Von Thomas Benedikter
Bozen, 6. März 2006
Im Sommer 1997 war die
Atmosphäre in Prishtina zum Zerreißen gespannt. Die
Welt war noch damit beschäftigt, den Bosnienkrieg zu
verdauen, und anscheinend waren keine der größeren
Mächte gewillt, sich mit dem nächsten Akt des Dramas
"Der Zerfall Jugoslawiens" zu befassen, der Kosovo-Krise, die in
Dayton tunlichst ausgeblendet worden war. Doch hatte das ganze,
vom Milosevic-Regime in Gang gesetzte Unheil gerade hier, auf dem
geschichtsträchtigen Amselfeld seinen Auftakt genommen, als
dieser einst autonomen Provinz der Republik Serbien 1989 ihre
Autonomie genommen wurde. Die Frustration stand den Menschen in
Prishtina in jenem Sommer ins Gesicht geschrieben, die Gewalt war
fast mit Händen zu greifen. Es schien mir, als könnte
jederzeit irgendwo ein Funke alles in Brand setzen. Dabei hatte
diese Provinz schon eine Art embryonalen Parallelstaat
entwickelt. Die albanische Bevölkerung, über 90% der
Gesamtbevölkerung des Kosovo, hatten 1992 die "Republik
Kosova" ausgerufen und mit übergroßer Mehrheit in
einem Referendum bestätigt. Dann hatten sie in freier,
selbst organisierter Wahl einen bekannten Schriftsteller und
Literaturkritiker zu ihrem Präsidenten gewählt: Ibrahim
Rugova.
Der Präsidentensitz dieses albanischen Vaclav Havel war ein
heruntergekommener Bungalow zwischen Pfützen und staubigen
Straßen hinter dem Fußballstadion in Prishtina, das
kleine Vereinslokal des Schriftstellerverbandes des Kosovo. Kein
Land, mit Ausnahme Albaniens, erkannte diesen Präsidenten
und seine Republik an, obwohl er nahezu mit Stimmeneinhelligkeit
gewählt worden war. Er verkörperte den Wunsch der
Albaner des Kosovo, endlich frei und sicher leben zu können.
Fast täglich veröffentliche seine Pressestelle eine
Pressemitteilung, die immer mit dem litaneihaften Satz endeten:
"Im Übrigen sind wir der Auffassung, dass nur die
Unabhängigkeit eine umfassende Lösung der Kosovo-Frage
mit sich bringen kann." Die serbischen Behörden ließen
ihn gewähren, weil sie Rugova als Mann der Gewaltlosigkeit
kannten und sich einen mäßigenden Einfluss auf die
albanische Mehrheitsbevölkerung erwarteten.
Als Präsident ließ sich Ibrahim Rugova täglich in
einem schwarzen Audi von seiner Villa auf einem der Hügel
Prishtinas zum "Präsidentensitz" bringen. Einfache Menschen
machten ihm ihre Aufwartung, andere baten ihn um Rat und
Vermittlung, selten empfing er Besuch von Diplomaten oder
Journalisten. Dennoch musste ich in jenem August 1997 eine Woche
warten, bis er mich zum Interview empfing. Ein höflicher,
zierlicher Mensch mit einem sehr distinguierten Französisch.
Die fast obligatorische Frage durfte nicht ausbleiben: wäre
denn eine Autonomie wie jene Südtirols nicht ein
praktikabler Ausweg für den Kosovo? Nein, meinte Rugova
trocken, rückte sich den unverwechselbaren Seidenschal
zurecht und zog an seiner Zigarette, ich kenne Südtirol.
Eure Autonomie passt für euch. Für uns Albaner des
Kosovo kann nur die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit
einen Ausweg aus dieser Unterdrückung bieten. Wir haben
genug gelitten.
Die Polizei patrouillierte mit Panzerwagen durch Prishtinas
Straßen, während Rugova und seine Partei LDK
(Demokratische Liga des Kosovo) sich bemühten, ihre
Phantomrepublik in ein konkretes Staatswesen auszubauen. Man
organisierte ein paralleles Schulwesen, es entstand ein
selbstverwaltetes Gesundheitssystem in kleinen Vereinslokalen und
Privatwohnungen. Die albanische Sozialhilfe funktionierte dank
tausender Freiwilliger, viele aus dem öffentlichen Dienst
entlassen, weil sie den Treueschwur auf das Milosevic-Regime
nicht leisten wollten. Die Mitarbeiter der LDK mussten
erfindungsreich sein, um das ganze parallele Staatswesen zu
finanzieren, vor allem Dank der Spenden Hunderttausender von
Emigranten in Deutschland, der Schweiz und in anderen
EU-Ländern. Doch all dies erfuhr die Welt erst später,
als die Geduld der Albaner trotz aller Bemühungen der LDK
erschöpft war und die jüngeren Patrioten nicht mehr
warten wollten.
Der Patriotismus war auch Ibrahim Rugova, Jahrgang 1944,
buchstäblich in die Wiege gelegt worden. Er war eben 6
Monate alt, als 1945 sein Vater und sein Gr0ßvater von den
Tito-Kommunisten massakriert wurden, die den Kosovo wieder
besetzten, nachdem er bereits von albanischen Partisanen von der
faschistischen Besatzung befreit worden war. Rugova studierte
Sprachen und Philosophie und hielt sich 1976 ein Jahr bei Roland
Barthes in Paris auf. Dann kehrte er in den Kosovo zurück,
wo er einen Lehrstuhl für albanische Literatur an der
Universität Prishtina bekleidete. 1988 wurde Rugova zum
Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes des Kosovo gewählt,
ein Mann, der auch von den serbischen Schriftstellerkollegen
geschätzt war. Beinahe zufällig wurde er 1989 zum
Präsidenten der LDK gewählt. Er war beauftragt worden,
Rexhep Qosha, einen bekannten patriotisch orientierten
Schriftsteller, um seine Kandidatur zu bitten. Als dieser
ablehnte, übernahm Rugova selbst die Führung der LDK
und behielt sie bis zum vergangenen Januar 2006.
