Von Michael Pohly
Die jetzige afghanische
Übergangsregierung unter Präsident Karsai steht vor
großen Legitimitätsproblemen. Die Warlords sind
zurück gekehrt, die für die Machtergreifung der Taleban
verantwortlich waren. Ihre radikal-islamistische Gesinnung
unterscheidet sich nicht im Geringsten von denen der Taleban. Die
Gefahr einer Eskalation, die immer wieder zu
bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen kann
wie vor 1996, nimmt täglich dramatisch zu (z.B. in Paktia,
Ziriko, Gorean, Konar).
Damit verbunden steigen die sicherheitlichen Risiken für
die ISAF und darüber hinaus für die gesamte Region. Um
ein solches Szenario nachhaltig zu verhindern, ist der begonnene
Aufbau und die Stabilisierung einer Zivilgesellschaft, wie in den
Petersberger Beschlüssen festgelegt, kontinuierlich fort zu
setzen. Die folgenden Gedanken skizzieren einen Erfolg
versprechenden Weg:
1. Die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse muss
jetzt durch spürbare Verbesserungen der existentiellen
Lebensdingungen für alle Afghanen, egal welcher Ethnie bzw.
Bevölkerungsschicht zugehörig, greifbar werden. Eine
wesentliche Voraussetzung für die Implementierung von
Hilfszusagen der Geberländer für den Wiederaufbau
Afghanistans in konkretes wirtschaftliches Engagement ist die
Wiederherstellung von Stabilität, beginnend mit einer
befriedigenden Sicherheitslage.
Ohne eine Aussicht auf einen "return on investment" wird es auch
weiterhin lediglich bei Nothilfemaßnahmen bleiben. Ziel
aller Bemühungen sollte aber die "Hilfe zur Selbsthilfe
sein", um eine nachhaltige Entwicklung einzuleiten. Dieses
Arbeitspapier stellt einen "roten Faden" vor, an dem entlang ein
Implementierungsprozess in Gang gesetzt werden kann.
1.1. Begleitet von einer erweiterten Dislozierung der
ISAF über Kabul hinaus in den großen Städten
Kunduz, Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad ist als
Erstens der Versuch zu unternehmen, eine landesweite Entwaffnung
von Region zu Region durchzuführen. In den genannten
Städten sollten jeweils ca. 500 ISAF-Soldaten stationiert
werden, denen je nach Lage vor Ort bis zu 3.000 rekrutierte und
ausgebildete afghanische Soldaten unterstellt sein
könnten.
Von Mitgliederländern der ISAF trainierte afghanische
Militärausbilder, die sich z.B. aus und mit Hilfe der
"Islami Melli Qaumi Shura" rekrutieren ließen, sorgen
für diesen Aufbau von Militäreinheiten aus allen
Bevölkerungsschichten und Ethnien. Diese Soldaten
unterstützen die Absicherungsrolle der ISAF in den oben
genannten Städten und könnten das Rückgrat einer
zukünftigen afghanischen Armee bilden. Die Untergruppierung
der "Islami Melli Qaumi Shura", die sogenannte "Militär
Shura", in der ca. 12.000 ehemalige Offiziere der afghanischen
Armee und eine Vielzahl an Polizisten versammelt ist, bildet ein
gutes Reservoir für das o.g. Vorhaben. Diese Afghanen
stammen aus den verschiedenen Regionen/Stämmen/Ethnien des
Landes und haben immer loyal zum Zentralstaat gestanden, bis zur
sowjetischen Invasion. Der Aufbau solcher Militäreinheiten
hätte darüber hin aus noch den Effekt, dass
Milizionäre und Arbeitslose zu Brot und Arbeit
kämen.
1.2. Gleichzeitig ist ein
funktionierendes Staatswesen aufzubauen. Dazu gehört eine
von allen Bevölkerungsgruppen akzeptierte Verfassung (in
intellektuellen afghanischen Kreisen spricht man von einem
"demokratischen, pluralistischen, moslemischen Staat" mit
beispielsweise der türkischen Verfassung als Vorbild) und
eine funktionierende, schlanke Verwaltung, die ihre Mitarbeiter
auch ernährt (in Kabul benötigt eine
fünfköpfige Familie derzeit pro Monat ca. 180.-
US-Dollar für ihren Lebensunterhalt). An der Verfassung
ausgerichtet müssen dann Presse-, Parteien- und
Polizeigesetze entstehen.
