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Antisemitismusstreit

Die Politik des Verdachts

Von John Bunzl

Bozen, 22. März 2004

Ein Gespenst geht um in Europa: nicht nur der Antisemitismus selbst, sondern auch die Beschuldigung, ihn zu verharmlosen oder gar zu leugnen. Ein Versuch, etwas Ordnung in ein hochemotionalisiertes Labyrinth zu bringen.

Antisemitismus in EuropaSeit etwa drei Jahren beobachten wir in Europa zwei relativ neue Phänomene: Erstens eine radikale Verschlechterung des Meinungsklimas gegenüber Israel und zweitens eine Zunahme von Angriffen gegen jüdische Einrichtungen und Personen, die meist von Jugendlichen muslimischer Herkunft verübt werden. Außerdem gibt es Erscheinungen eines traditionellen Antisemitismus, wie dies z.B. in den Äußerungen des CDU-Abgeordneten Hohmann ("jüdischer Bolschewismus") zum Ausdruck kommt. Letztere Form der Judenfeindschaft hat keine qualitative Zunahme erfahren. Was nun die ersten beiden Formen betrifft, die zwar zusammenhängen, jedoch keineswegs identisch sind, so kann ihre Intensivierung eindeutig mit dem Ausbruch der 2. Intifada (Oktober 2000) datiert werden. Die Interpretation, dass es sich dabei um eine antisemitische Welle handelt, ging hauptsächlich vom israelischen Establishment, offiziellen jüdischen Gemeinden und großen amerikanisch-jüdischen Organisationen aus. Diese Sichtweise ignoriert die Tatsache, dass sich am anerkannten und öffentlich-rechtlich abgesicherten Charakter der jüdischen Gemeinden in Europa wenig geändert hat und das Projekt EU sich nach wie vor auch als Antithese zum Nationalsozialismus und zum Holocaust versteht. Somit ist das zentrale Trauma der Juden zu einem Gründungsereignis kontinentaler Einigungsbestrebungen geworden.

Die genannte Interpretation banalisiert genuinen Antisemitismus, wenn sie ihn auch in der Kritik von Freunden wittert. Sie verzerrt die muslimische Dimension, wenn sie sie vom Palästinakonflikt isoliert und in den "klassischen" antisemitischen Topf wirft. So wie Israelis nach Anschlägen Gewaltfantasien (und -praktiken) entwickeln, welche sich gegen "die" Palästinenser, Araber und Muslime richten, so tun dies auch manche Muslime im Orient und in Europa, die über TV israelische Gewalt, die sie mit Juden assoziieren, ins Haus geliefert bekommen. Dies ist nicht primär einem "Antisemitismus" geschuldet, sondern eher dem kolonialen, tribalen, ethnischen und sakralisierten Charakter des Konflikts selbst.

Solche bedauerlichen und zutiefst beunruhigenden Erscheinungen sind zu unterscheiden von der israelkritischen Schreibweise westlicher Zeitungen, obwohl diese von Interessierten in einen kausalen Zusammenhang mit anti-jüdischen Ausschreitungen gebracht wird, was dann in Forderungen mündet, etwa die Zeitung "Le Monde" zu boykottieren.

Verschärfung
Verschärfend kommt hinzu, dass sich der Staat Israel nicht nur als Staat seiner Bewohner, sondern als Staat des "jüdischen Volkes" weltweit versteht und die jüdischen Gemeinden in der Regel diese Sichtweise teilen. Wenn sich Israel selbst als "kollektiver Jude" begreift, dann ergibt sich fast "logisch", dass gegen ihn gerichtete Äußerungen oder Handlungen als "antisemitisch" denunziert und ignoriert werden können.

So entsteht eine selbst-immunisierende Waffe, mit der auch vernünftige Kritik ent-legitimiert werden kann. Weiters ergibt sich analog dazu ein Bedürfnis, die Situation zu dramatisieren, weil daraus die Notwendigkeit eines jüdischen Exodus ("Aliah") abgeleitet und die zionistische Funktion des Staates Israel bekräftigt werden kann.

Auf der anderen Seite gibt die auf den 11. September folgende amerikanische Nahostpolitik Vermutungen Nahrung, wonach der Krieg gegen den Terror und gegen den Irak auch im Interesse Israels geführt wurde - und es ist nicht schwer, auf entsprechende Lobbies und Personen hinzuweisen. Anstatt auf den realen Stellenwert dieser (auch unter den amerikanischen Juden umstrittenen) Faktoren hinzuweisen, werden Äußerungen in diesem Sinn gern automatisch in die Schublade klassisch-antisemitischer Verschwörungstheorien (Protokolle der Weisen von Zion etc.) geschoben - obwohl die Verbreitung solcher Fantasien (bes. in der islamischen Welt) nicht geleugnet werden soll und kann.

