In: Home > DOSSIER > Marokkos Juden: Eine 2600 Jahre alte Geschichte
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Von Berit Stehr
Bozen, Göttingen, Februar 2010
Das jüdische Viertel in Fes ist voller Juwelier-Geschäfte (Foto: "HisNoodlyAppendage" @ flickr.com)
Verschiedene Quellen datieren die jüdische Einwanderung
in Marokko auf das 6. Jahrhundert v. Chr., nachdem Nebukadnezar
den ersten Tempel in Jerusalem zerstören ließ und die
Judäer fliehen mussten. Als gesichert gilt jedenfalls, dass
sie sich in antiker Zeit noch vor Beginn der römischen
Herrschaft hier ansiedelten. Später konvertierten viele
Berberstämme zum Judentum. Den größten
jüdischen Bevölkerungszuwachs erhielt Marokko 1492, in
der letzten Phase der spanischen Reconquista. Nach der Verfolgung
und nach zahlreichen Pogromen wurden die überlebenden Juden
aus dem spanischen Hoheitsgebiet vertrieben. Während der
Inquisition im 16. Jahrhundert hielt die Auswanderungswelle,
nicht zuletzt von Juden, die das Christentum nur
oberflächlich angenommen hatten, an.
Insgesamt werden etwa 100.000 spanische Juden damals ihr
Heimatland verlassen haben. In Marokko siedelten sie an den
Küsten und in den wirtschaftlichen Zentren des
Landesinneren, wie in Casablanca und Fès (oder Fez).
Allerdings gliederten sich die Sepharden - so die Bezeichnung der
aus Spanien stammenden Juden - nicht in die bestehenden
jüdischen Gemeinden ein, sondern unterhielten eigene
Synagogen und pflegten althergebrachte Traditionen. Ihre
zahlenmäßige Überlegenheit und ihre
wirtschaftlichen Erfolge durch den Handel führten
allmählich zu einer kulturellen Assimilation der
ursprünglich ansässigen Juden an die Einwanderer.
Als Anhänger einer "Buchreligion" standen die marokkanischen
Juden unter dem Schutz der Dhimma. Zwar sicherte ihnen diese
Institution des islamischen Rechts auch in Marokko gegen die
Zahlung einer Kopfsteuer gewisse Rechte zu, dennoch waren sie
gegenüber den Muslimen Bürger zweiter Klasse. Dhimmis
durften anstatt auf Pferden allenfalls auf Maultieren und Eseln
reiten, und außerhalb des Judenviertels nur barfuß
gehen. Bei ihrer Berufswahl waren sie eingeschränkt, jedoch
nicht so drastisch wie die europäischen Juden, die durch die
Zunftregelung von den meisten Handwerksberufen ausgeschlossen
waren. Die Juden Marokkos waren vor allem durch ihr
Kunsthandwerk, die Schneiderei oder als Goldschmiede bekannt.
Viele von ihnen waren jedoch Händler und Geldverleiher. Seit
dem 19. Jahrhundert und dem zunehmenden Einfluss Frankreichs und
der französischen Kolonialzeit erhielten sie zudem die
Möglichkeit, als Übersetzer zu arbeiten.
Lange Zeit lebten die marokkanischen Juden in eigenen Vierteln,
den Mellahs, die ursprünglich errichtet worden waren, um
diese vor Gewaltakten durch Muslime zu schützen. Innerhalb
dieser engen, ummauerten Bereiche bildeten sich Mikrostädte
mit eigenen Schulen, Badehäusern und Märkten heraus.
Sie waren im Rahmen der Dhimma-Gesetzgebung autonom organisiert,
nahmen Steuern ein und erließen Gesetze, über deren
Einhaltung unabhängige jüdische Gerichte wachten.
Obwohl es Jahrhunderte lang immer wieder zu
Menschenrechtsverletzungen und Massakern an jüdischen
Marokkanern kam, erging es ihnen dort wesentlich besser als der
jüdischen Bevölkerung in vielen Teilen Europas. Vor
allem während des Zweiten Weltkriegs war Marokko einer der
Zufluchtsorte für das europäische Judentum. König
Mohammed V. verhinderte die Deportation marrokanischer Juden in
deutsche Konzentrationslager und stellte sich 1940 gegen einen
Erlass Vichy-Frankreichs, der das Tragen des Gelben Sterns
für jüdische Marokkaner vorsah. Trotzdem
verließen über 200.000 Juden in den folgenden Jahren
das Land. Viele emigirierten 1948 nach Israel, andere
verließen 1956 nach der Sueskrise und der
Unabhängigkeit Marokkos und schließlich 1967 nach dem
arabisch-israelischen Krieg ihre Heimat. Ein nicht unerheblicher
Teil emigrierte nach Frankreich.
Seit 1948 ist die Zahl der jüdischen Marokkaner von 265.000
auf 5.700 (2001) gesunken. Die Zurückgebliebenen beklagen
vor allem das Abwandern der Jugendlichen: Sie gehen vielfach zum
Studium nach Frankreich und bauen sich dort eine Zukunft auf. Die
marokkanische Regierung ist unterdessen bemüht, die im
Allgemeinen exzellent ausgebildeten und gesellschaftlich gut
gestellten Juden als Fachkräfte im Land zu halten und
fördert ihre Rückkehr. Einige folgen diesem Ruf, denn
trotz der Abwanderung sind viele Juden marokkanischer Herkunft
noch stark mit ihrem Heimatland verbunden.
Bezeichnend ist die Beschreibung des bekannten marokkanischen
Schriftstellers Said Ghallab über die Haltung vieler seiner
muslimischen Landsleute gegenüber ihren jüdischen
Nachbarn: Die schlimmste Beleidigung, die ein Marokkaner bieten
konnte, war, jemanden wie Juden zu behandeln… meine
Jugendfreunde sind antijüdisch geblieben. Sie verbergen
ihren virulenten Antisemitismus, indem sie argumentieren, dass
der Staat Israel ein Geschöpf des westlichen Imperialismus
wäre… Nichtsdestoweniger ist verbürgt, dass
Marokkos König Hassan II. bis zu seinem Tod 1999 versucht
hat, die Juden zu beschützen. Marokkanische Juden konnten
sich im Geschäftsleben weiter betätigen und erhielten
Posten in der Regierung. Die Flucht und Emigrationswelle der
marokkanischen Juden konnte der König nicht aufhalten.
Aus pogrom-bedrohte Völker 256-257 (5-6/2009)
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-saraj.html
| www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/gaza-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/dissens.html
| www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/stimme.html
| www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/frauer.html
| www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/watzal.html
| www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/avnery.html
| www.gfbv.it/3dossier/isr-pal/neudeck.html
in www: www.nahostfriede.at | www.ejjp.org | www.semit.net | www.yeshgvul.org | www.nahostfocus.de