GfbV Logo HOME | INFO | NEWS | DOSSIER | TERMINE / BACHECA | KIOSK / EDICOLA | LADIN

Demokratische Perspektiven nach den Taleban

Stand der Implementierung der internationalen Hilfszusagen für Afghanistan

Bozen, 31. Januar 2003

Von Michael Pohly

Strassenszene in Afghanistan. Foto: Michael Pohly.Die jetzige afghanische Übergangsregierung unter Präsident Karsai steht vor großen Legitimitätsproblemen. Die Warlords sind zurück gekehrt, die für die Machtergreifung der Taleban verantwortlich waren. Ihre radikal-islamistische Gesinnung unterscheidet sich nicht im Geringsten von denen der Taleban. Die Gefahr einer Eskalation, die immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen kann wie vor 1996, nimmt täglich dramatisch zu (z.B. in Paktia, Ziriko, Gorean, Konar).

Damit verbunden steigen die sicherheitlichen Risiken für die ISAF und darüber hinaus für die gesamte Region. Um ein solches Szenario nachhaltig zu verhindern, ist der begonnene Aufbau und die Stabilisierung einer Zivilgesellschaft, wie in den Petersberger Beschlüssen festgelegt, kontinuierlich fort zu setzen. Die folgenden Gedanken skizzieren einen Erfolg versprechenden Weg:

1. Die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse muss jetzt durch spürbare Verbesserungen der existentiellen Lebensdingungen für alle Afghanen, egal welcher Ethnie bzw. Bevölkerungsschicht zugehörig, greifbar werden. Eine wesentliche Voraussetzung für die Implementierung von Hilfszusagen der Geberländer für den Wiederaufbau Afghanistans in konkretes wirtschaftliches Engagement ist die Wiederherstellung von Stabilität, beginnend mit einer befriedigenden Sicherheitslage.
Ohne eine Aussicht auf einen "return on investment" wird es auch weiterhin lediglich bei Nothilfemaßnahmen bleiben. Ziel aller Bemühungen sollte aber die "Hilfe zur Selbsthilfe sein", um eine nachhaltige Entwicklung einzuleiten. Dieses Arbeitspapier stellt einen "roten Faden" vor, an dem entlang ein Implementierungsprozess in Gang gesetzt werden kann.
1.1. Begleitet von einer erweiterten Dislozierung der ISAF über Kabul hinaus in den großen Städten Kunduz, Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad ist als Erstens der Versuch zu unternehmen, eine landesweite Entwaffnung von Region zu Region durchzuführen. In den genannten Städten sollten jeweils ca. 500 ISAF-Soldaten stationiert werden, denen je nach Lage vor Ort bis zu 3.000 rekrutierte und ausgebildete afghanische Soldaten unterstellt sein könnten.
Von Mitgliederländern der ISAF trainierte afghanische Militärausbilder, die sich z.B. aus und mit Hilfe der "Islami Melli Qaumi Shura" rekrutieren ließen, sorgen für diesen Aufbau von Militäreinheiten aus allen Bevölkerungsschichten und Ethnien. Diese Soldaten unterstützen die Absicherungsrolle der ISAF in den oben genannten Städten und könnten das Rückgrat einer zukünftigen afghanischen Armee bilden. Die Untergruppierung der "Islami Melli Qaumi Shura", die sogenannte "Militär Shura", in der ca. 12.000 ehemalige Offiziere der afghanischen Armee und eine Vielzahl an Polizisten versammelt ist, bildet ein gutes Reservoir für das o.g. Vorhaben. Diese Afghanen stammen aus den verschiedenen Regionen/Stämmen/Ethnien des Landes und haben immer loyal zum Zentralstaat gestanden, bis zur sowjetischen Invasion. Der Aufbau solcher Militäreinheiten hätte darüber hin aus noch den Effekt, dass Milizionäre und Arbeitslose zu Brot und Arbeit kämen.
Schulen auch wieder für Mädchen in Afghanistan. Die Schultracht wurde von Sima Samar selbst eingeführt, um möglichen Restriktionen religiöser Fanatiker zuvorzukommen. Foto: Michael Pohly.1.2. Gleichzeitig ist ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen. Dazu gehört eine von allen Bevölkerungsgruppen akzeptierte Verfassung (in intellektuellen afghanischen Kreisen spricht man von einem "demokratischen, pluralistischen, moslemischen Staat" mit beispielsweise der türkischen Verfassung als Vorbild) und eine funktionierende, schlanke Verwaltung, die ihre Mitarbeiter auch ernährt (in Kabul benötigt eine fünfköpfige Familie derzeit pro Monat ca. 180.- US-Dollar für ihren Lebensunterhalt). An der Verfassung ausgerichtet müssen dann Presse-, Parteien- und Polizeigesetze entstehen.
1.3. Weitere Faktoren, die flankierend die Voraussetzungen für den Aufbau von politischen, landwirtschaftlichen und industriellen Strukturen positiv beeinflussen können, sind u.a. - der Aufbau und die Unterstützung unabhängiger, objektiv berichtender Medien - die Förderung der vorhandenen demokratischen Kräfte Afghanistans - die Einbindung u.a. des Irans, Turkmenistans und Pakistans in den Entwicklungsprozess - Aufbau und Förderung von Berufsschulen und Ausbildungszentren für Facharbeiter.