1.3. Weitere Faktoren, die flankierend die
Voraussetzungen für den Aufbau von politischen,
landwirtschaftlichen und industriellen Strukturen positiv
beeinflussen können, sind u.a. - der Aufbau und die
Unterstützung unabhängiger, objektiv berichtender
Medien - die Förderung der vorhandenen demokratischen
Kräfte Afghanistans - die Einbindung u.a. des Irans,
Turkmenistans und Pakistans in den Entwicklungsprozess - Aufbau
und Förderung von Berufsschulen und Ausbildungszentren
für Facharbeiter.
2. Wenn diese Voraussetzungen für eine stabile
Entwicklung geschaffen sind, kann die Umsetzung folgender
konkreter Projekte begonnen werden. Das Projektvolumen muss zum
Ziel haben, ca. 12 Millionen arbeitsfähige Afghanen zu
beschäftigen.
2.1. Schaffen einer funktionierenden Infrastruktur,
z.B.:
Aufbau einer Trinkwasser-, Wasserversorgung, Elektrifizierung
und Kanalisation im ganzen Land.
- Beginn eines flächendeckenden Straßenbaus, der die
wichtigsten Städte mit Kabul verbindet. Öffentlicher
Nahverkehr in Kabul (mit Bussen). - Bau von Kraftwerken zur
Energiegewinnung (Wasser, Wind, ggf. Solartechnologie). -
Kooperationsvertrag zwischen Lufthansa und Ariana (Wartung,
Ausbildung, Subcharter). Unter geostrategischen und
arbeitspolitischen Aspekten wer der Bau einer Eisenbahnlinie Iran
- Afghanistan - Pakistan, beginnend z.B. mit einer Strecke von
Herat nach Mashad (damit Anbindung an die Transsibirische
Eisenbahn und Europa), zwar visionär aber
erstrebenswert.
2.2. Aufbau von Handwerks-, Klein- und
Mittelständischen Betrieben (z.B. Zement-, Tuchfabriken,
Schlachthöfe, Müllabfuhr und -verwertung).
2.3. Aufbau einer edelsteinverarbeitenden Industrie nach
Idar Obersteiner Muster.
2.4. Ca. 95% des in Europa umgeschlagenen Heroins stammt
aus Afghanistan. Zur Austrocknung dieser Opiumindustrie sind
alternative Einnahmequellen zu schaffen (Substitutionsprodukte
wären z.B. Obst, Gemüse und Getreide).
2.5. Revitalisierung der Landwirtschaft, beginnend mit
kleineren Staudammprojekten zur Feldbewässerung.
3. Die umfassende Einbindung der Afghanen in den
Wiederaufbau ist die alleinige Garantie sowohl für die
Geberländer als auch für die afghanische
Bevölkerung, mit der eine befriedigende Implementierung der
Hilfszusagen sichergestellt werden kann. Die herausragendste und
einflussreichste Persönlichkeit, derer man sich dabei
bedienen sollte, ist der derzeitige afghanische Finanzminister
Ashraf Ghani. Ashraf Ghani ist afghanischer Abstammung,
naturalisierter Amerikaner und Mitarbeiter der Weltbank. Er hat
sich dem Wiederaufbau Afghanistans voll und ganz
verpflichtet.
Stabilitätspakt für Afghanistan
Die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse wurde bereits im
Umfeld der Loya Jirga durch Präsident Karsai auf Druck von
Fahim, Qanuni und Abdallah aktiv unterlaufen. So wurde z.B. im
Vorfeld die Ermordung des ehemaligen Luft- und Verkehrsministers
bis heute nicht aufgeklärt. Drahtzieher des Attentats waren
Fahim, Qanuni. Die Ausführenden waren deren engste
Mitarbeiter (13 Generäle). Der Mörder, nach diversen
Augenzeugenberichten, ist Jurat, der jetzige oberste Polizeichef
von Kabul.
Die instabile Sicherheitslage wurde seitens der
Radikalislamisten ausgenutzt, um gezielt Personen in die Loya
Jirga zu lancieren (alle warlords, die Gouverneure und lokale
Kommandeure, selbst einen der Gründer der Taliban, Mullah
Rezhaq) oder zu verhindern, durch z.B. ca. 30 Morde. Auf der Loya
Jirga traten all diese Radikalislamisten unter Hintanstellen
aller persönlichen Querelen untereinander nahezu geschlossen
auf. Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine Annäherung bzw.
stellenweise Zusammenarbeit von Hezb-e-Islami (Hekmatyar),
Sayyaf, Rabbani, Taliban- (Mullah Barodar) und Al
Qaida-Kräften erkennbar.
