin Milène Sauloy, die aus Georgien mit Hilfe von Schmugglern nach Tschetschenien eingeschleust wurde, ist der Ansicht, dass es für den FSB ein leichtes Spiel wäre, die Widerstandskämpfer in ihren Verstecken aufzuspüren. Sie selbst hatte mehrmals die Gelegenheit dazu. Für die Generäle sind es nützliche "Banditen", denn solange es sie gibt, können weiterhin verbotene und neue Waffen an diesem verseuchten Stück Erde ausprobiert werden; ohne Kontrolle von internationalen Beobachtern und der freien Presse.

Die an der Konferenz aussagenden italienischen, russischen und französischen Journalisten beklagen, dass sie nur in Begleitung russischer Militärs nach Tschetschenien hereingelassen werden. Wer unverfälscht berichten will, muss den riskanten illegalen Weg über die georgische Berggrenze nehmen, d.h. sich straffällig machen. Im Winter macht der Schnee die Schleichwege unpassierbar. Was versteckt Russland vor der Welt? Einer, der es genau wissen wollte, der italienische Journalist vom Radio Radicale Antonio Russo, wurde im vergangenen Oktober in der Nähe der georgischen Hauptstadt Tiflis ermordet auf einem Feld gefunden, und sein Material über die Folgen des Einsatzes von unkonventionellen Waffen bei tschetschenischen Kindern, die schwere Verbrennungen aufwiesen, wurde entwendet. Marino Busdachini von der Radikalen Partei untersuchte am Ort den Fall und spricht von einem professionell ausgeführten Mord ohne äußere Spuren zu hinterlassen. Trauer und Wut herrscht an der Konferenz, die Russo gewidmet ist. Der Entlarvung dieses zynischen Krieges dient Russo auch mit seinem Tod. Die russische Botschaft in Rom schickt den Organisatoren nicht etwa ein Beileidstelegramm, sondern ein Protestschreiben gegen die Konferenz, da diese sich gegen das russische Volk richte und tschetschenische Banditen unterstütze.

Die Vorsitzende der italienischen Grünen, Grazia Francescato, zeigt sich empört über diesen Zensurversuch Russlands. Sie empfängt offiziell zusammen mit Vertretern der Sozialdemokraten die tschetschenischen Menschenrechtlerinnen Lipchan Basajewa und Sainap Gaschajewa, um von ihnen über die Lage im Nordkaukasus zu erfahren. Aufgewühlt von deren Zeugenaussagen betont Francescato, dass sich die Europäische Union Tschetscheniens annehmen müsse, da die Tschetschenen Europäer seien. Sie ist besorgt um das weitere Schicksal der zwei mutigen Tschetscheninnen im Nordkaukasus, wohin sie wieder zurückfahren, und sie teilt das der russischen Botschaft mit. Die Menschenrechtlerinnen präsentieren in Rom Foto- und Videomaterial; darunter ist auch ein männlicher Kopf zu sehen, der im einem Kübel gekocht wird. Dies sei kein Einzelfall, sondern ein unter den russischen Soldaten inzwischen verbreitetes Ritual. Die ausgetrockneten tschetschenischen Köpfe hängen sich die Soldaten dann als Trophäen an ihre Panzerwagen. Die Tschetscheninnen betonen den Unterschied, wenn einzelne tschetschenische Kriminellen verabscheuungswürdige Gräuel verüben und wenn dies eine reguläre Armee tut. Für die Kriegsverbrechen sowohl im letzten wie auch in diesem Krieg wurde noch kein Soldat verurteilt, es laufen bloß sieben Verfahren gegen russische Militärs, die noch nicht abgeschlossen sind. An den unzähligen Kontrollposten wird jeder nicht vor allem nach Waffen, sondern nach Fotos und Videokassetten abgesucht.

Auch Alfredo Biondi, Vizepräsident des italienischen Abgeordnetenkammer, hört sich bestürzt den Bericht von Basajewa und Gaschajewa an: wiederholte "Säuberungen" in den Dörfern, bei denen es massenhaft zu aussergerichtlichen Hinrichtungen und Plünderungen seitens der russischen Soldateska kommt, eine planmässige Vernichtung der tschetschenischen Jugend durch tägliche Verhaftungen, Folter, Morde und ein Geschäft mit ihren Leichnamen, da diese gegen hohe Summen an ihre Familien verkauft werden, ferner Genozid durch Hunger und Krankheiten an der alleine gelassenen Zivilbevölkerung. Auch der Umstand, dass Russland den 180 000 Flüchtlingen aus Tschetschenien, die in Zeltlagern in Inguschetien frieren und sich am Rande des Hungers befinden, keinen Flüchtlingsstatus zuerkennt, als handle es sich um Touristen, und die Vertriebenen dadurch kein Anrecht auf humanitäre Hilfe haben, scheint in Rom unbekannt zu sein. Alfredo Biondi gibt sich erstaunt über diese "Neuigkeiten", da ihm die russischen Politiker vom Frieden in den russisch "befriedeten" Gebieten und von guter Versorgung der Flüchtlinge erzählt hätten. Er verspricht, unverzüglich sein Außenministerium über das Gehörte zu informieren, dessen Vorsteher Lamberto Dini noch im Sommer dieses Jahres verkündete, im Nordkaukasus stehe alles zum Besten.

Emma Bonino, Vorsitzende der Radikalen Partei und frühere EU-Kommissarin für Menschenrechte, beendet die Konferenz mit dem Aufruf, der Presse und humanitären Hilfe freien Durchgang nach Tschetschenien zu gewähren. Sie erinnert daran, dass Tschetschenien ein Gradmesser für die Menschlichkeit unserer Zeit sei.

Unter dem Vorwand, die tschetschenischen Kämpfer bereiten einen Angriff auf Grosny, um an den sechsten Jahrestag des Einmarsches zu erinnern, hat die russische Kommandatur seit dem 22. Dezember Grosny hermetisch abgeschlossen und führt eine "Säuberung" durch. "Memorial" spricht von Morden an der Zivilbevölkerung und Plünderungen im großen Ausmaß.

Von Irena Brezna, erscheint noch in 1999 in der Neuen Zürcher.


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031117ade.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031022de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031002de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030930de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030918de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030708de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030703de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030630de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030619de.html | www.gfbv.it/3dossier/cecenia/indexcec-dt.html

* www: www.iccnow.org | www.unhcr.ch | www.unhchr.ch | www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/(Symbol)/CCPR.C.RUS.2002.5.En?OpenDocument | www.chechnya-mfa.info | www.memo.ru | http://www.gfbv.ch/pdf/02-03-043.pdf

Letzte Aktual.: 24.3.2004 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/3dossier/cecenia/cec-rom-dt.html | XHTML 1.0 / CSS | WEBdesign, Info: M. di Vieste
HOME | INDEX DOSSIER | DOSSIER TSCHETSCHENIEN | Versione italiana