Nachdem am Donnerstag, 27.3.2003, die
offiziellen Schlussergebnisse des Verfassungsreferendums in
Tschetschenien bekannt gegeben worden waren, appellierte die
Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) an die
Außenministerien der OSZE - Staaten dieses Ergebnis nicht
anzuerkennen. "Die Anerkennung des durch massive Manipulation
entstandenen Ergebnisses wäre ein weiterer Schlag ins
Gesicht der Opfer," (96% Ja-Stimmen, 80% Wahlbeteiligung) warnt
die Menschenrechtsorganisation.
"Die Mitgliedsstaaten der OSZE müssen ihrer Verantwortung
gerecht werden, einen tatsächlichen Friedensprozess in
Tschetschenien zu initiieren. Nach einem Waffenstillstand muss
sich die verbrecherische russische Armee aus Tschetschenien
zurückziehen, die tschetschenischen Kämpfer müssen
entwaffnet werden und in Friedensverhandlungen mit den
rechtmäßig gewählten tschetschenischen
Führern muss eine friedliche Nachkriegsordnung diskutiert
werden" schreibt die GfbV an die OSZE.
Inhalt der vorgeschlagenen Verfassung
Für viele, die sich eine politische Lösung für
Tschetschenien wünschen, mag es sich hoffnungsvoll
anhören, dass Russland bestrebt scheint, einen politischen
Prozess anzustossen. Der Verfassungstext wurde jedoch ohne die
Mitarbeit der gewählten Vertreter Tschetscheniens unter
ihrem Präsidenten Aslan Maschadow ausgearbeitet. Bis heute
fand keine- von russischer Seite zuvor angekündigte- Debatte
über den Text der Verfassung statt. Vertreter der Regierung
Maschadow machten darauf aufmerksam, dass Tschetschenien ja eine
Verfassung habe, die 1996 unter Vermittlung der baltischen
Staaten geschrieben und durch Wahlen anerkannt wurde. Das
Referendum, welches die russische Regierung nun initiiert,
entbehre jeglicher völkerrechtlichen Grundlage, so die
tschetschenische Seite.
Der tatsächliche Text der Verfassung löst in einigen
Punkten Kontroversen aus. So erlaubt der Artikel 72 dem
russischen Präsidenten den tschetschenischen
Präsidenten abzusetzen. Artikel 95 sieht vor, dass in der
Folge solch einer Entmachtung auch das gesamte Kabinett
aufgelöst werden soll. Artikel 91 bestimmt, dass das
tschetschenische vom russischen Parlament aufgelöst werden
kann. In Artikel 103 wird festgelegt, dass Tschetschenien der
russischen Staatsanwaltschaft untersteht. Auch nach Ansicht
russischer Politiker scheinen weitere Artikel des Referendums
geradezu illusorisch, so schreibt der Menschenrechtler und
Duma-Abgeordnete Sergej Kowaljow in der Novye Izvestia am 7.
Februar: "Sehen sie sich zum Beispiel den Artikel über die
freie politische Debatte, über Presse- und Medienfreiheit,
die Freiheit, Parteien zu gründen, an. Welche politischen
Parteien werden gemeint? In Tschetschenien ist ein Guerilla
Krieg, Parteien können nicht agieren." Ein weiteres Beispiel
ist der Artikel 22 über die Unverletzbarkeit des Eigentums,
des Hauses. Im Moment finden täglich so genannte
Säuberungen statt, während derer russische
Armeeangehörige in die Häuser und Wohnungen der
Zivilbevölkerung eindringen, plündern und
zerstören.
Siehe auch Dokumentation: "Hintergrundpapier zum bevorstehenden Verfassungsreferendum in Tschetschenien am 23. März 2003"