Von Wolfgang Mayr
Bozen, 22. März 2004
Das Stephen Roth Institute
for the Study of Contemporary Anti-Semitism and Racism der
Universität von Tel Aviv legt jährlich seinen Bericht
zum weltweiten Antisemitismus vor. Die Berichte sind eine
Bestandsaufnahme des Antisemitismus. Das Ergebnis ist
erschreckend. Seit 2002 verzeichnet das Institut einen starken
Anstieg der antijüdischen Übergriffe - besonders in
Frankreich, Großbritannien und Russland. Laut der Leiterin
des Instituts, Dina Porat, verüben die meisten
antijüdischen Gewalttaten in Westeuropa Araber und Moslems.
Juden werden weltweit für den Nahostkonflikt verantwortlich
gemacht. Die Al-Aksa-Intifada vom Oktober 2000 löste eine
Welle antisemitischer Gewalt aus. Auf der UNO-Konferenz gegen den
Rassismus in Durban wehrten sich die europäischen Staaten
nicht dagegen, dass die Veranstaltung zu einem Tribunal gegen
Israel wurde. Breite Kreise zeigen Verständnis für den
islamischen Faschismus. Europa unterstützte lange, wie die
USA auch, die reaktionärsten Regimes im arabischen
Raum.
In Europa gebärdet sich auch der linke Antizionismus
ungezwungen antisemitisch und ausschließlich
pro-palästinensisch. Die Studien des israelischen
Roth-Institutes ergaben einen besonders virulenten Antisemitismus
in Ost-Europa. Hier sollen nur einige Beispiele dargelegt werden.
Weiterführende Informationen zum Antisemitismus, Analysen
und Kommentare sind im Internet-Forum "www.hagalil.com" zu
finden.
Ukraine
Antisemitische Pan-Slawisten
Von den 480.000 Angehörigen der jüdischen
Bevölkerungsgruppe hat ein Großteil die Ukraine nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlassen. Der rabiate
Antisemitismus der extrem nationalistischen UNSO (Ukrainische
Nationale Selbstverteidigung), aber auch der Ruch-Bewegung sowie
der ukrainischen Kirche des Metropoliten Filaret vertrieb die
Mehrheit der jüdischen Bevölkerung. Seit 1993
kooperieren ukrainische Nationalisten, Teile der Orthodoxen und
paramilitärische Freiwillige mit dem Ziel, die
Großukraine zu schaffen. Unter den Augen der Behörden
verteilen UNSO-Militante auf den Straßen und Plätzen
der Städte radikale nationalistische Propaganda, beteiligten
sich UNSO-Radikale unbehelligt 1992 im Bürgerkrieg in den
Dnjestr-Republik, konnten sie auf Truppenübungsplätzen
der Armee das Morden trainieren.
Die ukrainischen Nationalisten haben ihre Gegner ausgemacht:
Russland und die Amerikanisierung der Ukraine. Auch das
UNSO-Blatt "Holos Nacji" (Volks-Stimme) formuliert in
unmissverständlicher Weise, wer zu den "Volksfeinden"
zählt: "Alle Menschen sind Deine Brüder, aber die
Moskowiter, Polaken, Ungarn, Rumänen und Juden sind Feinde
Deines Volkes. Nimm Dir keine Ausländerin zur Frau, denn
Deine Kinder werden Deine Feinde sein." Die UNSO-Organisation ist
in 24 von 26 Regierungsbezirken aktiv und zählt 7.000
Mitglieder. Ihre "antirussische Haltung" hat die UNSO inzwischen
abgelegt und pflegt enge Kontakte zu panslawistischen
Bewegungen.
Konkurrenz erhält die UNSO inzwischen von der als Partei
zugelassenen rechtsextremistischen "Ukrainische Nationale
Versammlung" (UNA). Seit Mitte der 90er Jahre schüren die
Rechtsradikalen den Hass gegen Juden, Roma und andere
"Nicht-Ukrainer". Die jüdische Bevölkerung zählt
weniger als 1 Prozent der 52 Millionen Einwohner. Die
ukrainischen Antisemiten werden vom russischen Faschisten
Alexander Barkaschow offen unterstützt. Die "Barkaschovzi"
tragen schwarze Armbinden mit Hakenkreuz. Sie fordern eine
Süd-Ukraine ohne Juden und Zigeuner und die
Beschränkung des Wohnrechts auf "reine slawische
Bürger" (also Russen, Ukrainer und bestenfalls
Belorussen).
