Der Geiger David Kamhi im Gespräch mit Fadila Memisevic
Bozen, Sarajewo, 22. März 2004
bedrohte Völker: Herr Kamhi, Ihre Familie
gehört den Sephardjuden an. Wann kamen die Sepharden nach
Sarajewo?
David Kamhi: Die Sepharden sind Ende des 15. Jahrhunderts
aus Spanien vertrieben worden und fanden Zuflucht in Ländern
des Osmanischen Reiches. Nach Sarajewo kamen sie aus
verschiedenen Städten und Regionen des Osmanischen Reiches,
vorwiegend aus Konstantinopel, Solun, Skopje, wie auch aus
kleineren Städten in Mazedonien und Bulgarien. Meine Familie
kam über Albanien, vermutlich Valon, nach Sarajewo. Das Jahr
1565 wurde formal als Jahr der Anreise der Sepharden nach
Sarajewo angenommen, da in diesem Jahr die Jüdische Gemeinde
ihre Tätigkeit aufgenommen hat.
bedrohte Völker: Wie viele Juden haben damals in
Sarajewo gelebt?
David Kamhi: Es gibt verschiedene Meinungen und Theorien
über die Zahl der Juden in Sarajewo im 16. Jahrhundert.
Diese Zahl variiert von einigen Dutzend bis zu einigen Hunderten.
Angaben über Juden findet man vornehmlich in den
türkischen Archivschriften, in denen die Steuerpflichtigen,
also jene, die verpflichtet waren, Steuern ("harac") an den
türkischen Sultan zu zahlen, aufgelistet sind. Unter den
Juden gab es 68 Familienoberhäupter, welche diese Steuern
gezahlt haben. Wenn wir annehmen, dass die Familien jeweils
fünf oder sechs Mitglieder hatten, bekommen wir die Angabe
von 340 bis 380 jüdischen Einwohnern. Aber dies waren nicht
die einzigen Juden in Sarajewo, es gab sicherlich mehr von ihnen.
In der erwähnten Archivschrift wurden alle Steuerpflichtigen
detailliert beschrieben. Die Mehrheit von ihnen war blond und
großgewachsen, was der allgemeinen Vorstellung
widerspricht, dass die spanischen Sepharden dunkelhaarig und
kleinwüchsig gewesen seien. Die Zahl der Juden in Sarajewo
ist mit den Jahren gewachsen, so dass diese Zahl im Jahre
1690/1691 sogar 1.500 betrug.
bedrohte Völker: Womit haben die Juden ihren
Lebensunterhalt verdient?
David Kamhi: Die Juden waren überwiegend im Handel
und verschiedenen Handwerken - Herstellung von Gegenständen
aus Seide und Wolle, Goldschmiede, Uhrmacher und
Heilpflanzenkundler - beschäftigt. Unter Juden gab es viele
gebildete Menschen, so dass viele auch als Beamte gearbeitet
haben.
bedrohte Völker: Wie war die
gesellschaftlich-politische Stellung der Juden in Sarajewo
während der Herrschaft des Osmanischen Reiches?
David Kamhi: Die gesellschaftlich-politische Stellung der
Juden in Bosnien war beinahe gleich wie im gesamten Osmanischen
Reich. Die Hauptcharakteristik war, dass Juden eine
Bevölkerungsgruppe mit Sonderrechten und -pflichten waren.
Die Juden genossen eine Religionsautonomie, welche von Dekreten
(Berat) bestätigt wird, mit denen die Auswahl und Bestimmung
von Haham-basa (Hauptrabbine) festgestellt und bestätigt
wird. Im Berat steht, dass nur der Haham-basa die Befugnis hat,
mit Hilfe der niedrigeren Religionsbeamten die religiösen
Zeremonien (den Gottesdienst) im Rahmen seiner
Religionsgemeinschaft zu leiten, wie auch dass allein die
Haham-basa beauftragt sind, jüdische Glaubensschulen und
Synagogen zu leiten und über die Güter der
jüdischen Glaubensgemeinschaften zu bestimmen. Das Berat
sichert dem Haham-basa zu, eheliche und familiäre
Angelegenheiten der Juden in voller Eigenständigkeit zu
betreuen und verbietet den osmanischen Organen strikt, sich in
diese und andere Angelegenheiten - wie die Bestattungen von
Juden, das Zubereiten von Essen und Getränken nach
Vorschriften der jüdischen Religion (koscheres Essen) -
einzumischen.