Die Tendenz zur Verfestigung dieser Strömung setzt sich
seitdem ungehindert fort und spiegelt sich u.a. in der eklatanten
Verschlechterung der Sicherheitslage des Landes wider. Die
radikale Islamisierung lässt sich besonders deutlich an der
gezielten Besetzung und Handhabung der allen Ministerien
vorgeschalteten Kommissionen ablesen. In diesem Zusammenhang ist
sowohl die erneute Bestätigung des Obersten Richters als
auch die Wiedereinrichtung der Religionsbehörde, die
deutliche Indizien der Entwicklung zu einer Religionspolizei
aufweist, zu erwähnen.
1. Stufenplan zur Umsetzung der Petersberger Beschlüsse
zur Entwicklung einer pluralistischen Zivilgesellschaft
Einberufung einer Regionalkonferenz in Kabul unter Teilnahme von
Afghanistan, Arabische Liga, China, EU, Indien, Iran, Japan,
Pakistan, Russland und den USA. Bei dieser Konferenz finden sich
alle Kräfte wieder, die Einfluss auf die innerafghanische
Entwicklung über die verschiedenen afghanischen
Gruppierungen ausüben.
Ziele: Erarbeitung eines regionalen Sicherheitskonzeptes,
Kooperationsvereinbarung für einen "Stabilitätspakt
Afghanistan", Skizzierung eines "Marshallplanes" zur
wirtschaftlichen Entwicklung der Region Zentralasiens.
Herstellung der Inneren Sicherheit
und Stabilität im Lande.
Maßnahmen: Entwaffnung der "warlords"/Milizen,
Kappen ihrer externen Finanzquellen (siehe erste
Strichaufzählung). Aufbau von Polizei-, Zoll- und
Militärstrukturen unter UN-Mandat/ISAF (Balkanmodell).
Übernahme der "leadnation"-Funktion durch Euro-Korps ab
Januar 2003. Dislozierung von Kommandozentralen der ISAF in die
bereits im ersten Arbeitspapier benannten Städte (siehe
Anlage) und der darin beschriebenen Vorgehensweise.
Aufbau von Wirtschaftsstrukturen und eines Erziehungs- und
Bildungs- und Gesundheitssystems
Maßnahmen: Restrukturierung von Handwerks- und
Kleinbetrieben in allen Provinzen des Landes. Aufbau einer
Verkehrsinfrastruktur (Straße, Schiene, Flughäfen).
Aufbau eines Telekommunikationssystems (siehe Anlage, Punkt 2.).
Aufbau von berufsbildenden- , Grund- und weiterführenden
Schulen und Universitäten. Ausbildung der Lehrkräfte
(Lehrerpro-gramme, "E-Learning" etc.).
Entwicklung und Verstetigung einer pluralistischen
Zivilgesellschaft
Ziel: Herstellung von Rechtsstaatlichkeit
Maßnahmen: "Institutionbuilding" vor allem im
Rechts- und Finanzwesen. Aufbau und Unterstützung
demokratischer Parteien und Verbände, insbesondere auch
Frauenorgani-sationen und ggf. Gewerkschaften. Nachhaltige
Förderung der afghanischen Kultur durch Projekte in Kunst,
Musik und Literatur. Aufbau und Unterstützung
unabhängiger Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen). Aufbau
eines Internet- und Computersystems (Initiative: "UMTS goes
Afghanistan").
2. Resumee
Die im Arbeitspapier dargelegten Maßnahmen sollten so
schnell wie möglich umgesetzt werden, da die
radikal-islamistischen Kräfte wie eingangs beschrieben
bereits arbeiten und über umfangreiche Finanzquellen
verfügen. Darüber hinaus sollten sich die bestehenden
Rahmenbedingungen nicht entscheidend verschlechtern, d.h.:
- der Konfliktherd Nahmittelost darf nicht weiter eskalieren -
die Gefahr eines zusätzlichen Konfliktherdes im Irak muss
vermieden werden.
Dr.Dr. Michael Pohly, Dozent am Institut für
Iranistik an der FU Berlin. Im Auftrag der
Friedrich-Ebert-Stiftung öffnete Pohly in Kabul ein
Demokratie-Büro.
Siehe auch: "Stabilitätspakt Afghanistan statt Abenteuer Irak" (www.gfbv.it/2c-stampa/03-1/030131de.html)