Die Kritik der jüdischen Gemeinde an der Untätigkeit
der Sicherheitsorgane wurde überhört. Auch deshalb
emigrierten die Juden zu Tausenden nach Westeuropa und in die
USA. "So hat nicht nur der Stalinismus und der Hitlerismus", so
Chaim Frank im jüdischen Internet-Portal Hagalil, "sondern
auch der Chauvinismus des 21. Jahrhunderts dazu beigetragen, dass
auf schmerzlichste Weise eine Jahrhunderte alte Symbiose von
Slawen und Nicht-Slawen zerstört werden konnte. Eine
entmutigende Erkenntnis - nach allen Kriegen und der
Shoah!"
Tschechien
Hass auf die Roma verdeckt den Antisemitismus
Auch in Tschechien gibt es einen offenen Antisemitismus. Zwar
fühlen sich die Shoah-Überlebenden (es gibt nur noch
neun jüdische Gemeinden) nicht direkt bedroht. Die liberale
Presse verurteilt antisemitische Äußerungen und
Handlungen. Trotzdem werden Politiker wie Miroslav Sladek ins
Parlament gewählt, weil er antisemitische Ressentiments
schürt. Unter Vaclav Havel, der gegen jede Form von
Antisemitismus auftrat, wurde in Tschechien ein Teil der
Shoah-Überlebenden entschädigt. Ein ganz anderes Bild
ergibt sich allerdings bei Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Die Roma werden von Mitbürgern und Behörden
diskriminiert, ihr Leben ist bedroht, weil Rechtsextreme und
Neonazi-Gruppen auf dem Vormarsch sind. Bei der Einweihung eines
Mahnmals für die Roma, die dem Holocaust zum Opfer fielen,
mahnte der ehemalige Staatspräsident Havel, die Schrecken
des NS-Regimes, das die Roma fast ausgerottet hatte, dürften
sich nicht noch einmal ereignen.
Russland
Rot-brauner Kitt - Der Antisemitismus der Kommunisten und der
russischen Rechten
Die hoffnungsvolle Periode der Perestroika und der Glasnost sowie
der demokratische Aufbruch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
vermittelte die Illusion eines neuen Russlands, in dem es auch
Rechte und Sicherheit für Minderheiten gibt. Der
demokratische Frühling erstarrte in der Restauration,
Antisemitismus und Rassismus sind die Grundlage des neuen
staatstragenden Nationalismus. Wladimir Putin, der sich bei
seinem Antritt zur russischen Präsidentschaft gegen
Blutvergießen und Pogrome aussprach, überzieht
Tschetschenien mit Terror und duldet den neuen
Chauvinismus.
Die "Russische Nationale Einheit" Alexander Barkaschows mit mehr
als 20.000 Mitgliedern wirbt ungehindert um
paramilitärischen Nachwuchs. Das Justizministerium ist
bisher nicht gegen faschistoide Bewegungen und Politiker
vorgegangen. Der neue alte Antisemitismus verbindet die
Überreste der KP mit den nationalistischen
großrussischen Bewegungen und Parteien.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben mehr als eine
Million russischer Juden das Land verlassen in Richtung Israel,
Amerika, Westeuropa und Deutschland.
Rumänien Die große Flucht nach Israel
Die einst große jüdische Gemeinde ist auf eine kleine
Gruppe zusammengeschrumpft. Elie Wiesel beschrieb den Leidensweg
der Juden Rumäniens, deren Mehrheit von deutschen und
rumänischen Faschisten ermordet wurde. Die Überlebenden
und deren Nachkommen drängten während der
Ceausescu-Ära nach Israel. Um das Land verlassen zu
können, mussten die Juden Kopfgeld bezahlen (wie die
Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben auch). Trotz der
Diskriminierung durch den kommunistischen Staat hielt sich die
jüdische Gemeinde mit Forderungen nach Entschädigung
zurück. 1995 aber legte die jüdische Gemeinde einen
Gesetzesentwurf zur Rückgabe ihres einst von den
rumänischen Faschisten und Kommunisten konfiszierten
Eigentums vor. Die Folge war eine Welle antisemitischer
Reaktionen. Die nationalistischen Parteien lehnten die
Rückgabe jüdischen Eigentums strikt ab; aber auch die
Demokratische Partei stellte sich nicht hinter die
Rückgabe-Forderungen. Ihr damaliger Vorsitzender und
Senatspräsident Petre Roman, selber jüdischer Herkunft,
nannte die Rückgabe jüdischen Eigentums eine "sensible
Angelegenheit": Wenn nicht auch andere religiöse
Gemeinschaften ihr Eigentum zurückbekommen, könne das
zu unerwünschten antisemitischen Reaktionen führen.
Diese unerwünschten Reaktionen wuchsen zu einer
antisemitische Flut heran. Rumänien, zu diesem Schluss
kommen die Beobachter des Roth-Institutes, ist wieder zu einer
Hochburg von Antisemiten geworden.