2. Wenn diese Voraussetzungen für eine stabile Entwicklung geschaffen sind, kann die Umsetzung folgender konkreter Projekte begonnen werden. Das Projektvolumen muss zum Ziel haben, ca. 12 Millionen arbeitsfähige Afghanen zu beschäftigen.
2.1. Schaffen einer funktionierenden Infrastruktur, z.B.:
Aufbau einer Trinkwasser-, Wasserversorgung, Elektrifizierung und Kanalisation im ganzen Land.
- Beginn eines flächendeckenden Straßenbaus, der die wichtigsten Städte mit Kabul verbindet. Öffentlicher Nahverkehr in Kabul (mit Bussen). - Bau von Kraftwerken zur Energiegewinnung (Wasser, Wind, ggf. Solartechnologie). - Kooperationsvertrag zwischen Lufthansa und Ariana (Wartung, Ausbildung, Subcharter). Unter geostrategischen und arbeitspolitischen Aspekten wer der Bau einer Eisenbahnlinie Iran - Afghanistan - Pakistan, beginnend z.B. mit einer Strecke von Herat nach Mashad (damit Anbindung an die Transsibirische Eisenbahn und Europa), zwar visionär aber erstrebenswert.
2.2. Aufbau von Handwerks-, Klein- und Mittelständischen Betrieben (z.B. Zement-, Tuchfabriken, Schlachthöfe, Müllabfuhr und -verwertung).
2.3. Aufbau einer edelsteinverarbeitenden Industrie nach Idar Obersteiner Muster.
2.4. Ca. 95% des in Europa umgeschlagenen Heroins stammt aus Afghanistan. Zur Austrocknung dieser Opiumindustrie sind alternative Einnahmequellen zu schaffen (Substitutionsprodukte wären z.B. Obst, Gemüse und Getreide).
2.5. Revitalisierung der Landwirtschaft, beginnend mit kleineren Staudammprojekten zur Feldbewässerung.

3. Die umfassende Einbindung der Afghanen in den Wiederaufbau ist die alleinige Garantie sowohl für die Geberländer als auch für die afghanische Bevölkerung, mit der eine befriedigende Implementierung der Hilfszusagen sichergestellt werden kann. Die herausragendste und einflussreichste Persönlichkeit, derer man sich dabei bedienen sollte, ist der derzeitige afghanische Finanzminister Ashraf Ghani. Ashraf Ghani ist afghanischer Abstammung, naturalisierter Amerikaner und Mitarbeiter der Weltbank. Er hat sich dem Wiederaufbau Afghanistans voll und ganz verpflichtet.

Stabilitätspakt für Afghanistan
Die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse wurde bereits im Umfeld der Loya Jirga durch Präsident Karsai auf Druck von Fahim, Qanuni und Abdallah aktiv unterlaufen. So wurde z.B. im Vorfeld die Ermordung des ehemaligen Luft- und Verkehrsministers bis heute nicht aufgeklärt. Drahtzieher des Attentats waren Fahim, Qanuni. Die Ausführenden waren deren engste Mitarbeiter (13 Generäle). Der Mörder, nach diversen Augenzeugenberichten, ist Jurat, der jetzige oberste Polizeichef von Kabul.

Die instabile Sicherheitslage wurde seitens der Radikalislamisten ausgenutzt, um gezielt Personen in die Loya Jirga zu lancieren (alle warlords, die Gouverneure und lokale Kommandeure, selbst einen der Gründer der Taliban, Mullah Rezhaq) oder zu verhindern, durch z.B. ca. 30 Morde. Auf der Loya Jirga traten all diese Radikalislamisten unter Hintanstellen aller persönlichen Querelen untereinander nahezu geschlossen auf. Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine Annäherung bzw. stellenweise Zusammenarbeit von Hezb-e-Islami (Hekmatyar), Sayyaf, Rabbani, Taliban- (Mullah Barodar) und Al Qaida-Kräften erkennbar.

Die Tendenz zur Verfestigung dieser Strömung setzt sich seitdem ungehindert fort und spiegelt sich u.a. in der eklatanten Verschlechterung der Sicherheitslage des Landes wider. Die radikale Islamisierung lässt sich besonders deutlich an der gezielten Besetzung und Handhabung der allen Ministerien vorgeschalteten Kommissionen ablesen. In diesem Zusammenhang ist sowohl die erneute Bestätigung des Obersten Richters als auch die Wiedereinrichtung der Religionsbehörde, die deutliche Indizien der Entwicklung zu einer Religionspolizei aufweist, zu erwähnen.