Obwohl sie dort im Wesentlichen auf den Palästinakonflikt zurückgehen, haben sie inzwischen eine Eigendynamik entwickelt, die von vulgären Antisemitismen, welche selbst ihren europäischen Vorbetern als "primitiv" erscheinen würden, nur so strotzt. Nur: während im allgemeinen europäische Antisemiten Israel benützen, um "die" Juden zu treffen, benützen umgekehrt arabisch-islamische Antisemiten in der Regel Judenfeindlichkeit, um Israel zu delegitimieren. Daher besteht immerhin eine Chance, durch Überwindung des Konflikts ein Abflauen dieses traditionell nicht sehr verwurzelten Hasses (immerhin sind Muslime keine Christen) zu erreichen.

Gefahr
Es handelt sich hier tatsächlich um ein gefährliches Amalgam. Aber man spielt mit dem Feuer, wenn man alle Formen von Feindseligkeit in einen Topf wirft. Und gerade deshalb ist ein willkürlicher und inflationärer Gebrauch des Antisemitismusverdachts kontraproduktiv. Er führt letztlich unvermeidlich zu einer unerträglichen Banalisierung dieses schwerwiegenden Vorwurfs. Genuiner Antisemitismus ist von anderen Formen der Feindseligkeit zu unterscheiden: dieser richtet sich nämlich gegen Juden als solche, unabhängig von ihren Ansichten (einschließlich des Zionismus) oder Handlungen; er besteht in einem Pauschalurteil, das auf die Annahme einer Kollektivschuld (für alle Übel der Welt) hinausläuft. Wir müssen für die neueren Formen einen anderen, angemesseneren Begriff finden.

Motiv
Um festzustellen, woher Haltungen gegenüber Israel oder Juden kommen, ist eine Motivforschung notwendig. Natürlich können sie nach wie vor einem antisemitischen Wahn entspringen. Häufig begegnet man auch dem Wunsch, durch Beschuldigung von Juden zur Entlastung der eigenen Geschichte beizutragen. Erkennbar ist dies leicht am oft unbeugsamen Bedürfnis, israelisches Verhalten mit dem Verhalten von Nazis gleichzusetzen oder israelische Verbrechen gegen Naziverbrechen aufzurechnen. Solche Haltungen ignorieren den kolonialen und ethnischen Charakter des Konflikts Israel-Palästina. Sie laufen letztlich auf die Gleichsetzung eines spezifischen Gruppenkonflikts mit der mörderischen Umsetzung wahnhafter Projektionen hinaus. Solidarität mit den Palästinensern ist nicht Teil dieses Diskurses. Sie müssen letztlich die Rolle der "Juden" spielen, um ins Konzept zu passen.

Außerdem eignet sich der Konflikt aus einem anderen Grund nicht zur Entlastung der Nazivergangenheit; denn die in Europa herbeigeführte Tragödie der Juden hat sich in den Nahen Osten verlängert und in ihrem Gefolge auch die Palästinenser betroffen. Also keine Ent-, sondern eine zusätzliche Be-lastung des Nazi-Schuldkontos. Demgegenüber müsste eine akzeptable Haltung Verantwortung gegenüber Israelis und Palästinensern übernehmen.

Fazit
1) Die Unterscheidung zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus muss immer wieder angestrebt werden, um letzteren effektiv denunzieren und die jüdischen Bürger Europas mit der notwendigen Entschiedenheit gegen verbale und erst recht physische Attacken verteidigen zu können.
2) Als Richtlinie für legitime Israelkritik muss die Einhaltung bestimmter Prinzipien eingefordert und angestrebt werden: Respekt, Würde, Gleichheit, Fairness und Gerechtigkeit für beide Seiten.
3) Da marginalisierte Jugendliche islamischer Herkunft (hauptsächlich in Frankreich und Belgien, aber auch in Großbritannien und den Niederlanden) an anti-jüdischen Gewaltakten beteiligt sind, sollte die Kommunikation zwischen den Vertretern beider Gemeinschaften verstärkt werden, da beide ein Interesse an Multikulturalität und Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit (einschließlich der Islamophobie) haben müssten.

Dr. John Bunzl ist Nahostexperte des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP). Aus "pogrom / bedrohte Völker" (Nr. 223 - 1/2004).


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-oester.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-mayr.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-ant.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-st.html | www.gfbv.it/3dossier/pogrom-dt.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch1.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch2.html | www.gfbv.it/3dossier/war/gutman-rieff.html | www.gfbv.it/3dossier/rom-dt.html | www.gfbv.it/3dossier/linkgfbv.html#shoah

* www: www.crimesofwar.org | www.shoah.de/shoah/index1.html | www.hagalil.com

Letzte Aktual.: 26.3.2004 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-bunzl.html | XHTML 1.0 / CSS | WEBdesign, Info: M. di Vieste
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