In den folgenden Jahren tat Rugova für die entrechtete
Mehrheitsbevölkerung des Kosovo was er konnte, blieb aber
immer der Gewaltfreiheit verpflichtet. Keine Kollaboration mit
dem Regime, ziviler Widerstand und Bemühung um
internationale Unterstützung waren die Leitmotive. Diese
konsequente Linie trug Rugova den Beinamen "Gandhi des Balkan"
ein. Es war eine nicht nur ethisch, sondern auch strategisch
begründete Haltung. Die Erfahrungen der von Milosevic gegen
Kroatien und Bosnien geführten Kriege hatten gezeigt, dass
dieses Regime zu allem fähig war, um die serbische Kontrolle
über die früheren Teilrepubliken Jugoslawiens
aufrechtzuerhalten. Ein bewaffneter Widerstand der Albaner im
Kosovo hätte Milosevic den willkommenen Vorwand geliefert,
eine weitere ethnische Säuberung im Süden Serbiens
durchzuziehen, die von den Ideologen Großserbiens schon
lange gefordert worden war. Als 1991 Kroatien Rugova aufforderte,
sich militärisch gegen Belgrad zu wenden, um eine zweite
Front gegen die serbische Armee im Süden zu errichten,
lehnte Rugova ab. Als 1998 die UCK der Albaner den bewaffneten
Widerstand begann, reagierte Milosevic, wie von Rugova erwartet,
mit blutiger Repression gegen die Zivilbevölkerung. Doch
nach einem Jahr Massakern und mehreren tausend Toten griff die
NATO diesmal schneller ein als in Bosnien.
Während des Kriegs war Rugova machtloser Zuschauer und wurde
zudem noch von Milosevic missbraucht: dieser verfrachtete ihn
nach Belgrad, wo er dem Diktator bei laufender Kamera die Hand
reichen musste als Politiker, der zu Verhandlungen mit dem Regime
bereit zu sein schien. Das Treffen löste unter den Albanern
enormen Unmut aus und mancher Beobachter mutmaßte, dass es
das Ende der politischen Rolle Rugovas bedeutet habe. Er wurde
von den serbischen Behörden unter Hausarrest gestellt und
begab sich dann ins Exil nach Italien. Später, im März
1999 saß Rugova am Verhandlungstisch im Schloss Rambouillet
in Paris, musste aber akzeptieren, gleichrangig mit dem jungen
UCK-Führer Hashim Thaci für den Kosovo zu
verhandeln.
Nach dem Krieg im Sommer 1999 war Rugova unschlüssig
über eine Rückkehr in sein Heimatland. Es schien, als
sei im politischen Kampf um die Loslösung von Serbien die
LDK desavouiert zu sein und als hätte die UCK nun das Ruder
übernommen. Doch bei den ersten offiziellen, von der
UN-Übergangsverwaltung ausgerichteten Wahlen siegte die LDK
und Rugova wurde als Präsident bestätigt, musste jedoch
dem zum Politiker mutierten Thaci als Ministerpräsidenten
akzeptieren. Die verschiedenen politischen Lager und Strategien
gaben in der Folge viel inneren Konfliktstoff für die
Albaner ab in einer immer pluralistischeren albanischen
Zivilgesellschaft. Doch im Grundanliegen blieben alle politischen
Kräfte der Albaner einig: die Unabhängigkeit.
Andererseits vermissten auswärtige Beobachter an Rugova,
neben seinen unbestrittenen Verdiensten um die Befreiung seines
Landes, die Rechte der ethnischen Minderheiten im Kosovo nicht
genügend beachtet zu haben: weder nach dem Krieg 1999, noch
im bei den Unruhen im März 2004 hatte Rugova sofort
eingegriffen, um die Übergriffe auf die Roma, die Serben und
die Ashkali im Kosovo zu stoppen.
Der letzte Anlass zum Streit zwischen Rugovas LDK und den
Politikern der ehemaligen UCK war die albanische Identität
des Kosovo. Rugova wollte dieses Land endgültig aus dem
geschichtlichen Vermächtnis der Serben lösen und den
auf die Niederlage gegen die Türken auf dem Amselfeld
(kosovo polje) bezogenen serbischen Namen durch "Dardania"
ersetzen, wie dieses Gebiet in der Römerzeit genannt wurde.
Zu diesem Anlass wurde auch eine neue Fahne erfunden und erstmals
am Nationalfeiertag, dem 28 November 2005 gehisst, ohne den
altgewohnten skipetarischen Adler auf rotem Grund, den alle
Albanien-orientierten UCK-Kämpfer hochgeschätzt hatten.
Rugova war es nicht gegönnt, seine Vision einer neuen
"dardanischen Identität" der Kosovo-Albaner auszubreiten und
auch nicht dem von ihm und seinen Landsleuten am meisten
ersehnten Augenblick zu erleben: die offizielle Ausrufung eines
unabhängigen Staates auf dem Gebiet des heutigen Kosovo.
Thomas Benedikter