1. Stufenplan zur Umsetzung der Petersberger Beschlüsse zur Entwicklung einer pluralistischen Zivilgesellschaft
Einberufung einer Regionalkonferenz in Kabul unter Teilnahme von Afghanistan, Arabische Liga, China, EU, Indien, Iran, Japan, Pakistan, Russland und den USA. Bei dieser Konferenz finden sich alle Kräfte wieder, die Einfluss auf die innerafghanische Entwicklung über die verschiedenen afghanischen Gruppierungen ausüben.
Ziele: Erarbeitung eines regionalen Sicherheitskonzeptes, Kooperationsvereinbarung für einen "Stabilitätspakt Afghanistan", Skizzierung eines "Marshallplanes" zur wirtschaftlichen Entwicklung der Region Zentralasiens.

Schulen auch wieder für Mädchen in Afghanistan. Die Schultracht wurde von Sima Samar selbst eingeführt, um möglichen Restriktionen religiöser Fanatiker zuvorzukommen. Foto: Michael Pohly.Herstellung der Inneren Sicherheit und Stabilität im Lande.
Maßnahmen: Entwaffnung der "warlords"/Milizen, Kappen ihrer externen Finanzquellen (siehe erste Strichaufzählung). Aufbau von Polizei-, Zoll- und Militärstrukturen unter UN-Mandat/ISAF (Balkanmodell). Übernahme der "leadnation"-Funktion durch Euro-Korps ab Januar 2003. Dislozierung von Kommandozentralen der ISAF in die bereits im ersten Arbeitspapier benannten Städte (siehe Anlage) und der darin beschriebenen Vorgehensweise.

Aufbau von Wirtschaftsstrukturen und eines Erziehungs- und Bildungs- und Gesundheitssystems
Maßnahmen: Restrukturierung von Handwerks- und Kleinbetrieben in allen Provinzen des Landes. Aufbau einer Verkehrsinfrastruktur (Straße, Schiene, Flughäfen). Aufbau eines Telekommunikationssystems (siehe Anlage, Punkt 2.). Aufbau von berufsbildenden- , Grund- und weiterführenden Schulen und Universitäten. Ausbildung der Lehrkräfte (Lehrerpro-gramme, "E-Learning" etc.).

Entwicklung und Verstetigung einer pluralistischen Zivilgesellschaft
Ziel: Herstellung von Rechtsstaatlichkeit
Maßnahmen: "Institutionbuilding" vor allem im Rechts- und Finanzwesen. Aufbau und Unterstützung demokratischer Parteien und Verbände, insbesondere auch Frauenorgani-sationen und ggf. Gewerkschaften. Nachhaltige Förderung der afghanischen Kultur durch Projekte in Kunst, Musik und Literatur. Aufbau und Unterstützung unabhängiger Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen). Aufbau eines Internet- und Computersystems (Initiative: "UMTS goes Afghanistan").

2. Resumee
Die im Arbeitspapier dargelegten Maßnahmen sollten so schnell wie möglich umgesetzt werden, da die radikal-islamistischen Kräfte wie eingangs beschrieben bereits arbeiten und über umfangreiche Finanzquellen verfügen. Darüber hinaus sollten sich die bestehenden Rahmenbedingungen nicht entscheidend verschlechtern, d.h.:
- der Konfliktherd Nahmittelost darf nicht weiter eskalieren - die Gefahr eines zusätzlichen Konfliktherdes im Irak muss vermieden werden.

Dr.Dr. Michael Pohly, Dozent am Institut für Iranistik an der FU Berlin. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung öffnete Pohly in Kabul ein Demokratie-Büro.

Siehe auch: "Stabilitätspakt Afghanistan statt Abenteuer Irak" (www.gfbv.it/2c-stampa/03-1/030131de.html)


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/2c-stampa/03-1/030131de.html www.gfbv.it/2c-stampa/02-3/021202de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-3/021014de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-3/020909de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-1/020318de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/01-3/011130de.html.html | www.gfbv.it/3dossier/asia/afghan/afghan-pohly.html | www.gfbv.it/3dossier/asia/afghan/terror-de.html | www.gfbv.it/3dossier/asia/afghan/afghan-samar.html | www.gfbv.it/3dossier/asia/afghan/afghan-maed-de.html | www.gfbv.it/3dossier/asia/afghan/omid-de.html | www.gfbv.it/3dossier/asia/afghan/afghan-colavde.html
* www: www.shuhada.org | www.iccnow.org

Letzte Aktual.: 11.9.2003 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/2c-stampa/03-1/030131de-dok.html | XHTML 1.0 | WEBdesign, Info: M. di Vieste
HOME | NEWS | NEWS 2003 | NEWS ARCHIV