Aus all dem geht hervor, dass Juden im Osmanischen Reich eine
Sicherheit der Person und des Eigentums genossen wie auch, dass
ihnen Schutz vor einem Missbrauch seitens der Organe der
Osmanischen Regierung, hätten diese sie berauben wollen,
geboten wurde. In solchen Situationen haben auch Nachbarn den
Juden geholfen. Juden waren im Unterschied zur anderen
nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen verpflichtet,
bestimmte Abgaben allein und direkt an den Osmanischen Staat zu
entrichten. Diese Abgaben nannten sich die Kopfsteuer
(Dzizija-harac).
Die Stellung der Juden blieb so bis zu der Einführung der
Reformen (Tensimat) von Gulhana seitens des Sultan Abdul
Medzid-Hatiserif im Jahre 1839, welche eigentlich eine
Deklaration über Reformen darstellte, die für alle
Bürger des Osmanischen Reiches galten. Sultan Hatiserif
hatte das alte Feudalsystem aufgehoben und alle Bürger des
Osmanischen Staates gleichgestellt, unabhängig von der
religiösen und nationalen Zugehörigkeit. Danach wurde
die Teilnahme von Juden am politischen Leben bedeutend
größer. Man trifft Juden nun auch in den
öffentlichen Ämtern, in den beratenden Organen an und
man wählt sie besonders gerne zu Finanzbeamten (sanduk
emine).
bedrohte Völker: Welche war die Sprache der
Sarajewo-Sepharden?
David Kamhi: Die Sprache der Sepharden war, wie auch im
übrigen auf dem Balkan, auf dem vorklassischen Spanisch des
15. und 16. Jahrhunderts begründet
(Español-anteclasico). Da die Sepharden aus verschiedenen
Teilen Spaniens vertrieben worden waren, sprachen sie
verschiedene Regionalsprachen und Dialekte. So bestand die
Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden, die es im
damaligen Spanien noch nicht gab. Deshalb besitzt das
Djudeo-español viele Merkmale verschiedener spanischer
Dialekte und Regionalsprachen. Das Djudeo-español war
eigentlich eine Mischung all dieser Sprachen. Zu dieser Mischung
kamen auch Wörter, welche von verschiedenen Völkern
dieses Teils der Balkanhalbinsel übernommen wurden,
Wörter türkischen, griechischen und slawischen
Ursprungs. Bedeutend war auch der Einfluss der italienischen
Sprache und einiger seiner Dialekte, vor allem des venezianischen
Dialekts.
bedrohte Völker: Hatten die Sepharden also eine
Koiné, eine "Hochsprache" ohne regionale Varianten?
David Kamhi: Nein, denn die Mischung dieser Sprachen wurde
wieder auf Subidiome auseinandergelegt. So können wir in
Sarajewo leicht drei Subidiome erkennen:
- Ladino - auf Ladino wurden Religionsbücher geschrieben
(Mahasori, Reponse usw. einzelner Rabbine),
- die Sprache der geschulten Menschen, sehr nah an der ersten
jedoch nicht identisch und
- die Sprache der armen Juden mit geringer Schulbildung. Diese
Sprache enthielt eine sehr hohe Zahl an Wörtern, welche aus
den Umgangssprachen übernommen wurden.
Für Sarajewo kann man die sprachlichen Varianten auch so
klassifizieren: das ersten und zweite Subidiom nutzte die
Sephardenbevölkerung, welche in der Stadtmitte neben den
Straßen und dem Fluss lebte, das dritte Idiom sprachen jene
Juden, welche in den Stadtrandgebieten, besonders in den
Bergsiedlungen Mejtas und Bjelave, wohnten. Die
Sarajewo-Sepharden nannten ihre Sprache "Djidjio", "Spanjol",
"Djudezmo" und auch "Ladino". Den Begriff "Djudeo-Español"
führten Studenten ein, welche Schulen in Wien, Berlin oder
Prag besucht hatten. Im Spanischen nannte man sie "Spanjol
mederna", "Spanjol mueva" oder auch "Spanjol di lus Spanjolis di
Spanja". Die Sarajewoer Haggada verdient als großer
Sprachwertschatz wie auch Volks- und Autorenliteratur eine
besondere Betrachtung und wissenschaftliche Untersuchung.
bedrohte Völker: Wie war das Verhältnis zwischen
Juden und anderen Völkern und Religionen in Sarajewo?
