Bozen, Göttingen, Hamburg, 20. Juli 2004
Offener Brief an den Präsidenten und die Professoren der Universität Hamburg
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Professorinnen
und Professoren,
die Verleihung der
Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg an den
russischen Präsidenten Wladimir Putin ist eine hohe
Auszeichnung durch eine traditionsreiche und weltbekannte
Hochschule, aber eigentlich auch eine Auszeichnung durch die
Hansestadt Hamburg. Viele Persönlichkeiten, die sich um die
Hamburger Universität, vielfach aber auch um Demokratie und
Humanität verdient gemacht haben, sind Hamburger
Ehrendoktoren geworden. Hat der russische Präsident diese
Auszeichnung verdient?
Völkermord ist das schlimmste Verbrechen, zu dem Menschen
fähig sind. Der heutige Präsident der Russischen
Föderation hat seinen Wahlkampf auf die Niederschlagung der
Unabhängigkeitsbewegung in Tschetschenien gegründet,
wurde Präsident und hat dann 1999 einen zweiten Krieg vom
Zaune gebrochen. Seither sind weitere 80.000 tschetschenische
Kinder, Frauen und Männer ums Leben gekommen, dazu
mindestens 13.000 russische Soldaten. Allein seit Beginn des
Jahres 2004 wurden nach Berichten der angesehenen russischen
Menschenrechtorganisation Memorial 141 Personen in Tschetschenien
getötet, darunter 67 Zivilisten, 32 Mitarbeiter der
pro-russischen Sicherheitsdienste, vier Repräsentanten der
tschetschenischen Verwaltung und 14 mutmaßliche
tschetschenische Kämpfer. Die Leichen der restlichen 24 sind
noch nicht identifiziert. 194 Personen wurden seit Januar in
Tschetschenien verschleppt. 15 von ihnen wurden tot gefunden, 97
kamen frei, der Aufenthaltsort der restlichen 82 ist unbekannt.
Die Täter bleiben so gut wie immer straffrei. Ein Ende des
Krieges und eine politische Lösung sind wegen des fehlenden
Willens Russlands nicht abzusehen.
In der Russischen Föderation werden Menschenrechtler wie die
mutige Vereinigung der Soldatenmütter, Journalisten,
Umweltschützer und politische Oppositionelle immer wieder
verfolgt. Auch vor politischen Morden schreckt der vom
Geheimdienst dominierte russische Staat nicht zurück.
Russland zählt zu den wenigen Ländern in Europa, in
denen kritische Journalisten um ihre Freiheit, ihre Gesundheit
und ihr Leben fürchten müssen. Die Organisation
"Reporter ohne Grenzen", zählt Putin zu den weltweit 37
"schärfsten Widersachern der Pressefreiheit". Allein 2003
wurden acht Journalisten in Russland ermordet. Heute gibt es dort
keine landesweit tätigen unabhängigen Fernsehanstalten
mehr. Die "gelenkte Demokratie" Putins sorgt dafür, dass
jegliche Opposition unterdrückt und die Bevölkerung
durch gezielte Fehlinformation auf Putin-Kurs gehalten
wird.
Die internationalen Beobachter der
OSZE und des Europarates haben auch die russischen
Parlamentswahlen vom Dezember 2003 als unfair bezeichnet. Die
Wahlwerbung der Opposition im Fernsehen wurde unterbunden. Das
russische Parlament ist heute zum größten Teil
gleichgeschaltet. Die Unabhängigkeit der Justiz existiert
weitgehend nur noch auf dem Papier. Die Gouverneure der sieben
von Putin eingerichteten Superprovinzen, die überwiegend aus
dem Geheimdienst stammen, nehmen Einfluss auf die Besetzung der
Richterstellen und die Entscheidungen der Gerichte. Russlands
Gefängnisse sind notorisch überbelegt. Ein extrem hoher
Prozentsatz der Gefangenen ist an Tuberkulose und Aids erkrankt.
Folter wird besonders in der Untersuchungshaft
routinemäßig angewandt um von den Verhafteten
Geständnisse zu erpressen. Von willkürlichen
Verhaftungen, Polizeikontrollen und Schikanen, wie
Hausdurchsuchungen, dem Vorladen auf die Polizeiwache und dem
Abpressen von Schmiergeldern sind besonders Angehörige von
ethnischen Minderheiten betroffen. Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit haben in Russland massiv zugenommen.
Es hat Zeiten der Diktatur gegeben, in denen auch die
Universität Hamburg für die Ziele eines
totalitären Staates missbraucht wurde und wo der eine oder
andere ihrer Professoren für diese Ziele eingetreten ist.
Wir erinnern daran, dass damals Völkermord begangen wurde,
dass ethnische und religiöse Minderheiten und andere
Menschengruppen vernichtet oder verfolgt wurden, unter ihnen die
Juden und Sinti, die Behinderten, die Zeugen Jehovas, konsequente
katholische und evangelische Christen und viele andere.
Wenn wir aus dieser jüngsten Geschichte wirklich lernen
wollen, sollen wir das nicht auf Sonntagsreden beschränken,
sondern durch unser Handeln demonstrieren. In diesem Sinne bitte
ich Sie für unsere Menschenrechtsorganisation, Widerstand zu
leisten gegen diese Ehrung eines Mannes, der für die
Zerstörung der russischen Demokratie und den Völkermord
an den Tschetschenen verantwortlich ist.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker setzt sich seit
Jahren für die Opfer des Genozids in Tschetschenien ein,
dokumentiert die Kriegs- und Völkermordverbrechen und
unterstützt die tschetschenische Menschenrechtsbewegung. Sie
können jederzeit Material über diese
Menschenrechtsverletzungen bei uns anfordern. Gern helfen wir
auch mit Adressen tschetschenischer Menschenrechtlerinnen, falls
Sie diese unterstützen möchten.
P.S.: Es wird wohl von niemandem bezweifelt, dass die Verleihung der Ehrendoktorwürde an den russischen Präsidenten Putin von Bundeskanzler Gerhard Schröder "angeregt" worden ist. Schröder selbst ist bekanntlich Ehrendoktor der Universität Petersburg. Die GfbV erinnert daran, dass die Bundesregierung die russische Tschetschenienpolitik durchaus unterstützt. Nach dem Bombardement von Grosny ähnelte diese tschetschenische Stadt der sächsischen Hauptstadt Dresden nach dem furchtbaren Bombardement 1945. Kaum war Grosny wieder in den Händen der russischen Armee, sandte die Bundesregierung eine Delegation des BND in die Trümmerwüste zu Absprachen mit dem russischen Geheimdienst. Obwohl noch Hunderte, vielleicht Tausende Leichen in Ruinen und Kellern lagen, sollte die BND-Delegation den Terror der "Tschetschenen", nicht den Völkermord der "Russen" recherchieren. Zur selben Zeit vereinbarte Verteidigungsminister Rudolf Scharping 34 Militärprojekte der Bundeswehr mit der russischen Armee. Bundeskanzler Schröder hat die russischen "Antiterror-Maßnahmen" in Tschetschenien wiederholt gutgeheißen und Russland seine Solidarität versichert.