Polen
Judenhass ohne Juden
Die "industriellen" Vernichtungslager des Dritten Reiches
befanden sich auf dem ehemaligen und heutigen Staatsgebiet
Polens: Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Majdanek und Belyec. Dort
wurde die Hälfte der sechs Millionen Juden ermordet. 1939
lebten 3,35 Millionen, 1945 noch 50.000 Juden in Polen. Trotz des
Holocausts ist der katholisch geprägte polnische
Antisemitismus virulent geblieben. Das wurde deutlich, als
jüdische Polen, die das Land nach den Pogromen 1945-1947
verlassen hatten, ihre Entschädigungsforderungen
präsentierten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war durch die Rücksiedlung aus
der Sowjetunion (Juli 1946) die Zahl der Juden auf 137.000
angestiegen. Bis 1947 kamen 2.000 von ihnen meist bei
Überfällen und Anschlägen durch Polen ums Leben.
Mitte August 1945 kam es in Krakau zum ersten bekannt gewordenen
Pogrom nach der Shoah, es folgten Parczew und im Juli 1946
Kielce, wo 48 jüdische Einwohner ermordet wurden. 1967
initiierte Parteichef Wladyslav Gomulka die größte
staatliche antisemitische Kampagne der Nachkriegszeit; er
stilisierte die verschwindend kleine jüdische Minderheit zu
einer gefährlichen "Fünften Kolonne" hoch. Die
"Zionisten" seien Schuld an den studentischen Protesten, die
"Zionisten" wurden als die Drahtzieher hingestellt, als vom
Ausland finanzierte Konterrevolutionäre, die die polnische
Jugend den Imperialisten in die Arme treiben wollten. Die Agenten
des "Weltjudentums" arbeiteten angeblich mit den "Revisionisten"
in Deutschland zusammen und bildeten eine gegen Polen gerichtete
"Achse Bonn-Tel Aviv". Zehntausende verloren ihre Stellung, knapp
20.000 Juden verließen das Land. Mit der Ausreise verloren
die jüdischen Bürger die polnische
Staatsbürgerschaft und wurden staatenlos.
Für die angeblich "antizionistische", in Wirklichkeit
wüst antisemitische Kampagne gab es eine
außenpolitisch-ideologische "Erklärung". Israel hatte
im Sechs-Tage-Krieg die von der Sowjetunion unterstützten
arabischen Staaten geschlagen und war somit Kriegsgegner. So
wurde zum Dogma erhoben: Die Juden sind Feinde.
Mehr oder weniger alle politischen Lager hantieren mit dem
Antisemitismus. Jüdisch zu sein oder Kontakte mit Juden zu
haben klingt nach Vorwurf. Als "jüdisch" galt der
Kommunismus, Juden werden für das Scheitern des Kommunismus
verantwortlich gemacht, für die Krise von 1989, für den
"Ausverkauf des Landes" oder für das Ausbleiben
ausländischer Investitionen. Wo es es einen Schuldigen
braucht, wird auf den Juden gezeigt. Galt bis 1945 alles
Jüdische als "fremd", wurde später alles Fremde als
"jüdisch" denunziert.
Kroatien und Serbien
Antisemitismus als Instrument
Die nationalistisch geprägten
Unabhängigkeitsbestrebungen förderten besonders in
Kroatien einen neuen Antisemitismus. Staatsgründer Franjo
Tudjman, einer der jüngsten Partisanengeneräle Titos,
heizte den Antisemitismus mit primitiven Vorurteilen an: "Juden
rufen Neid und Hass hervor, sind stets das Opfer sowohl ihrer
eigenen als auch fremder Ansprüche." Oder aber: "Ich bin so
glücklich, nicht mit einer Serbin oder Jüdin
verheiratet zu sein". In seinem Buch "Irrwege - Abhandlung
über die Geschichte des Bösen" (1991) zweifelte Tudjman
die Opferzahlen der Shoah an; sechs Millionen ermordete Juden
erschienen ihm als "emotional übertrieben". Auch die Zahl
der jüdischen Opfer der kroatischen Ustascha-Faschisten
versuchte er herunterzurechnen.