David Kamhi: Bosnien ist eine tausendjährige
multikulturelle und multireligiöse Gemeinschaft, auf deren
Gebiet sich verschiedene Religionen wie die islamische, die
katholische und die orthodoxe überkreuzt haben. Mit der
Ankunft der Juden in Bosnien wurde dieser multikulturelle und
multireligiöse Charakter weiter bereichert. Die Juden wurden
von den anderen Völkern akzeptiert und wurden somit zum
kohärenten Faktor des Zusammenlebens und der Toleranz. Die
Juden haben in Bosnien mit ihren Nachbarn in Respekt und
gegenseitiger Unterstützung zusammen gelebt. Während
des Zweiten Weltkrieges, als an den Juden Holocaust begangen
wurde, haben viele bosnische Muslime jüdische Familien
gerettet, indem sie sie vor den Nazis versteckten. In Sarajewo
gab es so die berühmte muslimische Familie Horo, welche
während des Zweiten Weltkrieges 15 Sarajewo-Juden in ihrem
Haus versteckt hielt.
bedrohte Völker: Und während der Aggression auf
Bosnien und Herzegowina 1992 - 1995?
David Kamhi: Während dieser Aggression befand ich
mich im belagerten Sarajewo. Als Mitglied der Jüdischen
Gemeinde stand ich - wie auch viele andere Juden - für die
Verteidigung des unabhängigen und international anerkannten
Staates Bosnien und Herzegowina ein, welches zum Opfer der
faschistischen Politik Milosevic's wurde sowie der Desinteresses
des Westens, Vertreibungen, Massenmorde und Genozid zu stoppen.
Ich konnte nicht glauben, dass sich 50 Jahre nach Dachau,
Treblinka, Auschwitz wieder Konzentrationslager, Deportationen,
Vergewaltigungen wiederholen würden. Ich war Mitglied des
Kriegsrates der Republik Bosnien und Herzegowina. Während
des Krieges verteilte die Jüdische Gemeinde über ihre
humanitäre Organisation "La Benevolencija" humanitäre
Hilfe. Wir ernährten alle Bürger von Sarajewo
unabhängig von der ethnischen und religiösen
Zugehörigkeit. Besondere Hilfe leisteten wir für die
verwundeten Zivilisten, da wir über Medikamente und
Sanitätsmaterial verfügten.
bedrohte Völker: Wie viele Mitglieder zählt
heute die Jüdische Gemeinde in Sarajewo?
David Kamhi: Heute zählt die Jüdische Gemeinde
Sarajewo 750 Mitglieder. Während der Belagerung wurden
einige unserer Mitglieder getötet, viele haben jedoch auch
wegen der schwierigen Lebensumsumstände die belagerte Stadt
verlassen. Viele von ihnen kehren nun nach und nach
zurück.
bedrohte Völker: Wie ist das heutige Verhältnis
der Juden und anderer Völker in Sarajewo?
David Kamhi: Der Geist der Toleranz, des gegenseitigen
Respektes, des Verständnisses ist auch heute unter Juden,
bosnischen Muslimen, Katholiken und Serbisch-Orthodoxen anwesend.
Ich wünsche mir, dass auch in anderen Teilen der Welt Juden
ein bedeutendes Element der Toleranz und des Zusammenlebens
darstellen.
Zur Person Prof. David KamhiDavid Kamhi, langjähriger Professor an der
Musikakademie in Sarajewo, stammt aus einer alten jüdischen
Familie und wurde 1936 in Sarajewo geboren. Dort schloss er das
Gymnasium und die Musikoberschule ab und machte 1962 sein Diplom
an der Musikakademie. Er setzte seine Ausbildung am
Konservatorium Petar Iljiã Chaikowski, Lehrstuhl von David
Ojstrah, in Moskau fort, gab Konzerte im In- und Ausland. 1962
wurde er in die Musikakademie gewählt. Dort hatte er schon
alle Ämter inne - vom Assistenten bis zum ordentlichen
Professor. Er unterrichtet die Fächer Violine (Geige), Viola
(Bratsche) und Methodik der Violine. |
Aus "pogrom / bedrohte Völker" (Nr. 223 - 1/2004).