Während des kroatisch-serbischen Krieges versuchte Belgrad,
die Regierung Tudjmans als "faschistisch", sich selbst aber als
Schutzmacht der Juden hinzustellen, um den Angriffskrieg gegen
Kroatien zu rechtfertigen. Die Sympathie der Juden lag jedoch
nicht stets auf der Seite der Serben. Ein Teil der jüdischen
Gemeinde Belgrads verließ das Land aus Angst vor den
serbischen Tschetniks. Der im US-amerikanischen Exil lebende
Tschetnik-Führer aus dem Zweiten Weltkrieg, Momcila Djuic,
ernannte 1991 den serbischen Faschisten und Freischärler
Vojislav Seselj zum neuen "Vojvod" (Feldherrn). Djuic empfahl
Seselj, alle "Kroaten, Albaner und andere Elemente aus dem
heiligen serbischen Land zu vertreiben", er solle "Serbien von
den letzten Juden, Albanern und Kroaten säubern und unser
heiliges Serbien zu einer neuen Blüte erwecken." Seselj war
in der Milosevic-Ära Bündnispartner der Sozialisten,
seine Partei zählt seit den Parlamentswahlen zu den
stärksten serbischen Parteien. Die Belgrader
Massenblätter "Duga" und "Intervju" bezeichneten das
Nachkriegsjugoslawien als das Produkt einer Verschwörung der
kommunistischen Kommintern und "jüdisch-freimaurerischen
Logen", die das serbische Volk schädigen wollten. Immer
wieder rufen Flugblätter mit Hakenkreuzen zum Krieg gegen
"Nicht-Serben" auf, besonders gegen Juden und Roma. Zwischen 1992
und 1995 zerschlugen Karadzic und Mladic die jüdische
Gemeinde in Sarajewo.
Ungarn
Die Judenfeindlichkeit der Rechten
Das israelische Stephen Roth Institute ermittelte in Ungarn eine
militante antisemitische Hetze. Hooligans beschimpfen gegnerische
Mannschaften als "dreckige Juden". Das Jugendministerium
finanziert antisemitische Literatur. In einem kirchlichen
Rundbrief vom Frühjahr 2002 heißt es: "Rette unsere
Nation vom egoistischen, nur auf sich selbst bauende
ultraliberale Denkweise und gib uns Dir ergebene und auf Deine
Hilfe bauende Führer".
Tatsächlich unterstützt ein Teil der Kirche die
rechtsradikale Partei für Ungarische Gerechtigkeit und
Leben, MIÈP. Der Antisemitismus wird in der Hauptstadt am
offensichtlichsten, weil in Budapest Ostmitteleuropas
größte - aber weitgehend assimilierte - jüdische
Bevölkerung lebt.
Die rechtskonservative Regierung und mit ihr die antisemitischen
Nationalisten wenden sich gegen das linksliberal regierte
Budapest. Auch die öffentlich-rechtlichen Medien betreiben
antisemitische Hetze. Die Linksliberalen sprechen von einem
"verbalen Kosovo". Regelmäßig besuchte der ehemalige
Ministerpräsident Viktor Orbán die Redaktion der
rechtsradikalen Hetzsendung Vasárnapi Újság
("Sonntagsmagazin") des öffentlich-rechtlichen Kossuth
Rádió Budapest.Trotz seiner gezielt antisemitischen
Agitation wurde Orbán im Westen gelobt und umworben, wie
beispielsweise vom bayerischen Ministerpräsidenten Edmund
Stoiber. Laut Stoiber ist Orbán ein mutiger,
herausragender Politiker und Repräsentant einer modernen
Volkspartei, ein aufrichtiger Freund Bayerns und ein
überzeugter Europäer.
Schweiz
Antisemitismus erhält neuen Auftrieb
Exponenten der jüdische Gemeinde und auch die
Eidgenössische Kommission gegen Rassismus kritisieren eine
starke Zunahme antisemitischer Vorfälle. Rolf Bloch,
Präsident des Israeelitischen Gemeindebundes, führt
diese Entwicklung auf die Klagen auf Rückerstattung
jüdischen Eigentums zurück. Ein Großteil der
Schweizer geht davon aus, dass die jüdische Gemeinde stark
ist, die Zahl wird aber regelmäßig
überschätzt. Die Schweiz untersagte in den vergangenen
Jahrhunderten nämlich die jüdische Zuwanderung. Laut
einer Umfrage schätzten fast 20 % der Befragten die Zahl der
jüdischen Bevölkerung auf 80.000 bis 200.000.
Tatsächlich leben in der Schweiz nur 17.000 Menschen
israelitischen Glaubens. Die jüdische
Bevölkerungsgruppe wird immer kleiner. 1990 betrug die Zahl
der muslimischen Bürger bereits mehr als 152.000.
Literatur: Joël et Dan Kotek: Au nom de
l'antisionisme. L'image des Juifs et d'Israël dans la
caricature depuis la seconde Intifada. Paris, Editions Complexe,
2003.
Aus "pogrom / bedrohte Völker" (Nr. 223 - 1/2004).